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Friedrich Sieburg
Publizist, Kritiker, Nazi-Karrierist

Für Ernst Jünger war er ein "Weltjournalist", für Alfred Andersch "die größte, stinkende Kanalratte" des Literaturbetriebs: Friedrich Sieburg, der in der Weimarer Zeit das berühmte Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" beherrschte und der nach 1945 als Literaturchef der FAZ mächtig und gefürchtet war. Eine Biografie erinnert an den weitgehend vergessenen Journalisten.

Von Oliver Pfohlmann |
    Der deutsche Schriftsteller und Publizist Friedrich Sieburg im Jahr 1958.
    Der deutsche Schriftsteller und Publizist Friedrich Sieburg im Jahr 1958. (dpa / picture alliance / Duerkop)
    Über Literaturkritiker werden – sieht man einmal von Marcel Reich-Ranicki ab – eher selten Biografien geschrieben. Umso ungewöhnlicher daher der Fall Friedrich Sieburg: Über diesen Kritikerpapst der Adenauer-Ära ist innerhalb weniger Jahre nun schon die dritte Lebensbeschreibung erschienen. Und das, obwohl nur noch wenige Leser seinen Namen kennen dürften und gerade einmal ein Buchtitel von ihm lieferbar ist. Über den großen Alfred Kerr dagegen gibt es bis heute noch keine Biografie, trotz immer neuer Auswahlbände und faszinierender Vita. Warum also sollte man sich ausgerechnet mit dem 1964 verstorbenen Friedrich Sieburg beschäftigen? Für Harro Zimmermann, Verfasser der jüngsten Sieburg-Biografie, liegt die Antwort auf der Hand:
    "Wenn man sich einmal befassen will mit der Geschichte der Intellektuellen in Deutschland und gerade mit der Geschichte der Intellektuellen im Banne der Macht, dann ist Sieburg eine der interessantesten und schillerndsten Persönlichkeiten, die es im 20. Jahrhundert in Deutschland überhaupt gegeben hat."
    Siegburg entdeckte sein "Deutschtum"
    Zimmermanns kenntnisreiche Lebensbeschreibung zeigt: Im "Banne der Macht" stand der aufstiegshungrige Sieburg sein ganzes Leben. Schon früh fühlte sich der 1893 geborene Sohn eines Eisenbahnbeamten, aber eben auch einer adligen Mutter, zu Höherem berufen:
    Als Student buhlte er mit symbolistischen Gedichten um die Gunst Stefan Georges, seines "Meisters und Herrschers", und durfte im elitären George-Kreis verkehren. Weil sich der junge Sieburg aber als "Unwürdiger" entpuppte, wurde er bald schon mit Schimpf und Schande davongejagt.
    Nach 1918 verwandelte sich der Kriegsheimkehrer vom Lyriker zum Journalisten und Publizisten: Sieburg schrieb in den Weimarer Jahren für das berühmte Feuilleton der "Frankfurter Zeitung", neben klangvollen Namen wie Siegfried Kracauer, Walter Benjamin oder Joseph Roth. 1926 ging Sieburg als Korrespondent nach Paris – und entdeckte vom Ausland aus, sozusagen parallel zum Aufstieg der Nazis, sein Deutschtum in sich:
    "Das deutsche und das französische Wesen verkörpern zwei verschiedene Arten des Menschseins – nicht die einzigen Arten, aber die beiden Pole." (S. 143)
    Feuchtwanger: Agent des Propagandaministeriums
    So heißt es schon 1929 in "Gott in Frankreich?", dem Buch, das Sieburg berühmt machte; pünktlich zur Machtübernahme Hitlers träumte der Publizist dann unter dem Titel "Es werde Deutschland" von der konservativen Revolution. Als Kollegen wie der Theaterkritiker Alfred Kerr nach 1933 fliehen mussten, setzte Sieburg seine Karriere nahtlos fort, und zwar ausgerechnet in der Emigrantenstadt Paris. Von seiner Luxuswohnung am Place du Panthéon aus brauste er mit seinem weißen Sportwagen von Salon zu Salon und lobte Hitler als Friedenskanzler; seine geflohenen Landsleute waren für ihn nur "hochverräterische Ignoranten der großen Weltverwandlung".
    Genoss Sieburg schon zuvor einen zweifelhaften Ruf als Opportunist, beschimpften ihn nun Emigranten wie Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger als "Agenten des Propagandaministeriums". Eine Rolle, die Sieburg 1939 sogar ganz offiziell einnahm, als er unter Hitlers Außenminister Ribbentrop in den diplomatischen Dienst wechselte: Im inzwischen besetzten Paris erklärte er französischen Intellektuellen, warum allein der deutschen Kultur die Zukunft gehöre.
    Nach 1945 gab sich Sieburg geläutert: Als einer der ersten und lautesten forderte er die Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Persönlich wollte er freilich ebenso wenig das Büßerhemd anziehen wie ein Gottfried Benn oder Ernst Jünger:
    "Ich verhalf einer Zeit zum Aufstieg, die sich selbst mit Blut und ihre Opfer mit Schmutz bedeckte. Aber ich wusste, dass ich nicht ihr Schöpfer, sondern nur ihr Zeuge war." (S. 297)
    Sein Biograf beschönigt nichts: Harro Zimmermann nennt Sieburg einen "gewieften Mitläufer" und attestiert ihm eine erstaunliche "Tarnungs- und Anpassungsfähigkeit". Trotzdem sei Sieburg differenzierter als bislang zu beurteilen, sei er doch weder ein Antisemit noch ein Nazi gewesen, auch den Krieg habe er nicht gewollt:
    "Er wollte natürlich Karriere machen, er wollte gut leben, er war ein Lebemann, er war ein Genießer, er war im besetzten Paris einer der führenden Kulturintellektuellen, er ging ein und aus bei den Schönen und Reichen, und dieses Leben wollte er weiterführen, er wollte aber kein Naziideologe werden, deswegen hat er ja irgendwann die Zeitung verlassen, verlassen müssen zum Teil, und ist in die Diplomatie gegangen, dort hat er gehofft, eine Art aristokratische Form der Emigration zu finden, übrigens ganz ähnlich wie Gottfried Benn in der Wehrmacht. Er war ein Mitläufer ohne Frage, ein Karrierist im Nazisystem, aber er war kein genuiner Nazi, er war natürlich auch kein Widerständler, das hat er auch nie behauptet."
    Der menschliche Preis, den Sieburg für seine Karrieregeilheit zahlen musste, war hoch. Umso mehr als auch für ihn die von Hitler angezettelte Katastrophe immer sichtbarer wurde: Carl Zuckmayer, der den Journalisten 1938 in Paris traf, sah einen Selbstmordkandidaten vor sich, Sieburg sei voller Verzweiflung, Ekel und Scham gewesen.
    In der Nachkriegszeit sollte Sieburg das Stigma seiner Nazi-Vergangenheit nicht mehr loswerden. Das war aber nicht der einzige Grund, warum der inzwischen zum Literaturchef der FAZ Avancierte zum erklärten Feind der jungen Autoren wurde. Vertreter der Gruppe 47, die von einer "Stunde Null" in der Literatur sprachen, waren für Sieburg nur "aalglatte Schwätzer":
    "‚Namen nennen‘, hört man hier deutlich rufen, worauf man nur sagen kann: ‚Alle‘." (S. 370)
    Mehr als ein Generationenkonflikt mit der Gruppe 47
    Die so Gescholtenen revanchierten sich auf ihre Weise: Im Winter 1960/61 erhielt Sieburg tagelang per Post Gartenzwerge zugesandt – wohl aus Spott über seine vermeintlich zipfelmützigen Literaturideale. Solche Generationenkonflikte sind in der Literaturgeschichte natürlich nicht ungewöhnlich und halfen auch in diesem Fall beiden Seiten bei der Profilschärfung. Und doch stellt sich die Frage, ob die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur nicht auch anders hätte laufen können – mit einem Friedrich Sieburg als eine Art Mentor der "Gruppe 47":
    "Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Parallelitäten, von ähnlichen Einschätzungen, beispielsweise Sieburg ist ja ein großer Verehrer gewesen der radikalen Moderne, der aufmüpfigen Literatur in Deutschland der 20er-Jahre, er hat immer plädiert für die Anarchie des Intellektuellen, für die Freiheit des Individuums, er wollte eine Literatur mit gesellschaftlichem Protestpotenzial, all das hätte ihn eigentlich in die Nähe der Gruppe 47 führen müssen, aber so war es eben nicht. Sieburg hat eben gesehen, dass die neue Literatur auf die Tradition nicht mehr setzen wollte, dass diese jungen Autoren, diese Enzensberger, diese Grass und Walser usw., dass die den Neuanfang wollten, sie wollten die deutsche Kultur und Literatur, wenn man so will, aus dem Stand heraus neu begründen, und das war ihm vollkommen zuwider, er wollte natürlich, die große literarische, kulturelle Tradition am Leben erhalten, das sollte ein Ferment werden der Gegenwartsselbstverständigung."
    Sieburgs Vorwurf an die jungen Autoren, sie seien nur machthungrige Karrieristen, würde ein Psychoanalytiker wohl als Projektion deuten. Dennoch sei Sieburgs Bedeutung für die kulturellen Debatten der Adenauer-Zeit bislang unterschätzt worden, glaubt Harro Zimmermann. Für den ehemaligen Literaturchef von Radio Bremen war dieser selbstverliebte "Ästhet und Provokateur" sogar einer der "intellektuellen Mitbegründer der Bundesrepublik". Dessen Bücher es verdienten, wiederentdeckt zu werden. Gerade Sieburgs nach 1930 entstandenen Werke wie seine Studie über "Robespierre" oder sein Reisebericht "Neues Portugal" seien "Erkundungsfahrten im geschichtlichen Vorhof des Totalitarismus" gewesen, angetrieben von einer aufregenden "Genauigkeitsfantasie":
    "Er ist durchaus ein Realanalytiker, er hat einen großen Blick für Machtverhältnisse, für Strukturen, für Einflüsse, für die Gewalt politischer Ideologien. Das hat er, glaube ich, in der Max-Weber-Schule gelernt. Gleichzeitig war er ein besessener Ästhet, der auf George, auf Stefan George und den George-Kreis schwor und auf die symbolistische Literatur der Zeit, es spielt also immer eine Rolle, wenn er empirische Wahrnehmungen macht, dann spinnt er sie aus, dann verknüpft er sie mit eigenen Visionen, Träumen und schafft gewissermaßen konstruktive Bilder seiner Weltwahrnehmung, und die sind immer geprägt von empirischer Genauigkeit auf der einen Seite und der Freiheit der, ja, subjektiven Empfindung und des illusionierenden Ausspinnens, könnte man sagen."
    Entsprechend zitierfreudig und quellennah ist Zimmermanns verdienstvolle Sieburg-Biografie geschrieben. Die Lust, neben dem Leben auch das Werk dieses schillernden Geistesaristokraten wiederzuentdecken, vermag sie aber nicht zu wecken: Nicht nur weil Sieburgs "leidenschaftlich hoher Ton" auch heute noch reichlich verzopft anmutet. Sondern auch weil Zimmermann die Reflexionen und Positionen dieses Kritikers mit buchstäblich erschöpfender Ausführlichkeit rekonstruiert.
    Harro Zimmermann: Friedrich Sieburg – Ästhet und Provokateur. Eine Biografie.
    Göttingen: Wallstein Verlag 2015. 490 Seiten, 34,90 Euro.