Dienstag, 23. April 2024

Archiv

FU Berlin
Über Freiheit der Kunst und ihre Grenzen

Moderne demokratische Staaten garantieren in ihren Verfassungen die Freiheit der Kunst. Aber gleichzeitig verpflichten sie sich, ein friedfertiges Miteinander aller Bürgerinnen zu garantieren. Wie ist das noch möglich nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" im Januar? Müssen Künstler in Zukunft mehr Rücksicht nehmen auf die Empfindungen von Minderheiten?

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann | 11.06.2015
    Die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem Anschlag zeigt eine Karikatur Mohammeds auf dem Titel
    Die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem Anschlag zeigt eine Karikatur Mohammeds auf dem Titel (imago stock&people)
    Oder ist die Freiheit der Kunst und damit letztlich die Demokratie bedroht, wenn etwa in Berlin oder New York Aufführungen abgesagt werden aus Angst, religiöse Gefühle zu verletzen? Und ist es ein Zeichen von Respekt oder von falsch verstandener Rücksicht, wenn diskutiert wird, aus literarischen Klassikern anstößige Vokabeln zu entfernen? Philologen, Islamwissenschaftler und Philosophen diskutieren, wie viel Begrenzung die Freiheit verträgt und was Minderheiten in offenen Gesellschaften ertragen müssen.

    Der Beitrag in voller Länge:
    "Das ist die große Frage dieser Tage: Darf man sich noch lustig machen, nachdem was bei 'Charlie Hebdo' passiert ist? Ist es noch wie vorher? Und ich sage, nein, es ist nicht mehr wie vorher. Und man darf sich auch nicht mehr lustig machen, man muss. Es ist unsere Pflicht. Punkt."
    So eindeutig wie der Kabarettist Florian Schröder am politischen Aschermittwoch in Berlin reagierten längst nicht alle Künstler und Intellektuelle auf die Anschläge in Paris, bei denen im Januar unter anderem zwölf Mitarbeiter der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" erschossen worden waren.
    "Zwar sind sich alle darin einig, dass man so etwas wie das Massaker in den Räumen von 'Charlie Hebdo' nicht dulden und nicht tolerieren kann, aber dennoch zeigen diese Vorgänge Wirkung. Man sieht, wie so eine Art Selbstzensur stattfindet."
    Für Hans-Richard Brittnacher, Professor für Literaturwissenschaft an der FU Berlin, ist Selbstzensur am Werk, wenn die "New York Times" zwar über den Anschlag auf "Charlie Hebdo" berichtet, aber nicht die Karikaturen druckt, die den Anlass für die Morde gegeben haben.
    Oder wenn der Schriftsteller Martin Mosebach seine Kollegen auffordert, auf Gotteslästerungen zu verzichten, weil die Gefühle von Gläubigen zu schützen seien.
    Und auch wenn der französische Soziologe Emmanuel Todd in seinem gerade erschienenen Bestseller "Wer ist Charlie?" die Zeichner als "fremdenfeindlich und islamophob" kritisiert, weil sie mit ihren Mohammed-Karikaturen die muslimische Minderheit im Land gedemütigt hätten.
    "Wir wollen tatsächlich über die Frage sprechen, was kann die Kunst, was soll sie können dürfen, was ist ihr erlaubt und was nicht?"
    In den 20er-Jahren hatte Kurt Tucholsky darauf noch eine klare Antwort gegeben: Satire darf alles, stellte er klar, und ließ keinen Zweifel, dass diese Freiheit auch für alle anderen Formen der Kunst zu gelten habe.
    Einerseits wird die Freiheit der Kunst auch in allen westlichen Demokratien durch die Verfassung garantiert. Doch andererseits dürfen Künstler dann doch in keinem Land wirklich alles.
    "Das Problem ist, dass die Kunst darstellen darf, was sie will, sie darf damit aber nicht dazu führen, dass die öffentliche Ordnung gestört wird. Das ist auslegefähig."
    "In den USA herrscht eine andere Vorstellung von Freiheit, die einerseits sehr viel weiter geht als bei uns. In den USA ist es zum Beispiel nicht gesetzlich verboten, den Holocaust zu leugnen. Das ist in Deutschland verboten, in Frankreich auch. Dafür ist es in den USA nicht möglich oder nicht üblich, religiöse Minderheiten anzugreifen. Das ist also nicht unbedingt eine gesetzliche Frage, sondern eine kulturelle Frage, die jeweils neu ausgehandelt wird."
    Die Philologin Susanne Scharnowski hat gemeinsam mit Hans-Richard Brittnacher die Vorlesungsreihe initiiert, weil sie festgestellt hat, dass diese Frage gerade jetzt mal wieder neu ausgehandelt wird.
    "Und das schlägt auch seltsame Blüten. Ein britisches Museum hat eine antike Mohammed-Abbildung von seiner Website entfernt, in so einer Art vorauseilendem Gehorsam, wir wollen gar keine Angriffsfläche bieten."
    Bilderverbot im Islam
    Statt Kunstwerke zu verstecken, sollte man über sie reden, fordert Susanne Scharnowski. Das könnte einige Missverständnisse aus der Welt schaffen, zum Beispiel das vom vielzitierten Bilderverbot im Islam.
    Das existiere nämlich gar nicht, obwohl sogar viele Muslime daran glauben, sagt die renommierte Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer. Tatsächlich kämen zwar im arabischen Raum bildliche Darstellungen zu religiösen Themen nur sehr selten vor. In der Türkei, im Iran oder auf dem indischen Subkontinent hätten sie dagegen eine lange Tradition. Auch Mohammed werde dort gezeigt, manchmal mit Heiligenschein und langem Gewand.
    Eines ist allerdings in allen muslimischen Ländern undenkbar, ergänzt die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer: dass Mohammed kritisch oder in irgendeiner Form negativ zur Schau gestellt wird.
    "Die Begründung fällt gar nicht so leicht. Sie besteht quasi in der Annahme, dass das verboten sei."
    Selbst Mohammed-Karikaturen sind also nicht durch den Koran verboten. Aber für viele Muslime gibt es ein gefühltes Gebot, den Propheten respektvoller zu behandeln als jeden anderen Menschen, obwohl er weder göttlich noch heilig ist, so Gudrun Krämer.
    "Nach islamischer Lehre ist Mohammed eindeutig nur ein Mensch. Gleichzeitig aber trägt er den Beinamen Mustafa, der Auserwählte, ist eben doch ein besonderer Mensch und in der Gegenwart wird er von den allermeisten einfach als Verkörperung des Islam, der muslimischen Gemeinschaft gesehen, und daher ist jeder Angriff auf Muhammad ein Angriff auf den Islam. In dieser Wahrnehmung. Da ist nichts Zwingendes dabei, das ist eine aktuelle Wahrnehmung, die unter den obwaltenden politischen Umständen noch ständig weiter genährt wird."
    Diese Wahrnehmung könnte sich ändern, wenn sich das Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen entkrampfe. Dann könnten Gläubige Mohammed-Darstellungen vielleicht entspannter zur Kenntnis nehmen, oder sie ignorieren.
    Gudrun Krämer ist gegen jedes Verbot von Mohammed-Karikaturen und plädiert stattdessen für einen Dialog. Wissenschaft und Kunst sollten gar nicht erst anfangen, den Islam anders zu behandeln als jede andere Religion oder Weltanschauung, sondern seine Lehre wie seine Geschichte kritisch hinterfragen.
    "Ich würde einfach Mohammed-Karikaturen aus pragmatischen Gründen ausklammern, aber sonst würde ich keine Schonung walten lassen. Nur sehe ich keine Notwenigkeit, ständig in die eine Wunde zu stechen, die jetzt als Wunde erkannt ist, mit der Behauptung, das trage zum gesellschaftlichen Frieden und zur Aufklärung bei."
    "Ich möchte hier wirklich keine religiösen Gefühle verletzen, aber einer muss es ja tun.
    Liebe Freunde, Freiheit ist immer Kampf!"
    Der Kabarettist Thomas Reis drückt aus, was viele Künstler empfinden: Die Freiheit ist niemals sicher, sie muss immer wieder neu erkämpft werden. Und der beste Weg, die Freiheit zu erkämpfen, ist es, sie zu nutzen.
    Autor Michel Houellebecq und sein Roman "Unterwerfung"
    Der weltweit bekannteste Protagonist dieser Haltung ist der französische Autor Michel Houellebecq, dessen neuester Roman "Unterwerfung" zeitgleich mit den Anschlägen von Paris erschien. Darin beschreibt Houellebecq ein fiktives Frankreich, das sich von einem muslimischen Präsidenten die Scharia aufdrängen lässt. Als islamfeindlich haben Kritiker das Buch eingestuft, weil es Muslimen unterstelle, die Gesellschaft unter ihre Herrschaft bringen zu wollen.
    Michel Houellebecq verteidigte sein Buch in einem Fernsehinterview mit den Worten:
    "Es gibt keine Freiheit ohne ein gewisses Maß an Provokation."
    "Ich würde sagen, dass die Provokation erst die Grenzen sichtbar macht und damit auch ein Gefühl für Freiheit."
    So interpretiert die Berliner Romanistin Ulrike Schneider diese These Houellebecqs.
    "Und es ist nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch eine Freiheit zu etwas."
    Für Houellebecq ist es vor allem die Freiheit zur Überzeichnung.
    Die französische Gesellschaft tendiert in seiner Fiktion mehrheitlich zum rechtsradikalen Front National. Die Sozialistische Partei und die Intellektuellen des Landes wollen dessen Machtübernahme unbedingt verhindern und opfern dafür ihre Freiheitsideale. Sie verbünden sich nämlich gegen den Front National mit der Muslimischen Bruderschaft, die vorgibt für Minderheitenrechte zu kämpfen, aber die gesamte Gesellschaft islamischem Recht unterwerfen will.
    "Es ist ja kein Abbild der Gesellschaft, sondern es ist ein fiktionales Porträt, eine Diagnose in Form der Fiktion, insofern eine bewusste Überzeichnung, das ist ganz klar. Er agiert als Seismograph für bestimmte Tendenzen in der Gesellschaft, die entweder schon offensichtlich sind oder in der Latenz erkennbar werden."
    Alle Akteure sieht Houellebecq gefährdet, totalitären Versuchungen nachzugeben. Darin erkennt er eine Gefahr für die Freiheit.
    Vor dieser Gefahr will er warnen - ganz im Stil der französischen Aufklärer mit dem Mittel der Provokation.
    "Es sind ja demokratische Wahlen, die da stattfinden, das heißt, es gibt eine Mehrheit für dieses Bündnis von Sozialisten und dieser Muslimischen Bruderschaft. Die Zielscheibe ist natürlich die intellektuelle Elite und die politische Klasse, aber darunter gibt es ja eine breite Schicht, auf die das Ganze aufbaut. Er provoziert ganz offensichtlich die Mehrheitsgesellschaft und dann natürlich Minderheiten, insofern es sich ja gegen den Islam gerichtet hat."
    Houellebecq karikiert und überzeichnet alle seine Figuren. Seine Romane kann man also als ausgewogen und fair bezeichnen, auch wenn das keine Kategorien sind, die für Houellebecq eine Rolle spielten.
    Man kann sie aber auch als Beleidigung aller lesen, denn jede der angesprochenen gesellschaftlichen Gruppen könnte mit guten Argumenten darlegen, sie sei falsch dargestellt worden.
    "Kritik, die sich auf bestimmte Haltungen oder Handlungen oder Überzeugungen eines Menschen richtet, die wird relativ schnell, je nachdem wie empfindlich das Gegenüber ist, als Beleidigung empfunden. Das ist aber kein Maßstab für die Angemessenheit der Kritik. Das geht nicht."
    Die Empfindungen des Publikums können und dürfen kein Maßstab dafür sein, was Kunst darf oder nicht, sagt der Philosoph und Theologe Michael Bongardt von der FU Berlin. Sonst könnten ja die Betroffenen selbst bestimmen, ob und wie weit sie sich kritisieren ließen.
    Paragraf 166 in Deutschland
    Deshalb plädiert Bongardt dafür, Paragraf 166 des deutschen Strafgesetzbuches zu streichen. Der verbietet die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen. Praktisch spielt er zwar kaum noch eine Rolle, weil die Gerichte die im Grundgesetz verankerte Kunstfreiheit als übergeordnet ansehen. Aber immer noch wird er gelegentlich als Argument genutzt, bestimmte Formen oder Aussagen von Kunst infrage zu stellen.
    In einer freien Gesellschaft müssten Künstler ohne jeglichen Druck von außen arbeiten dürfen, sagt Bongardt. Gerade wenn sie so umstrittene Werke wie Mohammed-Karikaturen angingen, müssten sie frei sein. Nicht zuletzt, um frei auch über eine Selbstbegrenzung nachdenken zu können.
    "Ich würde sagen, dass man da in der Tat aufpassen muss. Wenn diese Karikaturen jetzt benutzt werden von Leuten, die mit rassistischem Hintergrund sagen, mit Muslimen wollen wir nichts zu tun haben, dann werden damit Regeln, die unsere Gesellschaft zusammen halten, in einer Weise infrage gestellt, dass ich mir dann auch als Künstler die Frage stellen würde, in wie weit muss ich Rücksicht darauf nehmen, gar nicht so sehr, wen ich mit meiner Kunst verletzte, sondern wer benutzt meine Kunst, um damit Dinge zu tun, die ich nicht haben will."
    "Wenn die Satire alles darf, dann darf man sich auch fragen, ob sie im Endeffekt auch alles muss, was sie darf."
    Eingriff von vorhandener Literatur
    Der Kabarettist Winfried Schmickler ist bei Weitem nicht der Einzige im Kunstbetrieb, den ein eher diffuses Gefühl umtreibt, dass man in heutigen multi-kulturellen Gesellschaften mit der Freiheit vielleicht nicht mehr ganz so frei umgehen könne, wie das frühere Generationen getan haben.
    So wie Astrid Lindgren zum Beispiel. Die hatte in ihren Kinderbüchern noch vollkommen ungeniert von "Zigeunern" erzählt. Oder wie Otfried Preußler. Der lies seine kleine Hexe nicht auf Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund treffen, sondern auf "Negerlein".
    So etwas kann man heute nicht mehr drucken, entschieden im vergangenen Jahr zumindest ihre deutschen Verleger und strichen diese Begriffe auf den neuesten Auflagen.
    Für Hans-Richard Brittnacher grenzt das an Zensur.
    "Ich würde sagen, dass man in solche Texte nicht eingreifen sollte. Wenn wir tatsächlich aus jedem Text, wo eine Zigeunerin auftaucht, sagen wir mal in Kleists 'Michael Kohlhaas', da taucht eine alte Zigeunerin auf, wenn ich da jetzt hinschreibe, dass das eine Roma-Frau ist, dann ist das erstens sachlich falsch und verhilft einem Text 200 Jahre später zu einer rassistischer Dimension, die er zu Zeiten, als er geschrieben wurde, gar nicht besaß."
    Doch es gibt auch eine andere Lesart: Danach waren solche Texte schon immer unterschwellig rassistisch, nur fiel es damals niemandem auf. Nicht einmal dem Autor selbst und auch nicht all den Literaturwissenschaftlern, die sich seither mit ihm beschäftigten.
    Kunst und sein Kontext
    Selbst wenn es so sein sollte, rechtfertige dies keine Eingriffe in die Kunst, betont auch Susanne Scharnowski. Denn die Freiheit der Kunst bedeute nun mal, dass für sie andere Maßstäbe gelten als für das normale Leben.
    "Der Künstler Jonathan Meese, der ist ja verschiedentlich dadurch aufgefallen, dass er den Hitlergruß präsentiert hat in Kontexten, die er als Kunst deklariert hat. Und in den Prozessen, die es dann gegeben hat, wurde er jeweils freigesprochen mit dem Argument, es ist Kunst. In dem Kontext konnte er den Hitlergruß präsentieren, obwohl es eigentlich verboten ist."
    Die besondere Freiheit der Kunst wird auch in Kulturen und Gesellschaften verstanden, in denen sie nicht per Verfassung garantiert ist. Überall, auch in den heute so fremd erscheinenden muslimischen Ländern, fällt Künstlern die Rolle zu, Dinge zu sagen, die anders oft gar nicht gesagt werden können, erklärt Gudrun Krämer.
    "Satire ist vollkommen bekannt, es gibt eine Vielzahl satirischer Zeitschriften, auch heute, die sich auch lächerlich über die Herrschenden, auch über religiös Herrschende, die auch religiöse Bildungsanstalten karikieren. Also der Imam gewissermaßen als Gegenbild zum Pfaffen, fett, faul, dumm und aussaugerisch ist absolut verankert."
    Auch wenn sie immer wieder zensiert wird, findet solche Kunst ihr Publikum, und sei es im Internet.
    Das gilt für jede Kunst, die etwas zu sagen hat, ergänzt Michael Bongardt. Die ein ernsthaftes Anliegen ausdrückt, gerade auch wenn sie leicht und lustig daher kommt. Und die nicht die Provokation um der Provokation willen sucht und darüber banal wird.
    "Die Frage ist, ob wir das Durch-den-Kakao-Ziehen als unsere Hauptumgangsform akzeptieren wollen. Ein Punkt, an dem ich es sehr deutlich sehe, ist dieses Überhandnehmen im Fernsehen von Comedy-Formaten. Diese Comedy-Linie führt zu einer Haltung, die nichts und niemanden mehr ernst nimmt. Den, den ich kritisiere, nehme ich ja auch dadurch, dass ich kritisiere, ernst. Und mir scheint es problematisch, wenn Formen, in denen wir uns noch eindeutig Respekt erweisen, wenn die zu sehr verloren gehen."