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"Für das Selbstbild unseres Landes ist das ganz wichtig"

Der frühere Außenminister Joschka Fischer zeigt sich über das "Elitenversagen" der deutschen Diplomaten während des NS-Regimes verständnislos. Der Grünen-Politiker spricht auch darüber, warum es in Deutschland lange kein Bewusstsein für das Thema gab.

Joschka Fischer im Gespräch mit Sabine Adler | 27.10.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Meine Kollegin Sabine Adler hatte gestern die Gelegenheit, mit Joschka Fischer zu sprechen.

    Sabine Adler: Herr Fischer, Franz Nüßlein war derjenige, der den Anstoß gegeben hat, der Generalkonsul, dessen Nachruf veröffentlicht werden sollte in dem internen Behördenblättchen. Das wollte eine andere Mitarbeiterin, Frau Henseler, verhindern. Wenn wir jetzt die Geschichte bis zum Ende anschauen: Sie haben diesen Nachruf gestoppt, weil Sie Grund zu der Annahme hatten, dass Herr Nüßlein diesen Nachruf nicht verdient hatte. Alles in allem hat der Fall Nüßlein-Henseler gezeigt, wie kompliziert der Umgang mit der Nazi-Vergangenheit ist?

    Joschka Fischer: Aus meiner Sicht ist der Fall Nüßlein sehr klar. Er war damals unter der deutschen Besatzung bei Heydrich und dessen Nachfolger zuständig für Begnadigungssachen und insofern an vielen Todesurteilen mit beteiligt. Das ist zweifelsfrei. Man hat ihn dann im Ausland stehen lassen, in Barcelona, für zwölf Jahre – aus den Gründen, weil er eben nur schwer verteidigbar war -, wurde von den Amerikanern an die Tschechen ausgeliefert, die ihn haben wollten, und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. zehn Jahre hat er davon abgesessen. Warum er in den auswärtigen Dienst aufgenommen wurde, bleibt mir nach wie vor ein Rätsel, und insofern war die Beschwerde über den Nachruf, wo ihm ein ehrendes Gedenken gewährt wurde, von Frau Henseler völlig zurecht geschehen.

    Was sich daran zeigt, ist eben, dass viele der Funktionseliten als Funktionäre des Regimes, als Angehörige der Regierung oder Besatzung Teil des Verbrechens waren. Das hat jetzt die Historiker-Kommission auch sehr klar herausgearbeitet, dass dies für das Auswärtige Amt zwischen 1933 und _45 galt und dass nach 1945 es eine starke personelle Kontinuität gegeben hat. Was ich heute sehe in der "FAZ" – übrigens ein früherer Mitarbeiter des Archivs, der dieses geschrieben hat – zeigt, dass es gerade weitergeht, auch dass das Archiv offensichtlich versucht wird, um hier eine ganz eigene Politik zu machen, zu benutzen. Das ist genau das, was, wenn Sie den Bericht der Historiker-Kommission lesen, über Jahrzehnte eben geschehen ist, wo zum Beispiel Professor Döscher, der umfängliche Forschungen gemacht hat, die jetzt im Wesentlichen alle bestätigt wurden, wurde immer mal versucht zu marginalisieren, erfolgreich im Übrigen, nach der Devise randständige Meinung, wissenschaftlich zweifelhaft.

    Adler: Es gab zwei Studien, Sie haben eine angesprochen, von Herrn Döscher, die eine, die andere von dem amerikanischen Wissenschaftler Browning. Warum hat Ihnen das damals nicht gereicht? Das waren ja zwei Studien, die durchaus …

    Fischer: Mir hat’s gereicht! Ich war nicht das Problem! Denen hat es nicht gereicht. Es ging darum – und ich habe mich immer wieder gefragt, warum eigentlich legen die so Wert auf einen Nachruf in diesem Amtsblättchen, weil eigentlich ich würde sagen, was soll’s. Aber offensichtlich ist das so wichtig, weil es hier um den letzten Persilschein geht, noch post mortem. Anders kann ich mir das nicht erklären. – Nein, mir hätte das gereicht. Ich hätte die Historiker-Kommission nicht gebraucht, weil ich aus damaliger Sicht auch ziemlich naiv war. Schauen Sie, die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der Tätergeneration ist der Grundpass meines politischen Lebens, und vermutlich nicht nur meiner, sondern es geht vielen in meiner Generation so. Warum? Es waren unsere Eltern, es waren unsere Lehrer, das waren die Autoritäten, an die wir geglaubt haben, als wir heranwuchsen, und von denen wir uns befreien mussten. Dabei ist nicht alles richtig, was meine Generation gemacht hat, im Gegenteil.

    Adler: Fühlen Sie so was wie späte Gerechtigkeit, oder vielleicht auch gar nicht späte Gerechtigkeit, einfach nur Gerechtigkeit, das war ein richtiger Kampf, den Sie geführt haben als 68er, auch Steine werfend, was Ihnen nicht zuletzt auch Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes vorgeworfen haben?

    Fischer: Dass ich Steine geworfen habe, oder Polizisten verprügelt habe – ich war kein guter Werfer -, das wird mir zurecht vorgeworfen. Dass man 1968 auf den Gewalttrip gegangen ist, ist das schlimmste Versagen von 1968. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt und mir geht es hier auch nicht um Abrechnung, im Gegenteil. Ich dachte, unser Land, das ja Großes geleistet hat bei der Konfrontation mit unserer eigenen Vergangenheit – und das habe ich gerade im Ausland erlebt, wird einem hoch angerechnet -, ist da durch. Weizsäcker hat eine großartige historische Rede 1985 gehalten, Bundespräsident Herzogs Anwesenheit, schweigende, aber beeindruckende Anwesenheit 1995 im Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz, Helmut Kohls Haltung dazu, all das, hatte ich den Eindruck, wir sind da eigentlich weiter. Und insofern bin ich da mit großer Naivität rangegangen, überhaupt nicht mehr im Abrechnungsmodus. Und als der Fall Nüßlein kam, war mein erster Gedanke, um Gottes Willen, wir haben wieder einen Jahrzehnt-Jahrestag, nämlich 2005, und wir können uns eine solche Debatte nicht erlauben. Auch das war ein Grund, warum wir diese neue Regelung, keine Nachrufe mehr für NSDAP-, SS-, SA-Mitglieder.

    Adler: Jetzt haben Sie all das gemerkt zu dieser Zeit an dem Fall Nüßlein. Haben Sie sich dann gefragt, was haben eigentlich meine Vorgänger in dem Amt gemacht? Was hat eigentlich zum Beispiel jemand gemacht wie Willy Brandt? Willy Brandt – wir wissen es – war nicht konsequent im Ablehnen von belasteten Kadern im Auswärtigen Amt. Auch ein Hans-Dietrich Genscher, ein Klaus Kinkel hatte keine Historiker-Kommission eingesetzt. Was sagt Ihnen das?

    Fischer: Ich hätte auch keine eingesetzt, weil mir das Bewusstsein von der Notwendigkeit fehlte. Ich hatte mit Kosovo zu tun, mit dem 11. September. Also das Letzte, was ich sozusagen beim Amtsantritt gedacht habe, dass es noch nötig gewesen wäre, da eine Historiker-Kommission einzurichten. Deswegen war ich ja so baff.

    Zu Willy Brandt und den anderen Vorgängern. Schauen Sie, ich kann mich noch gut erinnern, wie das bis 1966 und Folgende war. Da war die Auseinandersetzung, ob erstens die SPD tatsächlich regierungsfähig ist, auch in dem Sinne, dass die Konservativen erlauben, dass Sozialdemokraten eine Bundesregierung führen. Das war damals noch die große Frage. Ich meine, Brandt wurde in früheren Wahlkämpfen von Adenauer noch angegriffen auf eine sehr perfide Art, weil er erstens in der Emigration war und zweitens ein uneheliches Kind. Die Mehrheitsstimmung war damals eine ganz andere, und die Mehrheit waren die ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die Mitläufer und auch Mittäter. Insofern muss man das aus der Zeit heraus betrachten. Ich denke, für Willy Brandt stand im Vordergrund, seine Politik zu machen, die eine historische war, nämlich die Anerkennung wegen der deutsch-polnischen Grenze war, glaube ich, von ganz zentraler Bedeutung, eine riesige historische Leistung. Das gilt auch für die Freidemokraten. Walter Scheel ist ja in einen Konflikt als Außenminister mit Ehemaligen gegangen und hat ja auch eine ganze Reihe von älteren Botschaftern in den Ruhestand versetzt oder versucht, in den Ruhestand zu versetzen. Mir geht es nicht darum zu meinen, dass da irgendwas vertuscht hätte werden sollen. Döschers Bücher waren da! Brownings Buch ist jetzt ins Deutsche übersetzt, seit 1979, denke ich, auf Englisch vorhanden. Das alles hat nicht gereicht. Warum? Weil das Selbstbild, das das Amt und das heißt diese Generation von sich geschaffen hat, mächtiger war im damaligen Umfeld als die bewusste Aufklärung. Und so kam es letztendlich auf mich, dass ich die Entscheidung treffen musste. Lange habe ich gar nicht gewusst – ich kam mir vor wie im falschen Film -, was da eigentlich abging.

    Adler: Jetzt lehrt der Blick auf diese Karrieren im Auswärtigen Amt auch etwas für meine Begriffe ziemlich Betrübliches, nämlich dass diejenigen, die Ja sagen, die mitmachen, die mitschwimmen, die Erfolgreicheren sind, wenn man sich anschaut, dass diejenigen, die Widerstand geleistet haben, nie auf ihre alten Posten zurückgekommen sind, keine Karriere mehr im Amt gemacht haben. Wie wirkt denn das auf Sie, der Widerstand geleistet hat? Was sagen Sie jungen Leuten, die sagen oder die Sie fragen, lohnt sich das eigentlich?

    Fischer: Es lohnt sich immer, und zwar das Wichtigste ist, ob sie vor sich selbst bestehen und sich nicht selbst betrügen müssen. Dass man in einem Volk genügend Leute findet, die zu allen Bestialitäten in der Lage sind, das ist nicht nur in Deutschland so. Was ich nicht verstehe, ist, dass in einer alten europäischen Zivilisation wie der deutschen Kultur es ein solches Elitenversagen gegeben hat, und zwar in der ganz schlichten Frage, die im Zentrum jeder Erziehung steht, nämlich dass Kinder lernen, was gut und richtig und was böse und falsch ist. Dass aber ausgerechnet die Gebildeten, an die zurecht ein höherer Anspruch gesetzt wurde, diese Entscheidung so katastrophal missraten ist, das ist die eigentliche Tragödie der Nazi-Zeit. Bei Hitler ging es nicht mehr um die Frage der Politik und Ähnliches. Das war das Böse schlechthin. Und dass hier nicht Reflexe eingesetzt haben, gerade bei den Eliten, nämlich der Reflex, das ist abgrundtief böse, das wird unser Land zerstören, da darf ich nicht mitmachen, das ist, was ich nicht verstehe, ehrlich gesagt. Und dass dieses Versagen nicht eingestanden wird, sondern dass man es versucht, irgendwie mit korrigierten Biographien hinzubekommen, das können Sie an dem Beispiel Auswärtiges Amt und der Diplomaten sehen – nicht bei allen. Und dass man oft, wenn man auf der Seite der Gerechtigkeit steht, nicht immer dann sozusagen nach einer Zäsur auf der Seite der Sieger steht, ja, das ist so, aber am Ende wird unser Land, die Demokratie, die deutsche Demokratie mehr begründet sein auf die Leistung derer, die im Widerstand waren, als auf dem Verhalten anderer.

    Adler: Und dennoch ist noch etwas anderes Erstaunliches geschehen, dass tatsächlich es gelungen ist, auch aus dem Auswärtigen Amt eine demokratische Institution zu machen. Ist das nicht mindestens ebenso schwer erklärlich, wie ganz überzeugte, zum Teil ja zu der Zeit noch sehr junge Mitarbeiter, Beamte dann tatsächlich diese Wende geschafft haben?

    Fischer: Nein! Ich meine, Sie müssen ja sehen: Wenn Sie sich die Biographien der Weltkriegs-II-Generation anschauen, dann waren das im Wesentlichen alles noch sehr junge Leute in den Endzwanzigern oder in den Dreißigern. Und vor allen Dingen die Generation, die dann schon herangewachsen ist unter dem Nationalsozialismus, war natürlich durch die Nazis verführbar und leicht formbar. Die kamen aber, viele von ihnen, auch völlig desillusioniert dann aus dem Zweiten Weltkrieg heraus, wenn sie ihn überlebt haben, und dann stellte sich die Frage, wie man das vor einem noch liegende lange Leben, wie sich das gestalten soll. Die wenigsten fühlten sich da schuldig, es wurden Legitimationsmuster aufgebaut, Hitler und seine Kamarilla, die SS, das waren die Schurken, der Rest ist anständig geblieben, hat alles so nicht gestimmt.

    Adler: Wäre das nicht auch ein probates Mittel, mit dem Gedankengut der Diktatur, der kommunistischen Diktatur der DDR umzugehen, sehr viel stärker zu sanktionieren, dieses "nie wieder" zu pflegen?

    Fischer: Ich tue mich schwer. Natürlich, Diktaturen haben ein Gemeinsames, weil wir dann sehr schnell wieder bei einer Entlastung sind. Und ich glaube, die DDR-Diktatur wird von der jüngeren Generation nochmals in einer ganz anderen Art und Weise auch hinterfragt werden und da werden sich viele noch rechtfertigen müssen, und das ist gut so. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Nationalsozialismus eine eigene Dimension hatte, und das ist der Rassismus und der Antisemitismus, der zu Völkermord führte.

    Deutschland ist zu einer stabilen Demokratie geworden auch durch diese Generation. Die kamen enttäuscht zurück, sie konnten mit ihren Biographien nur bedingt umgehen. Das war das Problem. Und die Entlastungsmuster funktionierten, weil sie millionenfach schlicht und einfach wiederholt wurden. Es war ja nicht nur das Auswärtige Amt.

    Es ist nicht einer der Blutrichter oder Blutstaatsanwälte verurteilt worden. Im Gegenteil! Freislers Beisitzer Rehse am Volksgerichtshof, der ich weiß nicht, wie viele Todesurteile mit unterzeichnet hat, nichts ist geschehen und das hat lange gehalten, bis in die 80er-Jahre hinein. Deserteure waren Verräter. Ich plädiere hier für ein differenziertes Bild. Ich bin nicht für eine Abrechnung. Allerdings muss Schluss sein mit Verharmlosungen und Weißwaschen. Das, glaube ich, hat die Historiker-Kommission mit ihrem Bericht geleistet, das kriegt niemand mehr weg. Da wird jetzt der eine oder andere kommen, das Bein heben, versuchen, daran herumzukratzen, das stimmt nicht, jenes stimmt nicht, aber am Ende bleibt dieser Monolith da liegen und wird nicht mehr zu ändern sein, und ich denke, für das Selbstbild unseres Landes ist das ganz wichtig, aber auch für das Bild und die Wahrnehmung des demokratischen Deutschlands draußen in der Welt.

    Heckmann: Die Debatte um die NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes. Meine Kollegin Sabine Adler hat mit Bundesaußenminister a.D,. Joschka Fischer, gesprochen.