Donnerstag, 28. März 2024

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"Gauck reduziert Leben in der DDR auf Eingesperrtsein und Stacheldraht"

In den Jubelchor will die Linke auch am Tag nach der Wahl nicht einstimmen. Joachim Gauck sehe die Freiheit vor allem als "Freiheit der Wirtschaft", kritisiert ihr Vorsitzender Klaus Ernst. Er müsse sich "sehr anstrengen", auch die Lebensleistungen ostdeutscher Biographien zu würdigen.

Klaus Ernst im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 19.03.2012
    Dirk-Oliver Heckmann: Beate Klarsfeld, sie hat sich als faire Verliererin präsentiert, gestern bei der Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten. Ihr war es gelungen, drei Stimmen mehr auf sich zu vereinigen, als Die Linke Wahlleute entsendete, und trotzdem hatte sie von vornherein praktisch keine Chance gegen Joachim Gauck, der die Unterstützung aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien hatte. Der ehemalige Chef der Stasi-Unterlagenbehörde ist also der elfte Präsident der Bundesrepublik Deutschland, und darüber möchten wir jetzt sprechen mit Klaus Ernst, dem Bundesvorsitzenden der Linken. Guten Morgen, Herr Ernst.

    Klaus Ernst: Guten Morgen, Herr Heckmann.

    Heckmann: Ihre Co-Vorsitzende Gesine Lötzsch nannte Joachim Gauck den "Kandidaten der kalten Herzen". Halten Sie diese Einschätzung aufrecht?

    Ernst: Also so, wie er sich bisher präsentiert hat, würde ich an dieser Formulierung keine Abstriche machen. Bei seiner Rede gestern, nachdem er gewählt wurde, hat er insbesondere natürlich einen Freiheitsbegriff in den Vordergrund gestellt, der sich ableitet aus den Verhältnissen, die wir früher in der DDR hatten. Wir haben aber jetzt auch neben dem Freiheitsbegriff den Begriff der sozialen Sicherheit bei uns im Grundgesetz, auf den wird er vereidigt und ich hoffe, dass das dann auch in dem, wie er sein Amt führt, zum Ausdruck kommt.

    Heckmann: Aber er spricht ja immer von Freiheit und Verantwortung und daraus leite sich die soziale Gerechtigkeit ab. Das hat er gestern in einem Interview mit ARD und ZDF noch einmal betont.

    Ernst: Ja. Verantwortung ist aber mehr als soziale Sicherheit. Soziale Sicherheit bedeutet zum Beispiel aus meiner Sicht, dass er sich als Präsident aus den neuen Ländern dafür einsetzen müsste, dass wir endlich gleiche Renten in Ost und West haben. Nach wie vor sind ja dort die Lebensleistungen von Bürgerinnen und Bürgern aus der ehemaligen DDR schlechter beurteilt, schlechter bewertet als die aus dem Westen. Und ich denke, das wäre zum Beispiel so ein Punkt, für den er sich konkret einsetzen könnte und engagieren könnte. Sonst bleibt der Freiheitsbegriff ein Freiheitsbegriff, der bei uns in der Bundesrepublik eine Grundlage, eine gesellschaftliche Grundlage ist, aber ausgefüllt werden muss durch die Frage: Wie geht es den Menschen wirklich? Und das ist das, was meine Kollegin Gesine Lötzsch kritisiert hat, dass er zu diesen Fragen sich nicht äußert.

    Heckmann: Sie sagen, Ihnen fehlt das Thema der sozialen Gerechtigkeit bei ihm. Man hat aber doch den Eindruck, dass Sie gegen Gauck gewesen sind, vor allem, weil er Chef der Stasi-Unterlagenbehörde gewesen ist.

    Ernst: Also da kann ich Ihnen nun sagen, das ist wirklich Quatsch. Wir haben ja nun auch Herrn Gauck eingeladen in unsere Fraktion, haben ihn gebeten, dort Stellung zu beziehen. Übrigens alle anderen Parteien haben unsere Kandidatin nicht eingeladen, das halte ich für sehr bedenklich und bedauerlich. Und bei dieser Debatte bei uns in der Fraktion ist noch mal zum Ausdruck gekommen, dass er Freiheit vor allen Dingen als Freiheit der Wirtschaft sieht.

    Also ich sage mal bewusst jetzt polemisch: Freiheit, die Menschen auch zu Niedriglöhnen beschäftigen zu können, Freiheit auch der Banken, abzocken zu können, Freiheit, eine Ökonomie zu praktizieren, die als Raubtierkapitalismus inzwischen oft geschmäht wird, und das zu Recht. Und ich denke, da ist der Widerspruch zu Herrn Gauck, und das hat mit der Stasi-Unterlagenbehörde überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil: Ich kann Ihnen sagen, ich persönlich – und das ist mit Sicherheit die Mehrheit auch in meiner Partei -, wir sind froh, dass diese Dinge, die mit Stasi zu tun hatten, aufgearbeitet wurden und aufgearbeitet werden.

    Heckmann: Joachim Gauck hat gestern in seiner kurzen Rede gesagt, er werde sich auf neue Themen, Probleme und Personen einlassen. Damit war möglicherweise auch das Thema soziale Gerechtigkeit implizit gemeint. Denken Sie, dass ihm das gelingt?

    Ernst: Da muss er sich wahrscheinlich sehr anstrengen. Ich hoffe, dass es ihm gelingt, weil er ja nun einmal Bundespräsident ist. Da gibt es ja nichts daran zu rütteln. Das Problem ist, dass er momentan ostdeutsche Biographien aus meiner Sicht ein wenig zu sehr auf Eingesperrtsein und Stacheldraht reduziert und dass es eben auch in der ostdeutschen Biographie Leute gibt, die dort ihre Lebensleistung entsprechend erbracht haben, und die wollen auch gewürdigt werden.

    Heckmann: Aber dies stellt er doch gar nicht in Abrede.

    Ernst: Ja, aber indem er immer eine Seite herausstellt und die andere damit vernachlässigt, erweckt er den Eindruck, als wäre das sein einziges Thema, als wäre sein einziges Thema tatsächlich die Freiheits- und Widerstandsbewegung in der ehemaligen DDR. Heute haben wir andere Freiheitsbewegungen, andere Widerstandsbewegungen. Ich denke zum Beispiel an die Occupy-Bewegung, die sich dagegen wendet, dass die Banken eben langsam die demokratischen Strukturen überlagern und deren Interessen. Oder ich denke daran, dass wir eine Bewegung haben für einen vernünftigen sozialen Ausgleich in unserem Lande. Da hat er Defizite und Ihre Frage bezog sich darauf, ob ich glaube, dass er sich dieser Defizite annehmen kann. Da möchte ich darauf antworten, ich würde es mir wünschen, aber es wird ihm wahrscheinlich nicht leicht fallen aufgrund seiner eigenen Fixiertheit auf ein Thema.

    Heckmann: Herr Ernst, in Nordrhein-Westfalen stehen jetzt die überraschenden Neuwahlen an. Die Linke muss laut Meinungsumfragen um den Einzug in den Landtag in Düsseldorf bangen. Sollte sie scheitern, wie heftig wären die Konsequenzen für Die Linke insgesamt?

    Ernst: Jetzt wollen wir erst mal Wahlkampf machen und dann überlegen wir uns, ob wir scheitern, wenn es so weit ist. Wir haben Themen in diesem Wahlkampf, wo wir uns deutlich auch von den Sozialdemokraten unterscheiden und die auch dazu geführt haben, dass letztendlich wir diesem Haushalt ja nicht zustimmen konnten, den Einzelplänen. Diese Themen sind zum Beispiel, dass wir mehr Geld für die Kommunen brauchen, und wir brauchen auch mehr Geld für Kindertagesstätten. Wir brauchen Geld für ein Sozialticket in Nordrhein-Westfalen. Das sind alles Themen, wo die Sozialdemokraten schlichtweg gesagt haben, nein, das wollen wir nicht. Auch wir wollen sparen, aber sparen heißt auch, dass man sich darum kümmert, dass man genug Einnahmen hat. Während die Sozialdemokraten und die Grünen sparen wollen zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger, sagen wir, wir wollen die Einnahmenseite stärken, wir brauchen mehr Geld von denen, die bisher abgezockt haben. Das sind die besonders Vermögenden und die Banken.

    Heckmann: Der Bundesvorsitzende der Linken, Klaus Ernst, war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Ernst, danke Ihnen und schönen Tag!

    Ernst: Ich bedanke mich auch und auch für Sie einen schönen Tag. Tschüss!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.