Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Gedanken in der Pandemie
Über Wünsche nach Freiraum und Nähe

Im Lockdown, im Gefängnis, in Unterkünften für Geflüchtete: Der Wunsch nach Freiheit und menschlicher Nähe ist allgegenwärtig – aber unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen. Hanna Engelmeier schaut auf Begegnungen mit dem Selbst, die Suche nach Halt und die Verpflichtung, anderen zu helfen.

Von Hanna Engelmeier | 03.10.2021
Der Schatten eines Mannes in verzweifelter Haltung wird an eine weiße Wand geworfen, aufgenommen am 01.02.2015 in Dresden (Sachsen)
Wann wird ein Zimmer zur Zelle, wann eine Zelle zur Folterkammer? (Thomas Eisenhuth/dpa)
Seit 1958 ist Klara von Assisi die Schutzheilige des Fernsehens. Ihre seherische Begabung veranlasste Papst Pius X. dazu, der Patronin der Wäscherinnen, Stickerinnen, Glasmaler und Vergolder mit der Television einen weiteren Bereich zuzuweisen, in dem sie besonderen Schutz gewähren sollte. Bei der Ausübung dieser Tätigkeit wurde sie meines Wissens nach bislang noch nicht abgebildet, an anderen Darstellungen der Heiligen mangelt es jedoch nicht.
Hl. Klara, Sandsteinstatue beim Dompeter zu Avolsheim
Hl. Klara, Sandsteinstatue beim Dompeter zu Avolsheim (picture alliance / Uta Poss )
Eine kleine Bildtafel mit dem Titel "Die Hl. Klara rettet Schiffbrüchige" stammt ungefähr aus dem Jahr 1455 und wurde von dem Maler Giovanni di Paolo aus Siena angefertigt. Der Maler muss einen sehr zarten Pinsel verwendet haben, um das seltsam statische Meer zu schaffen, auf dessen einzelnen Wellen jeweils identische Schaumkronen tanzen. Das grünliche Wasser ist so grafisch dargestellt, dass es sich auch um kleine Grashügel handeln könnte, hinter denen am Horizont ein marienmantelblauer, gar nicht mal so unfreundlicher Himmel aufsteigt.
Aber es hat gestürmt. Das Segel des Bootes, das den größten Teil des Bildes einnimmt, weht zerrissen im Wind, einen Teil trägt der Sturm bereits davon und der Mast ist entzweigebrochen. Voller Furcht ducken sich die Schiffbrüchigen in ihr Boot. Die Rettung kommt schnell: Die Heilige Klara schwebt über dem Meer und hat die Takelage des Bootes ergriffen. Sie trägt die Tracht einer Ordensfrau, denn immerhin war sie Äbtissin der Armen Frauen von Damiano. Sie sendet drei Lichter aus:
"Eines stellte sich an den Bug des Schiffes, eines an das Heck und das dritte schloss die Öffnung im Kiel, durch das das Wasser hereinströmte."
Um sicherzustellen, dass unübersehbar ist, wie Klara ihrem Namen "die Leuchtende" alle Ehre macht, hat di Paolo sie auf seinem Bild mit vielen goldenen Strahlen versehen, die aus Klaras Leib schießen, zudem bekränzt ein Heiligenschein ihren Kopf. Das Blattgold dieser Aura ist bereits etwas brüchig.
Das Bild befand sich bis 1940 im Nachlass des jüdischen Unternehmers Harry Fuld. Seine Erben mussten in den 1930er-Jahren vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten fliehen. Über einen Kunsthändler wurde die Predellentafel an die Berliner Gemäldegalerie verkauft, wo ich sie im Jahr 2005 bei der Ausstellung "Geschichten auf Gold" das erste Mal sah, gerührt und begeistert von den winzigen Details dieser fantastischen Darstellung der wundersamen Kräfte einer einzigen Frau. Im Jahr 2019 wurde die Arbeit restituiert, ist aber weiterhin in der Gemäldegalerie zu sehen.

Typologie des Wartens von Karl-Markus Gauß

Nachdem im März 2020 alle Institutionen, alle Cafés, alle Orte des sogenannten öffentlichen Lebens schließen mussten, saß ich wie alle anderen zu Hause und fühlte mich ausgeliefert an eine Einschränkung, die ich nicht kannte, und hatte auf einmal den Wunsch, alle kulturellen Einrichtungen Berlins gleichzeitig zu besuchen, auch, wenn ich sie sonst nur aus der Ferne liebe und seltener besuche als andere, in entfernten Städten gelegene. Durch die nun ihrerseits schon ikonisch gewordenen leeren Straßen fuhr ich zum Potsdamer Platz, studierte die Fassaden der Staatsbibliothek, der Philharmonie und der Gemäldegalerie, mit dem festen Vorhaben, gleich nach ihrer Wiedereröffnung den Eingang zu erstürmen, um beispielsweise die Heilige Klara zu besuchen. Ich würde die rätselhaften Wellen bewundern und Klaras sibyllinisches Lächeln betrachten, mit dem sie in aller Ruhe das Schiff aus dem Sturm zu führen scheint: "Ich bin ja da." Seit den mehrfachen Wiedereröffnungen der Museen bin ich kein einziges Mal dort gewesen.
Der österreichische Autor Karl-Markus Gauß veröffentlichte im Jahr 2019 einen eigentümlichen Reisebericht: Ohne sein Haus, ja eigentlich sein Arbeitszimmer zu verlassen, durchmaß er die ganze Welt – so, wie sie sich ihm bislang in Büchern und Bildern gezeigt hatte. Das Haus, in dem das Zimmer liegt, von dem aus er seine Reise antrat, beschreibt er selbst als Schiff, den Raum, in dem er sich befindet, als Oberdeck. Von dort aus gibt er sich selbst den Befehl zum Lichten des Ankers, der den Beginn einer Reise markiert, deren Hauptbewegung in der seiner Augen besteht, die jedes Detail des beinah allzu vertrauten Zimmers abtasten. Dabei ist kein Gegenstand in seinem Raum davor sicher, Anlass für lange Assoziationsketten und Abschweifungen zu werden. Unter anderem enthält Gauß' "Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer" einen "Exkurs über das Warten"; immerhin sind Zeiten, in denen man das eigene Zimmer nicht verlassen kann, obwohl man es verlassen will, solche, in denen man nichts sehnlicher erwartet, als von einem Zustand in den anderen überzugehen: von der körperlichen Stasis in die Bewegung, von der Wiederholung des Anblicks des immer Gleichen in den der reizvollen Überraschung.

Gauß entwirft eine Typologie des Wartens, an deren Ende er über eine populäre Verarbeitung der Erfahrung des Wartens schreibt, gewissermaßen die Eschatologie nach Lale Andersen. Gauß schreibt:
"Und, nicht zu vergessen, nicht zu unterschätzen: die Schlager des Wartens. Ein Schiff wird kommen. So prägnant weiß es kein Philosoph zu sagen: dass der wartende Mensch auf etwas bezogen ist, das eintreten muss, um sein Warten nachträglich zu rechtfertigen, diesem die Richtung zu weisen."
Karl-Markus Gauß: "Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer"
Karl-Markus Gauß: „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ (imageBROKER; Carl Hanser)
Lale Andersen singt: "Ich bin ein Mädchen aus Piräus und liebe den Hafen, die Schiffe und das Meer. Ich lieb' das Lachen der Matrosen, ich lieb' jeden Kuss, der nach Salz schmeckt und nach Teer."
"Ein Schiff wird kommen" ist einer der typischen Sehnsuchtsschlager der Nachkriegszeit: Lale Andersen war 50 Jahre alt, als sie das Lied über das "Mädchen aus Piräus" einsang, das auf einen Mann wartet, der sie heiraten wird. Da das Jahr der Einspielung 1960 war und "das Mädchen" eine Prostituierte, handelte dieses Warten vor allem von der unerfüllten und potenziell unerfüllbaren Hoffnung, durch äußere Ereignisse ehrbar gemacht zu werden.
Wie heimtückisch, dachte ich, das Schiff als trojanisches Pferd in einem Schlager einzusetzen, dessen Inhalt eigentlich lautet: Es gibt keine Erlösung, ihr Frauen, die ihr so wartet. Geht besser weiter eurem Beruf nach. Sollte Lale Andersen das vermitteln? Wohl kaum.

Einsamkeit als Kulturtechnik

Ich schlich um das Berliner Kulturforum in der Gewissheit, nur eine Weile lang warten zu müssen, bis ich wieder diejenigen Umgebungen, Räume, Kunstwerke würde sehen können, die mir zuvor nicht gefehlt hatten, nur eine kleine Anstrengung noch, bis ich wieder in die Gewohnheiten meines Prä-Corona-Lebens zurückkehren könnte. Mit Geduld und Disziplin, gemeinschaftlich ausgeübt, würde es möglich sein, diese Zeit des Wartens in der Zukunft als eine zu beschreiben, in der man sich von den Erinnerungen an vergangene Freuden genährt und diese in nur leichter Variation in die Fantasie einer wieder schön gewordenen Zukunft übersetzt hatte. Ich blieb zu Hause. Ich las viel. Dazu lag ich im Bett, das in mein acht Quadratmeter großes Schlafzimmer gepfercht war, der Rahmen berührte an beiden Längsseiten die Wände. Wie ein einsames Floß auf dem kleinsten Meer der Welt, so schien es mir insbesondere in den ersten Pandemietagen. Ich müsste mir nur die richtige Technik angewöhnen, so dachte ich, dann wäre mit dem Abstand von allem und von allen schon umzugehen.
Immerhin hatte ich Kulturwissenschaft studiert. Einsamkeit galt dort sogar als Kulturtechnik. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho schreibt:
"Wer nicht einfach bloß von allen Menschen verlassen wird (was gewöhnlich zum Tod führt), sondern seine ‚Verlassenheit‘ überlebt, bewältigt und gestaltet, inszeniert irgendeine Art von Beziehung zu sich selbst. Indem er seine Einsamkeit perzipiert, ohne verrückt zu werden, spaltet er sich zumindest in zwei Gestalten auf: als ein Wesen, das mit sich allein – und daher eigentlich ‚zu zweit‘ – ist."
Das klang gut, genau so wollte ich es machen.
Es ist wohl auch die einzige Chance, die man hat, mit sich allein in einem Zimmer, allein mit mehr oder weniger guten Einfällen dazu.

Dualismus von Leib und Seele

Karl-Markus Gauß hat sich bei seiner Safari durch das Arbeitszimmer seiner Salzburger Wohnung an einem anderen Autor orientiert, der schon 1794 den Bericht einer "Reise um mein Zimmer" veröffentlichte. Einen ermutigenden Aufruf an alle Stubenhockerinnen und Stubenhocker stellt Xavier de Maistre ganz an den Anfang:
"Also mutig vorwärts! – Begleiten Sie mich, Sie alle, die eine gekränkte Liebe, eine laue Freundschaft, fern von der Niederträchtigkeit und Falschheit der Menschen, an ihre Wohnung fesselt. Alle Unglücklichen, Kranken und Langweiler der Welt seien in meinem Gefolge! – Sämtliche Faulenzer mögen sich erheben!"
Sie alle lädt er ein, mit ihm im Zimmer auf und ab zu gehen, oder sogar das zu unterlassen. Denn er selbst schwärmt ganz besonders von seinem Bett, in dessen "wohliger Wärme" er zu meditieren liebte. In den Farben rosa und weiß gehalten repräsentiert es für ihn Morgenröte und Frische und damit seine eigene Jugend – de Maistre war selbst erst 29 Jahre alt, als er während eines unerlaubten Duells zu 42 Tagen Stubenarrest verurteilt wurde, den er in seiner Wohnung in Turin verbrachte.
Mit der Selbstgewissheit eines ambitionierten Nachwuchsphilosophen ergeht er sich in seinem Reisebericht auch in metaphysischen Betrachtungen. Immer wieder kehrt er zu seinem Dualismus von Leib und Seele zurück; während letztere so heißen darf, nennt er seinen Leib nur "das Tier":
"Für gewöhnlich übertrage ich meinem Tier die Zubereitung meines Frühstücks; es röstet mein Brot und schneidet es in Scheiben. Es kocht ausgezeichneten Kaffee und trinkt ihn sogar sehr oft, ohne daß sich meine Seele darum kümmert […]."
So kann man's natürlich aushalten.
Ich würde, so dachte ich, also nur genug Zeit damit verbringen müssen, mein Tier so gut abzurichten, dass es sich gut mit sich selbst beschäftigen könnte, damit ich mit mir, also meiner Seele, allein dazu in der Lage wäre, die Reise um mein Zimmer zu bestehen. Eigentlich war ich, wenn ich so nachzähle, ja also nicht nur zu zweit, wie Thomas Macho behauptet hatte, sondern in einer Zählweise, die auch Maistres Tier anerkannte, sogar zu dritt. Gibt es nicht auch die psychotherapeutische Rede vom ‚inneren Team‘, das aus lauter Mitgliedern besteht, die alle eine eigene Aufgabe der Selbstfürsorge haben?

Macho in seinen Überlegungen zur Einsamkeit als Kulturtechnik:
"Zivilisierung ist Kultivierung der ‚Einsamkeitsfähigkeit‘. Diese Einsamkeitsfähigkeit – als selbsttechnische Kompetenz – korreliert den jeweiligen Standards der Kommunikationstechnologie. Überspitzt gesagt: Schreibe deinem Nächsten wie dir selbst. Psychotechniken (‚Meditationen‘ in buchstäblicher Bedeutung) sind Medientechniken (und umgekehrt)."
Der Kulturhistoriker Thomas Macho am blauen Sofa  auf der Frankfurter Buchmesse 2017.
Der Kulturhistoriker Thomas Macho am blauen Sofa auf der Frankfurter Buchmesse 2017. (Imago / Manfred Segerer)

Sehnsucht nach vollen Clubs und Urlaub

Die Medientechniken der Corona-Zeit waren in der Zeit der größten Abschottung von anderen Menschen auch Mnemotechniken. Wie war das nochmal, zwischen anderen zu stehen, dicht gedrängt sogar, freiwillig und im Glück und nicht eingezwängt in der Enge einer U-Bahn?
Seit März 2020 fuhr ich nicht mehr mit Fernzügen und in U-Bahnen nur im Notfall, auf einmal war ich zu einer Autofahrerin geworden. Nach fast zwei Jahrzehnten voller kindischem Stolz auf den Verzicht auf einen sogenannten PKW, der bisweilen meine persönliche Leistung mit einer ausgebauten ÖPNV-Infrastruktur verwechselte, saß ich nun also auch in einer ausgeliehenen Blechdose am Steuer.
Auf einer längeren Fahrt im Winter diesen Jahres spielte mir mein Beifahrer auf der A2 kurz hinter Hannover den Track "Urlaub in Italien" des Entertainers Erobique vor, es war gerade dunkel geworden und Gewerbegebiete sausten im Rückspiegel vorbei, im Auto war es stickig und warm, bald würde ich müde werden und musste doch weiter fahren. Die Aufnahme ist ein Livemitschnitt eines Clubkonzerts, es fängt die Geräusche einer vollgepackten Tanzfläche auf unaufdringliche Weise ein. Auf die Aufforderung hin, die Frauen im Publikum mögen doch bitte lauter singen, hört man nur einen in dem Moment entstehenden Chor aus Frauenstimmen, danach singen alle wieder zusammen die überaus einfachen Zeilen, aus denen das Lied besteht:
"Urlaub, im Urlaub in Italien, mit den Eltern, '86"
Dazu gehörte doch wahrscheinlich auch eine lange Autofahrt, mit einem als Sonnenschutz in der Scheibe hinten eingeklemmten Geschirrtuch, das der Wind sofort herausreißt, wenn man sie unvorsichtig herunterkurbelt. Kein Schatten auf dem Rastplatz. Die wenigen Kubikmeter des Autoinnenraums, innerhalb derer wir diesen Winter über die A2 schüsselten, schienen auf einmal ein Vorgeschmack darauf zu sein, irgendwann wieder diese Art von großer Fahrt antreten zu können.
Ein Video der Liveaufnahme, die wir gehört hatten, zeigt ein Neujahrskonzert im Festsaal Kreuzberg. Erobique steht wippend vor verschiedenen Keyboards und Mischpulten. Seine selbstgedrehte Zigarette ist schon halb aufgeraucht und eher zerfleddert. Er schwitzt, es ist voll und das Konzert läuft anscheinend schon eine Weile. Die Musik ist elektronisch, biedert sich aber nostalgisch durch Synthiesounds an, die man hörte, als Clubs noch Disco hießen. Die Gäste, die in dieser Epoche entweder selbst so gerade noch Kinder waren oder sie als die Zeit kennen, in der sich ihre Eltern kennenlernten, sind im Glück: Kindergeburtstag, aber dieses Mal nach 18 Uhr und mit Drogen. Im Hintergrund wehen silberfarbene Heliumballons, die die Jahreszahl 2018 formen, sanft in der Luft. An der Schlichtheit der Verse des Songs kann ich mich nicht sattfreuen. Über diese Ferien wird nicht mehr berichtet, als dass sie stattfanden, sie haben nur einen historischen Index und das ist Geschichte genug.
Das gilt auch für den Satz: Der Club ist voll. Was für eine gute Idee, eine ausgelassene Party mitzuschneiden, solange sie noch läuft.
Erobique: "Zwischen dem 8. und 14. Juli 1974, so ehrlich muss ich immerhin zu euch sein"

Wenn ich es dem Medium – Twitter - richtig entnehme, aus dem ich die meisten Informationen über Tagesgeschehen und halbwegs private, manchmal intime Befindlichkeiten mir unbekannter Menschen erhalte, gehören Urlaub in Italien und volle Clubs zu den Dingen, die Menschen, die mit ihren Eltern 1986 oder "am 14. Juli 1974" verreisten, am meisten fehlen. Solche Bekenntnisse werden in vielen Fällen mit der Einordnung als "Luxusproblem" oder "first world problem" versehen, also als nicht wirklich solide Probleme. Eine globale Pandemie hat nun für jede und jeden ausreichend Möglichkeiten geschaffen, wirklich solide Probleme näher kennenzulernen. Neben die Erkenntnis, dass enorme Privilegiertheit der eigenen Lage nicht mehr zu verleugnen ist, tritt jedoch zugleich jene, dass der Wunsch nach Urlaub in Italien hartnäckig bleibt.
Arbeitnehmerinnen-Eskapismus ist passé, kein Hildegard-Knefsches "Ich möchte im Juli das Mittelmeer pachten".
Kein Schiff wird kommen.
Hildegard Knef singt: "Ich möchte im Juli das Mittelmeer pachten / und von meiner Yacht die Küste verachten"
Musiker und Komponist Carsten Meyer - besser bekannt als Erobique - zwischen zwei seiner Vorbilder: Hans Rosenthal und Horst Jankowski.
Musiker und Komponist Carsten Meyer - besser bekannt als Erobique - zwischen zwei seiner Vorbilder: Hans Rosenthal und Horst Jankowski. (Deutschlandradio - Andreas Buron)

Gesellschaftliche und kulturelle Ordnungsmuster im Kleinen

"Ich könnte mein ganzes Leben lang reisen und dabei immer in Hotels schlafen und in Restaurants speisen", schreibt der niederländische Autor Maarten Biesheuvel zu Beginn seiner Erzählung "Reise durch mein Zimmer" aus dem Jahr 1984.v"Ich könnte Tausenden mir noch unbekannten Menschen die Hand schütteln und sagen: ‚Guten Tag, hier bin ich, Maarten Biesheuvel‘ […]. Das alles steht mir frei und ich frage mich, warum ich's denn nicht tatsächlich in die Tat umsetze."
Der Grund dafür war in seinem Fall, dass er an schweren Depressionen litt. Teil der Erzählung ist ein Abschnitt, der davon berichtet, wie seine Frau und eine Freundin beratschlagen, wie sie ihn von seinen suizidalen Gedanken abhalten könnten, die massiv dadurch gefördert wurden, dass er gerade Flauberts "Erziehung der Gefühle" gelesen hatte und zusätzlich zu allem anderen unter dem Gefühl litt, niemals ein vergleichbar gutes Buch schreiben zu können.
Grafik zeigt Silhouette eines Menschen, in dessen Gehirn ein Knoten sitzt
Warum eine Depression nichts mit schlechter Laune zu tun hat
Rund fünf Millionen Erwachsene in Deutschland haben Depressionen. Sie sind nicht einfach schlecht drauf, sondern psychisch krank. Ratschläge wie "Reiß Dich zusammen" oder "Denke positiv" sind fehl am Platz – professionelle Hilfe und ein empathisches Umfeld dagegen umso wichtiger. Ein Überblick.
Vielleicht hätte es Biesheuvel geholfen zu wissen, dass "Reise durch mein Zimmer", die im März 2020 als titelgebende Erzählung zusammen mit drei weiteren Geschichten neu erschienen ist, unter Corona-Bedingungen zum Buch der Stunde avancieren konnte. Aber seine Erzählung erschien 1986 auf Deutsch zunächst "sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit" (Ulrich Faure), wie im aktuellen Nachwort steht. Für einen Autor oder eine Autorin kann das, selbst wenn man sich freiwillig aus der Welt zurückgezogen hat, kein wünschenswerter Zustand sein: Warum überhaupt schreiben, wenn man nicht, unter Einhaltung räumlicher und zeitlicher Distanz, Nähe zu anderen suchen will?
Wie schon die Reiseberichte von de Maistre und Gauß ist Biesheuvels Tour voll frischem Mut angesichts des "reisenden Stillstandes" in der häuslichen Umgebung:
"Was spielt es denn für eine Rolle, wie groß das Universum ist, wenn mein Zimmer so interessant für mich ist?"
Biesheuvel bereist die unterschiedlichen Territorien seines Arbeitsraumes wie einen ganzen Kontinent; da ist der Schreibtisch mit der kleinen Hundefigur, die er einmal während eines Besuchs bei einem Freund erhielt, hier die Uhr, die ihm sein Vater schenkte, zu vernachlässigen der Trockenblumenstrauß auf dem Tisch, aber vor dem Bücherregal steht der alte Lehnsessel der Mutter.
Der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler hat die vielen Texte untersucht, die in der Folge von de Maistre erschienen und Zimmer- oder, wie die Schriftstellerin Sophie von La Roche, Schreibtischreisen unternahmen. Gemeinsam sei ihnen allen, dass diese Reiseberichte ähnlich wie Robinsonaden in dem eng begrenzten Raum eines Zimmers oder einer Insel gesellschaftliche und kulturelle Ordnungsmuster im Kleinen handhabbar werden lassen. Verhandelt werden dabei immer wieder die Verhältnisse zwischen Mikrosystemen, die im Zimmer vor allem durch den menschlichen Körper repräsentiert werden, und den Makrosystemen, die der Raum symbolisiert. Zugleich wird es für diejenigen, die allein ihr Zimmer bereisen, ebenso möglich, ihren eigenen Körper als Raum neu zu verstehen – die Frage danach, was sich denn in seinem Inneren nun eigentlich täte, hatte ja auch de Maistre beantwortet, indem er seinen Tier‑Seele-Dualismus entwarf.

Vorteile des Wechsels von Eremitendasein und Sozialleben

Entwirft man seinen Seelenraum oder sein Zimmer jedoch als ganze Welt (welchen Begriff von Welt man auch immer ansetzt), wird es wohl unmöglich sein, nicht auch den Kontrollverlust einzurechnen, ohne den keine Welt zu haben ist. Es ist eine Binse, dass in der Welt zu sein heißt, sich dem Zufall auszuliefern, und sie gilt nur dann nicht, wenn das Modell von Welt, das man wählt, das einer ganz fiktiven, von einem selbst eingerichteten ist.
Biesheuvel bleibt durch die Verbundenheit zu den Gegenständen seines Zimmers an die Welt gebunden, er kommt ihr nicht abhanden. Die scheinbare Nähe eines nur einen Handgriff oder wenige Meter in dem zwölf Quadratmeter großem Raum entfernten Gegenstandes sichert dabei die ständige Präsenz der Ferne im Raum: Jeder Gegenstand bringt schließlich seine eigene Geschichte mit, die über diesen Raum und das Jetzt hinausführt.
Die Einbunkerung in die eigenen Erinnerungen und Befindlichkeiten ist eine gute Selbstverteidigung, so lange man die Wahl hat, sie jederzeit zu unterbrechen und unter den Augen einer anonymen Öffentlichkeit wieder anders privat zu sein. Der Aristokrat de Maistre schrieb in der "Reise um mein Zimmer", dass der Vorteil des Wechsels aus Eremitendasein und "socialising" sei, dass sich dadurch "die Nachteile des gesellschaftlichen Lebens und diejenigen der Einsamkeit gegenseitig auf[heben], und diese beiden Existenzformen werden eine durch die andere schöner."
Vorausgesetzt, man hat ein eigenes Zimmer.

Wann ist ein Zimmer eine Zelle, wann eine Zelle eine Folterkammer?

Die "London Review of Books" brachte in ihrer Ausgabe vom 4. März in der Rubrik "Short Cuts" einen Artikel von Frances Webber, die Menschenrechtsanwältin und Vizevorsitzende des Institute for Race Relations in London ist. Sie berichtet von der Unterbringung Geflüchteter in Großbritannien seit März 2021. In den Napier-Baracken in Folkestone, Grafschaft Kent, schliefen Geflüchtete in Achtundzwanzigbettzimmern, erhielten verschimmeltes Essen, seien auf verdreckte Sanitäranlagen angewiesen, Suizid und Gewaltausbrüche in den Webber bekannten ‚Einrichtungen‘ seien normal. Sie schreibt über einen Geflüchteten namens Adnan Elbi, der seiner Internierung dort durch Selbsttötung ein Ende setzte:
Elbi "[…] wurde in Libyen gefoltert, sein Vater war vom IS erschossen worden, seine Mutter befand sich schwerkrank in Syrien, sein Bruder war gekidnappt, seine Frau konnte ihm nicht nach Großbritannien folgen."
In denjenigen Einrichtungen, in denen es Ausbrüche von Infektionen mit dem Coronavirus gegeben hat, erkrankten zu Beginn der Pandemie und vor Einführung einer Impfung gegen Corona innerhalb kürzester Zeit mehr als die Hälfte der internierten Geflüchteten.
Flüchtlingsunterkunft auf der griechischen Insel Lesbos am 21. März 2021
Historiker: Flüchtlinge haben dauerhaft keine nachhaltige Lobby
Der Konflikt zwischen denen, die vermeintlich sesshaft sind, und denen, die erzwungenermaßen ihre Heimat verlassen müssen, beschäftigt uns seit der Bibel, sagte der Historiker Andreas Kossert im Dlf. Flüchtlinge müssten endlich als "Subjekte der Geschichte" ernstgenommen werden.
Wie sah es denn zeitgleich hier bei uns aus? Der Bayerische Flüchtlingsrat berichtete im Oktober 2020 aus einer Unterkunft in Weiden, in der sich drei Geflüchtete weigerten, weitere Personen in ihrem Zimmer wohnen zu lassen, die aus einem sogenannten ANKER-Zentrum in Bamberg dorthin gebracht worden waren. Sie fürchteten, noch stärker dem Risiko einer Coronainfektion ausgesetzt zu sein als zuvor. In der Meldung des Flüchtlingsrats heißt es:
"Um der Situation Herr zu werden, rief die Unterkunftsleitung die Polizei. Diese rückte dann auch in voller Montur an. Die Person, welche zu einem früheren Zeitpunkt positiv auf Corona getestet worden war, geriet durch den Einsatz in Panik. Die Polizei fixierte den Betroffenen – wie Videoaufnahmen zeigen, stellten sie den Mann mit Medikamenten ruhig und nahmen ihn anschließend in Gewahrsam. Zwei Tage später wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, in dem er durch die von der Polizei verursachten Verletzungen behandelt werden musste. In die Unterkunft durfte er nicht zurückkehren. Sein momentaner Aufenthaltsort ist unbekannt. Eine Anklage wurde ihm in Aussicht gestellt. In der Unterkunft bewohnen jeweils drei bis vier Personen ein Zimmer. 30-40 Personen teilen sich dabei drei Toiletten, Duschen und eine Küche."
Wann hört eigentlich ein Raum auf, ein Zimmer zu sein, und wann wird ein Zimmer zur Zelle? Ab wann ist eine Zelle eine Folterkammer und müssen dazu darin Folterinstrumente vorhanden sein? Reicht es nicht vielleicht, den Eindruck zu vermitteln: Du kommst hier nicht mehr raus, so bleibt es jetzt für immer? Wann werden die Wände der berühmten inneren Zitadelle, die der letzte Schutzraum eines jeden Menschen sein soll, so stark beschädigt, dass man, egal wie man lebt, nie wieder das Gefühl von einem Dach über dem Kopf empfinden kann?

"Das Boot ist voll"

In diesem Sommer wurden in Berlin Versuche gestartet, durch umfassende Testungen auf Infektionen mit dem Coronavirus Clubbesuche wieder möglich zu machen. Beteiligt haben sich Clubs auch an Aktionen, möglichst viele Leute dazu zu bringen, an ihren Lieblingsorten geimpft zu werden. Bitter genug: Vielleicht ist die Rückkehr in einen vollen Club oder andere Freizeitsehnsuchtsorte, die Rückkehr zu all dem, was sich lange selbstverständlich anfühlte, die Voraussetzung dafür, die Berichte über die Lage der Geflüchteten in Weiden, Folkestone und überall, aushalten zu können. Das Privileg, dies nur in Gedanken tun zu müssen, bleibt Verpflichtung.
1942 erklärte der Schweizer Justizminister Eduard von Steiger, warum die Schweiz keine jüdischen Geflüchteten aus Deutschland aufnehmen werde, falls sie aus rassistischen Gründen verfolgt würden (gegen politische Geflüchtete hatte er keine Einwände):
"Wer ein schon stark besetztes Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen, wenn er nicht alle sammeln und aufnehmen kann."
Die Phrase "das Boot ist voll" - was Steiger nicht wörtlich sagte -, gehört seitdem ins Repertoire rechter Politik und Wahlwerbung. Dabei wird jedoch selten das Boot gezeigt, das keine Geflüchteten mehr aufzunehmen bereit ist, sondern immer dasjenige, auf dem dicht gedrängt Schutzsuchende stehen. Insbesondere seit den 1990er-Jahren wurden diese nicht nur auf Wahlplakaten der Partei Die Republikaner, sondern auch auf dem Cover des Wochenmagazins "Der Spiegel" und in anderen Zeitungsbeiträgen standardmäßig als anonyme, bedrohliche Masse gezeigt.
Dann ist da noch dieses andere Boot. Es kommt zum Beispiel zur Rettung jener, die evakuiert werden konnten, als im Sommer 2021 die Hänge der Insel Euböa wie viele andere Regionen am Mittelmeer lichterloh brannten. Etwa 2.000 Menschen wurden von dort auf einem Schiff ans Festland gebracht, Handyaufnahmen zeigen alte Menschen, Familien und Urlauber, viele von ihnen in Freizeitkleidung, fassungslos vor den Feuern, die die Insel zu verschlingen scheinen.
Es hätte spätestens hier klar sei können, dass die Zerstörung der Erde nicht nur die Zerstörung von schönen Urlaubsorten am Mittelmeer bedeutet. Die Eschatologie der Lale Andersen war allerdings schon immer beschädigt. Kein Schiff wird kommen, das Rettung vor noch einer anderen Art Feuer verspricht. Das gilt für alle.

"Schiffbrüchige" retten in der Gegenwart

Wir sitzen selbstverständlich dennoch nicht alle im gleichen Boot. Es gibt überhaupt kein Wir. Es gibt diejenigen, die sich in einer globalen Pandemie nach dem Besuch der Heiligen Klara sehnen, die sie kurzerhand aus ihren Problemen ausfliegt, und es gibt diejenigen, die keine Gelegenheit mehr haben, um ein Wunder zu beten, zum Beispiel, weil sie auf ihrer Flucht bereits gestorben sind.
Eine Gruppe Geflüchteter geht durch einen Wald im Plješevica-Gebirge. Sie wollen versuchen, illegal die Grenze zu Kroation zu überqueren. 
Wie Flüchtlinge zum Sicherheitsrisiko gemacht werden
Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union setzt in erster Linie auf Abschreckung und schnelle Abschiebung. Der Umgang mit Asylsuchenden ist über Jahre von einer humanitären Aufgabe zu einer Frage der inneren Sicherheit gemacht geworden – mit schwerwiegenden Konsequenzen.
In einer der wenigen Quellen, die die Szene beschreibt, die Giovanni di Paolo auf "Die Hl. Klara rettet Schiffbrüchige" dargestellt hat, heißt es, dass die in Seenot Geratenen in ihren Gebeten um Hilfe versprachen:
"Wenn [Klara] sie aus der schrecklichen Gefahr befreie, [würden sie] barfuß, im Büßergewand und mit einem Pfund Wachs in der Hand von Pisa zu Klaras Kirche […] pilgern."
Durch ihre visionäre Begabung konnte Klara das Flehen der Schiffbrüchigen erhören und vermutlich durch Beten und einen besonderen Draht zu göttlicher Macht deren Rettung herbeiführen.
Wie kann diese Szene für die Gegenwart übersetzt werden? Auf einer Pilgerreise nach Assisi mit einem Pfund Wachs im Gepäck um eine Antwort zu bitten, wäre immerhin ein schöner Urlaub in Italien. Aber solange man einen sicheren Raum als Rückzugsort, als Reiseabteil, als Arbeitszimmer für sich hat, könnte man genauso gut überlegen, wie sich die Taten der Klara von Assisi am besten in Handlungen in der Gegenwart übersetzen lassen. Und zwar von einem selbst und ganz ohne dass es davon ein Bild im Museum oder andernorts gibt.