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Gefährliche Viren
Impfungen mit Schlupfloch

Wer geimpft ist, wird zwar nicht krank, kann aber unter Umständen immer noch als Überträger eines Virus auftreten. Ob Impfstoffe damit sogar die Entwicklung besonders aggressiver Viren fördern, wird seit Jahren heiß diskutiert. Ein Forscherteam hat nun in einem Experiment bestätigt, dass diese Annahme mehr ist als nur eine Theorie.

Von Lucian Haas | 28.07.2015
    Ein afrikanischer Arzt in Schutzanzug verabreicht einem anderen Mann eine Spritze.
    Ein Freiwilliger bekommt in Mali eine Impfung mit einem Ebola-Impfstoff. (picture alliance / dpa / Alex Duval Smith)
    Bei Impfungen gegen typische Kinderkrankheiten wie Polio, Röteln oder Masern haben die Krankheitserreger einen schlechten Stand. Wer geimpft ist, erlangt volle Immunität und kann damit auch nicht mehr als Wirt für die Verbreitung der Viren dienen. Doch nicht alle Impfstoffe haben eine so durchgreifende Wirkung. Manche bieten den Pathogenen ein Schlupfloch. "Leaky vaccines" nennt sie der Infektionsforscher Andrew Read von der Pennsylvania State University.
    "Als 'leaky vaccine' bezeichnen wir Impfstoffe, die zwar Leben retten, indem sie verhindern, dass ein Wirt selbst krank wird. Aber der Immunschutz reicht nicht aus, um zu verhüten, dass der Wirt den Virus noch an andere weitergibt und sie infiziert."
    Theoretisch ist es denkbar, dass solche unvollkommenen Impfungen die Entwicklung aggressiverer Virusformen fördern könnten, als sie in einer Welt ohne Impfstoffe möglich wären. Der Grund: Je schneller Viren ihren Wirt töten, desto geringer sind die Chancen der Erreger, sich erfolgreich zu verbreiten. Überleben aber die Wirte dank eines Impfstoffes, bleibt auch sehr aggressiven Viren ihre Vermehrungsgrundlage erhalten. Das ist das Risiko des Einsatzes von "leaky vaccines". Derlei unvollkommene Impfstoffe werden vor allem in der Landwirtschaft verwendet, in Asien beispielsweise als Schutz von Geflügel vor der Vogelgrippe.
    "Bei einem Impfstoff ohne Schlupfloch kann die Evolution nicht greifen und wir müssen uns darüber keine Sorgen machen. Bietet eine Impfung aber keinen Komplettschutz, geht die Evolution der Viren weiter. Und dann müssen wir wirklich darauf achten, wohin diese Entwicklung geht."
    Einige Virusstämme deutlich aggressiver geworden
    Andrew Read hatte 2001 erstmals auf Basis solcher theoretischer Überlegungen die Hypothese aufgestellt, dass "leaky vaccines" als Wegbereiter für gefährlichere Pathogene dienen können. Beweise konnte er damals nicht vorlegen, weshalb diese Idee seitdem in Fachkreisen kontrovers diskutiert wird. Doch jetzt berichtet der Forscher im Fachmagazin "PLoS Biology" von einer heißen Spur: Die Marek-Krankheit ist eine Viruserkrankung bei Hühnern, die zu Lähmungen und Krebs führt.
    Seit dem ersten Auftreten der Krankheit in den 1950er-Jahren bis heute sind einige Virusstämme deutlich aggressiver geworden. Seit den 1970er-Jahren gibt es aber Impfstoffe, und heute sind fast alle großen Hühnerbestände gegen Marek geimpft. Die Krankheit ist deshalb im Zuchtalltag nicht mehr gefürchtet. Es ist aber auch bekannt, dass die Marek-Impfung keinen Komplettschutz bietet. Andrew Read hat deshalb gemeinsam mit Forschern in Großbritannien gezielt getestet, was passiert, wenn die aggressivsten bekannten Virusstämme der Marek-Krankheit auf ungeimpfte Tiere treffen.
    "Unsere Experimente haben gezeigt, dass diese Viren so heftig sind, dass sie ungeimpfte Hühner töten, bevor diese die Viren selbst weitergeben können. Im geimpften Status bleiben die Vögel am Leben, aber die Verbreitung der Viren wird nicht gestoppt. So können sie auch noch andere, ungeimpfte Tiere befallen."
    Kein Probleme, solange alle geimpft sind
    Das ist genau das, was Andrew Read vorhergesagt hatte. Und der Fall der Marek-Krankheit zeigt auch: "Leaky vaccines" sind kein Gesundheitsproblem, solange alle Hühner geimpft werden. Kann allerdings in einer Population keine nahezu hundertprozentige Impfrate garantiert werden, wie es beispielsweise beim Menschen der Fall wäre, könnten Impfungen mit Schlupfloch das Risiko für Ungeimpfte deutlich steigern. Andrew Read mahnt deshalb an, bei der Entwicklung von neuen Human-Impfstoffen besonders darauf zu achten, ob ihr Schutz ausreicht, um aggressiveren Virusformen keine Chance zu lassen.
    "Wir müssen Situationen, in denen sich bei Infektionskrankheiten des Menschen eine größere Virulenz entwickeln könnte, streng beobachten. Das betrifft zum Beispiel die Ebola-Impfstoffe, die derzeit getestet werden. Es wäre sehr wichtig zu wissen, ob sie den Viren Schlupflöcher bieten. Und sollte sich Ebola bei Menschen tatsächlich fortentwickeln, sollten wir wissen, ob das mit unvollkommenen Impfstoffen zusammenhängt. Diese Art von Szenarien müssen wir sehr gut im Auge behalten."
    Es sind weitere neue Human-Impfstoffe in der Entwicklung, etwa gegen HIV oder Malaria, von denen schon bekannt ist, dass sie in die Kategorie "leaky vaccines" fallen. Andrew Read spricht sich dennoch dafür aus, sie einzusetzen.
    "Wir müssen impfen. Wenn wir die Instrumente haben, um Leben zu retten und Leid zu verhinden, sollten wir sie einsetzen."
    Zugleich sei es wichtig, so Read, sich früh Gedanken darüber zu machen, was als Nebeneffekt von Schlupfloch-Vakzinen passieren kann – und parallel nach Methoden zu suchen, um derlei Folgen zu verhindern.