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Geflohen vor dem Holocaust
Der Horror nach dem Horror

Drei Jahre war die jüdische Familie der achtjährigen Charlotte de Grünberg vor den Nazis auf der Flucht, "immer bemüht, unsichtbar zu sein". Dass die meisten ihrer Verwandten den Holocaust nicht überlebt hatten, erfuhr die Familie erst nach Kriegsende. Für Charlottes Mutter war es kaum zu verwinden.

Von Victoria Eglau | 26.01.2019
    Charlotte de Grünberg
    Nach der Befreiung durch die Allierten erfuhr Charlotte de Grünberg, dass die Großeltern, der Onkel und andere Verwandte in Polen in den Vernichtungslagern ermordet worden waren (Deutschlandradio/Victoria Eglau )
    "Das bin ich, wenige Tage vor unserer Abreise aus Belgien nach Frankreich. Mein Vater ließ uns fotografieren – es war ein Abschiedsbild. Abschied von unserem bisherigen Leben."
    In ihrer Wohnung in Uruguays Hauptstadt Montevideo zeigt Charlotte de Grünberg auf ein Familienfoto aus dem Jahr 1941: Die Eltern, der ältere Bruder Raymond und sie selbst, ein achtjähriges blondes Mädchen. Die Familie lebte damals in Lüttich. Charlottes Eltern waren polnische Juden, sie und ihr Bruder waren in Belgien zur Welt gekommen. Im Herbst 1941, angesichts der zunehmenden Bedrohung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung, beschloss die Familie, zu fliehen. Das Ziel: Die sogenannte ‚freie Zone‘ im Süden Frankreichs, damals noch nicht von den Truppen Nazi-Deutschlands besetzt.
    "Immer bemüht, unsichtbar zu sein"
    Charlotte de Grünberg ist eine zierliche, elegante Frau, heute 86 Jahre alt. Sie erinnert sich noch gut an den Beginn der Odyssee:
    "In dem Moment, in dem wir in Lüttich in den Zug stiegen, verloren wir nicht nur unser normales Leben und unsere Freunde, sondern auch unsere Identität – denn wir mussten unter einem falschen Namen reisen. In Frankreich war unsere Familie völlig schutzlos. Wir tauchten in großen Städten und kleinen Dörfern unter – immer bemüht, unsichtbar zu sein."
    Der nicht besetzte Teil Frankreichs bot der jüdischen Familie nicht die Sicherheit, die sie sich erhofft hatte. Denn auch unter dem Vichy-Regime, das mit den Nationalsozialisten kollaborierte, mussten Juden Verhaftung und Deportation fürchten. Im November 1942 wurde dann auch der Süden Frankreichs von den Deutschen besetzt. Charlotte de Grünberg, ihr Bruder und ihre Eltern lebten unter erbärmlichen Umständen in einer Privatpension in Lyon. Die Geschwister schliefen in einem großen Kleiderschrank, den sie auch tagsüber nur selten verlassen durften. Als die Razzien der Gestapo zunahmen und immer mehr Juden aus Lyon deportiert wurden, plante die Familie die Flucht in die neutrale Schweiz. Doch fiel sie skrupellosen Schleppern in die Hände. Charlotte de Grünberg ist auch heute noch zutiefst empört:
    "Irgendwo in den Alpen haben sie uns im Stich gelassen, weit weg von der Schweizer Grenze. Das waren schreckliche Menschen, wie es sie auch heute noch gibt: Die Schlepper im Mittelmeer, die Flüchtlinge belügen, betrügen und ausrauben – genau wie uns damals."
    Nicht nur setzten die Schlepper Charlottes Familie und vierzehn andere jüdische Flüchtlinge weit entfernt von der Grenze aus – es war auch ein von den Nazis kontrolliertes Gebiet. In dieser völlig ausweglos erscheinenden Situation half der Gruppe ein katholischer Priester.
    Gerettet von "einem wirklichen Menschen"
    "Der Pfarrer der Kirche im nächstgelegenen Dorf hat uns alle für mehrere Tage in einer Scheune versteckt und mit Essen versorgt. Es war für mich eine wundervolle Erfahrung: Das erste Mal seit langem, dass ich das Gefühl hatte, einem wirklichen Menschen begegnet zu sein. Dieser Priester hat sein Leben riskiert und ich habe nie erfahren, ob er das überlebt hat."
    76 Jahre später, im Oktober 2018 in Uruguays Hauptstadt Montevideo: In einer katholischen Kirche applaudiert die gerührte Gemeinde ihrem Gast Charlotte de Grünberg. Zuvor hat diese von ihrer jahrelangen Flucht während der Nazi-Zeit und der Rettung durch den französischen Priester erzählt: Eine späte Würdigung für den Geistlichen, den sie nach dem Krieg suchte und nie ausfindig machen konnte.
    "Dieser Priester war zweifellos sehr mutig, aber vor allem besaß er ethische Verantwortung. Eine nicht gerade verbreitete Eigenschaft, vor allem in der damaligen Zeit. Auf seine menschliche Solidarität können Sie alle stolz sein."
    Der Leidensweg von Charlotte de Grünberg war noch nicht zu Ende: Es folgten weitere Monate in Lyon, wo der Vater vorübergehend von italienischen Truppen gefangen genommen wurde. Dann tauchte die Familie in Grenoble unter, und schließlich, als es auch dort zu gefährlich wurde, versteckte sie sich in einem Dorf im Chartreuse-Gebirge. 1944 entkam sie nur knapp einer Razzia. Eine Freundin von Charlotte hatte weniger Glück, die Gestapo nahm sie, ihre Eltern und Geschwister mit. Kurz darauf befreiten die Alliierten Paris. Charlotte de Grünberg war nun fast zwölf Jahre alt und begriff ganz, dass sie den Holocaust überlebt hatten. In Paris jedoch erfuhr die Familie, dass die Großeltern, der Onkel und andere Verwandte in Polen in den Vernichtungslagern ermordet worden waren.
    Den Holocaust überleben, aber wie?
    "Es war der Horror nach dem Horror. Unmöglich, diese Traurigkeit in Worte zu fassen! Meine Mutter konnte nicht schlafen, nicht essen. Ihre ganze Familie, ihr ganzes früheres Leben war ausradiert."
    Anfang 1945 kehrte Charlotte de Grünberg nach Belgien zurück, ging wieder zur Schule und versuchte, an ihr früheres Leben anzuknüpfen. Als die Familie einige Jahre später Verwandte in Uruguay besuchte, lernte Charlotte den Mann kennen, mit dem sie bis heute verheiratet ist, und blieb in Montevideo. Sie ist dort Generaldirektorin der jüdischen Universität ORT. Die Geschichte ihres Überlebens, und des Endes ihrer Kindheit, hat Charlotte de Grünberg erst vor wenigen Jahren erzählt – sie ist in Uruguay in einem Buch veröffentlich worden.