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Gegen die Kolonie im Kopf
Afrika auf dem Weg zu sich selbst

Um die 60 Jahre liegt die Dekolonisation Afrikas zurück. Doch mit dem Ergebnis sind viele Afrikaner nicht zufrieden. Millionen Menschen sind von Hunger bedroht, es mangelt an Freiheit und Entwicklung. Mit Museen, die Raubkunst ausstellen, will man dem Kontinent ein neues Selbstbewusstsein geben.

Von Stefan Ehlert | 29.01.2020
Achille Mbembe und Felwine Sarr bei der Eröffnung ihres "Atelier de la Pensee", einem Forum für afrikanische Intellektuelle
Achille Mbembe und Felwine Sarr bei der Eröffnung ihres "Atelier de la Pensee", einem Forum für afrikanische Intellektuelle (dpa / MAXPPP / Elise Fitte-Duval )
"African Giant" – auf deutsch "Afrikanischer Gigant" - hat der Musiker Burna Boy aus Nigeria sein neues Album genannt, und Benins Superstar Angelique Kidjo hat ihm ihren jüngsten Grammy vermacht. Zeit für die Jungen, das Zepter zu übernehmen. Ob Kunst, Mode oder Literatur – viele Akteure in und aus Afrika haben zu einem ganz neuen Selbstbewusstsein gefunden. Gebauter Ausdruck davon ist etwa das Museum für schwarze Zivilisationen in Dakar im Senegal. Vor einem Jahr eröffnet, wartet es auf die Rückgabe afrikanischer Raubkunst, sagt Hamady Boukoum, der Direktor des Museums:
"Natürlich gibt es Stücke, die uns interessieren würden. Die Bedingungen hier sind optimal. Alle Sicherheitsanforderungen werden hier erfüllt: Klimaanlage, Räumlichkeiten, Videoüberwachung, Bewegungsmelder, Zugangskontrolle – das ist alles da."
Ganz ähnlich äußert sich Boukoums Amtskollege Philipp Gariam im Tschad. Dort wartet das noch spärlich gefüllte Nationalmuseum in Ndjamena auf Kultgegenstände, die die Herrenmenschen aus Europa einst geklaut hatten. Allein der Begriff "schwarze Zivilisationen" hätte die Kolonialisten damals verwirrt, verstanden doch sie sich jahrhundertelang als einzige Krone der Schöpfung. Doch jetzt sollen sie sich trennen von den geraubten Reichtümern in ihren Sammlungen. Das, sagt der tschadische Museumsdirektor Gariam, sei wichtig für die Identitätsfindung in Afrika:
"Diese Kulturgüter würden nicht nur die Sammlung unseres Museums aufwerten. Das ist auch wichtig, um unsere Geschichte besser erzählen zu können – das ist unsere gemeinsame Erinnerung, unser Erbe."
Ökonom Felwine Sarr fordert Raubkunst zurück
Der Kampf um die Rückgabe ist ein zäher Prozess. Immer wieder äußern Skeptiker, dass Afrikas Museen nicht die Möglichkeiten hätten, sensible Kunstgegenstände vernünftig aufzubewahren, inlusive der verschleppten Gebeine afrikanischer Vorfahren. Für Felwine Sarr ist diese Haltung der europäischen Besitzstandswahrer skandalös. Der senegalesische Ökonom gehörte einer Kommission in Paris an, die Empfehlungen aussprechen sollte zum Umgang mit der Raubkunst. Sie muss zurück, sagt Sarr und warnt vor – aus seiner Sicht - faulen Ausreden:
"Der, der die Sachen zurückgibt an die, die ihren Besitz zurücknehmen, hat ihnen nicht vorzuschreiben, wie das zu geschehen hat oder Bedingungen dafür zu stellen. Man sollte diese Art des Kulturimperialismus vermeiden."
Seit seinem Buch "Afrotopia" gehört Felwine Sarr zu den einflussreichsten lebenden Intellektuellen seines Kontinents, wenn es darum geht, Afrika neu zu denken. Er geht sogar so weit, eine afrikanische Wissenschaft einzufordern mit dem Anspruch der intellektuellen Souveränität.
Sarr: Afrikanische Perspektive gefordert
"Es geht darum, dieses in Bewegung befindliche Afrika ohne Worthülsen wie Entwicklung, wirtschaftlicher Durchbruch, Millenniums-Entwicklungsziele zu denken, die bisher dazu gedient haben, die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu übertragen." (Zitat)
Architektur, Städtebau, Wirtschaft – hier sieht Sarr ganz besonders eine afrikanische Perspektive gefordert. Möglicherweise nicht zu Unrecht. Spätestens wenn im Jahr 2050 2,5 Milliarden Afrikaner so leben wollten, wie der westliche Wohlstandsbürger heute, droht der Welt der Klimakollaps. Die Bildung unwirtlicher Megastädte wie Kairo oder Lagos kann nur durch einen Abschied von den bisherigen Planungsinstrumenten bewirkt werden. Voraussetzung, sagt Sarr im französischen Fernsehen, sei ein ganz neues Denken, denn seit dem Ende der Kolonialzeit sei eben nicht viel Zeit vergangen:
"Man kann das nicht auf die Kolonialzeit reduzieren, aber wir müssen festhalten, dass der Kontinent 500 Jahre lang unterdrückt wurde. Der Umgang war auf jeden Fall kolonial. Das, was 500 Jahre lang eingerichtet wurde, kann nicht in 50 Jahren rückgängig gemacht werden. Wir haben die Unabhängigkeit, aber die Entkolonialisierung ist ein Prozess, der sich in die Geschichte einschreiben muss. Wir müssen den mentalen Rahmen entkolonisieren, den erkenntnistheoretischen Rahmen und den Geist."
Mbembe: Aufhören, auf das müde alte Europa zu schauen
Afrika neu denken, Afrika positiv denken, das fordert auch Sarrs kamerunischer Kollege Achille Mbembe. "Ausgang aus der langen Nacht, Versuch über ein entkolonisiertes Afrika" heißt eines seiner wichtigsten Bücher. Und das ist nicht etwa vor 70 Jahren erschienen, sondern 2010.
"Man könnte einem neuen, demokratischen Denken auf einem Kontinent den Weg bahnen, auf dem die Macht zu töten nach wie vor so gut wie unbegrenzt ist und Armut, Krankheiten und Unwägbarkeiten aller Art das Leben unsicher und prekär machen. [...] Im Grunde liegen die Dinge einfach. Der Potentat ist ein Gesetz für sich. In vielen Fällen besteht sein Gesetz in Raubbau und Vorteilsnahme und unter Umständen in Mord." (Zitat)
Für Mbembe haben sich die Zeiten kaum geändert, nur dass es eben nicht mehr die weißen Unterdrücker sind, die die Menschen quälen, sondern die eigenen Leute an der Staatsspitze. In Kamerun, Mbembes Heimatland, ist Diktator Paul Biya bald 40 Jahre an der Macht. Also, so Mbembe, kann ja irgendetwas nicht ganz richtig gewesen sein am bisherigen Weg der Entkolonialisierung. 60 Jahre, nachdem die ersten Nationen befreit wurden, sei es nötig, nochmal neu nachzudenken.
Afrika, so Mbembe, müsse aufhören, auf das - wie er sagt - müde alte Europa zu blicken und sich vor allem von der eurozentristischen Brille auf die eigene afrikanische Geschichte befreien.
Politologe Mjahed: Erasmusprogramm mit Afrika, eine afrikanische Expo
"Wir selbst müssen mehr machen, auch auf panafrikanischer Ebene, sagt dazu der junge marokkanische Politologe Hamza Mjahed. Die Afrikanische Renaissance, sagt der Forscher, sei derzeit noch ein Nischenprojekt. "Wo ist denn das Erasmusprogramm für den Studierendenaustausch in Afrika? Warum gibt es keine afrikanische Expo?" Fragen von Hamza Mjahed. Es wird an seiner Generation liegen, Afrikas Entkolonialisierung zum Erfolg zu führen. Felwine Sarr schreibt dazu: "Die Zukunft ist jener Ort, den es noch nicht gibt, den man aber geistig vorwegnimmt."