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Gela Tschkwanawa: "Unerledigte Geschichten"
Krieg und Alltag in Abchasien

Ein vergessener 'Konflikt' und die 'unerledigten Geschichten' in seinem Gefolge: Der abchasisch-georgische Schriftsteller Gela Tschkwanawa berichtet in typisch osteuropäischer Erzähltradition von den Verlust und Traumata jenes Krieges, der einst Abchasien von Georgien ablöste.

Von Enno Stahl | 25.10.2018
    Buchcover: Gela Tschkwanawa: „Unerledigte Geschichten“ und der Regierungssitz in Suchumi in der georgischen Provinz Abchasien (1992-1993 zerbombt), davor die Aufschrift "Republik Abchasien" auf einemTransparent
    Vor dem 1992/93 zerbombten Regierungssitz in Suchumi ruft ein Transparent die "Republik Abchasien" aus (Buchcover: Voland & Quist Verlag, Foto: picture alliance / dpa)
    "Unerledigte Geschichten" – so heißt der erstmalig ins Deutsche übersetzte Roman des 51-jährigen Autors Gela Tschkwanawa. Zu Beginn des Buches weist noch nichts so recht darauf hin, was mit diesem Titel gemeint sein könnte. Der Ton ist lax, fast kolloquial, wie schon die Anfangspassage deutlich macht:
    "Die Partisanen sind alle gleich, dauernd wollen sie dir weismachen, dass ihnen ihr Leben scheißegal ist. Vielleicht stimmt das ja auch, aber irgendwie kommt es ziemlich posermäßig rüber. Dass sie Partisanen sind, sagen sie in einem Ton, als wären sie Kamikazes und kurz davor, ins Flugzeug zu steigen, mit gerade ausreichend Kerosin im Tank bis zu dem Schiff, das sie vorhaben in die Luft zu sprengen."
    Doch diese Lockerheit ist nur Tünche. Nach und nach versteht man, dass der Erzähler Gepetto damit seine Kriegstraumata überspielt, die Vertreibung aus seiner Heimatstadt Sochumi. Dieser Ort, der ursprünglich zu Georgien gehörte, wurde nach dem Georgisch-abchasischen Krieg 1992/93 Teil der völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Abchasien, einem Satellitenstaat Moskaus mit gerade mal 240.000 Einwohnern. Diese bewaffnete Auseinandersetzung ist heute fast vergessen. Sie war eine unter vielen Maßnahmen zur Machterweiterung Russlands, um nach Zerfall der Sowjetunion verlorene Territorien zurückzugewinnen – wie dies zuletzt mit der Krim geschah. Damals konnten abchasische Separatisten mit Unterstützung Moskaus den Krieg für sich entscheiden. Sie brachen im September 1993 unvermutet ein Waffenstillstandsabkommen, stürmten Sochumi und richteten ein grausames Massaker unter der Zivilbevölkerung an. 7000 Menschen fielen ihm zum Opfer. 250.000 Georgier wurden vertrieben. Auch der Autor Tschkwanawa, aus Sochumi stämmig, teilte dieses Schicksal.
    Sein Roman steht zwar ganz in der osteuropäischen Erzählertradition mit seiner liebevoll-plastischen Art der Figurenzeichnung. Gepettos Freunde und Verwandte Botscho, Kontschi, sein Stiefvater Reso, seine Mutter Ziala – sie sind Gestalten wie aus dem echten Leben. Aber einige von ihnen sind tot.
    Erzählen wie mit geschlossenen Lidern
    Gepetto spricht über sie aus der Erinnerung, wie somnambul, wie mit geschlossenen Lidern. Spielend leicht wechselt Tschkwanawa aus der Schilderung alltäglicher Szenen in die Vergangenheit und beschwört Lebende, Verstorbene und ihre gemeinsamen Erlebnisse herauf – das ist äußerst kunstvoll gemacht.
    Ebenso federleicht gleitet die Geschichte immer wieder ins Alltagsgeschäft des Krieges über. Gepetto hat selbst daran teilgenommen und so mischen sich auch diese Erfahrungen in seine Gedanken. Es gibt einen Schlüsselsatz, in dem sich die ästhetische Essenz dieses Werkes konzentriert: "Wer den Krieg überlebt hat, ist, ob er will oder nicht, nie mehr alleine."
    Das erklärt Gepettos traumwandlerischen Gang durchs Leben. Zwar hat er eine Frau und eine Tochter, die allerdings nicht auftreten. Denn Gepetto sucht seinen Stiefvater Reso, der über die Grenze gegangen sein soll. Auch er hat etwas Unerledigtes zu abzuschließen, möchte er doch das Grab seiner Frau Ziala, Gepettos Mutter, aufsuchen. Diese Reise ist jedoch mit Lebensgefahr verbunden, denn die Erinnerung an die Pogrome ist noch wach:
    "Nach dem Krieg erschoss die Witwe des abchasischen Polizisten eigenhändig in Sochumi gebliebene Georgier, davor hatte sie anstelle ihres Mannes gekämpft. Nach der Rückkehr nach Sochumi setzte sie drei Wohnungen im Haus ihres Mannes in Brand – von denen, die kämpften, darunter auch meine. Dann erklärte sie alle verlassenen Wohnungen in ihrer Hochhaushälfte zu ihren eigenen. Dabei war ihr vor dem Krieg gar nicht anzumerken gewesen, dass sie so rührig war. Vor dem Krieg war sie ein pummeliges Mädchen gewesen, bescheiden, vom Dorf."
    Alle im Buch auftretenden Personen hat der Krieg verändert, wenn sie ihn denn überlebt haben. Jugenderinnerungen Gepettos wie die an seine Liebe zu Anaida, die inzwischen auf der abchasischen, der anderen, der verfeindeten Seite lebt, sind vom plötzlichen Bruch geprägt. Viele Freunde sind gefallen, die Geschichten anderer nehmen ungeahnte Verläufe.
    Zufälle entscheiden über Leben und Tod
    Das zeigt, wie ohnmächtig die Einzelnen derartigen, letztlich machtpolitisch motivierten, Auseinandersetzungen gegenüberstehen, nur Spielbälle, sonst nichts. Oft entscheidet ein kleiner Zufall, Glück oder Pech, über Leben oder Tod. Und mysteriöse Begebenheiten gibt es auch:
    "Bodokia nahm die Hände weg, und das erste, was ich sah, war das tomatenrote Gesicht eines russischen Jungen (…). Zuerst kapierte ich nicht, wieso alle grinsten, und betrachtete den Russen genauer – er war vielleicht knapp sechzehn (…) sein Oberkörper war nackt und weiß bis zum Hals, ein großes, aus Draht geflochtenes Kreuz baumelte ihm vor der Brust, die Hände hatte er im Nacken und sein Bäuchlein war das eines kleinen Jungen.
    'Boah, sieht der ihm ähnlich!', rief Giuseppe. Der Russe musterte mich seinerseits, dann wurde er bleich und sank auf die Knie.
    'Sei gnädig, guter Mann!', winselte er und wollte zu mir kriechen, aber Bodokia verpasste ihm einen Schlag mit dem Gewehrkolben und brachte ihn zu Fall. Ich schaute zu Giuseppe, und in seinen Augen las ich, was ich selbst lieber nicht glauben wollte – der Junge sah aus wie mein Zwillingsbruder. Ich dachte, ich träume."
    Diese merkwürdige Ähnlichkeit ist aber nur eine Randglosse des Krieges, sie nützt dem jungen Russen auch nichts, er wird beiläufig erschossen, weil man befindet, dass er zu viel gesehen habe.
    Wie Schlaglichter tauchen die "unerledigten Geschichten" in dieser Erzählung auf. Die Gedächtnisbilder reihen sich wie die Perlen einer Kette aneinander.
    Ein roter Faden fehlt – seltsam ziellos erscheint die Suche Gepettos nach Reso, der auf einmal wohlbehalten wieder in der Grenzstadt auftaucht. So ziellos wie auch die übrigen Romanfiguren, vom Krieg seelisch zerstört oder zumindest verwandelt, durchs Leben gehen.
    Ziellos durchs Leben
    Gepetto trifft an der Grenze seine Jugendliebe Anaida wieder. Sie verbringen eine Nacht zusammen, ihre Gefühle sind lebendig wie am ersten Tag. Doch beide wissen, dass sie aus verschiedenen Welten stammen. Die – geradezu metaphorisch sinnbildliche – Brücke über die Grenze wird auch zur Begegnungsstätte Gepettos mit seinem leiblichen Vater, der die Mutter verlassen und mit einer anderen Frau zwei Kinder gezeugt hat. Seine Halbgeschwister, die im abchasischen Teil leben, lernt Gepetto erstmals kennen.
    Es kommt also Bewegung in die Geschichten, die eben doch der Erledigung harren und nicht totzuschweigen sind. Und am Ende hat Gepetto eine ganz einfache Erkenntnis:
    "Vielleicht kam es nur darauf an, dass wir am Leben waren, Botscho, Reso, Prostomaria, Nana, Ana, Lali, ihre Kinder, mein Vater, mein Halbbruder und meine Halbschwester, Anaida, die einst mein war, jetzt aber nicht mehr, ich und überhaupt alle … Wirklich, das Leben ist schön."
    So schließt der Roman trotz aller Trauer, trotz aller Verluste, die zu beklagen sind, doch tröstlich – mit einem Bekenntnis zur Zukunft.
    Gela Tschkwanawa: "Unerledigte Geschichten"
    Voland & Quist, Dresden und Leipzig. 239 Seiten, 20 Euro.