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Generationen, Diktatur und Alltag
Kein ganz normales DDR-Leben

Die Geschichte der DDR als Diktatur mit einem verbrecherischen Überwachungsapparat ist oft erzählt worden. Dennoch beschreiben viele Menschen ihr Leben dort als angenehm, interessant und wertvoll. Es gibt wohl keine einfache Geschichte der DDR, sondern viele.

Von Mary Fulbrook | 26.05.2019
Die britische Historikerin Mary Fulbrook beim Kölner Kongress 2019
Die britische Historikerin Mary Fulbrook beim Kölner Kongress 2019 (Hajo Drees)
Wie sollte man das Leben in der DDR am besten schildern und was für Themen betonen? Stasi, Mauer, Stacheldraht - oder aber billige Mieten, sichere Arbeitsplätze, subventionierte Lebensmittel und flächendeckende Kinderhorte?
Wie bringt man die Alltagserfahrung vieler Menschen mit der äußeren Geschichte in einen sinnvollen Zusammenhang, ohne die DDR entweder zu verharmlosen oder zu dämonisieren? Die verschiedenen Generationen in der DDR erlebten die äußere Geschichte aus ihrer jeweiligen Perspektive jeweils völlig anders.
Mary Fulbrook hielt diesen Vortrag am 16. März 2019 im Rahmen des Symposiums beim Kölner Kongress 2019 zum Thema "Sound. Erzählen. Öffentlichkeit".
Die sich anschließende Diskussion zum Thema "Neues Erzählen von der DDR - Welche Perspektiven braucht der Osten" senden wir am 30. März 2019.
In "Das Feature" im Deutschlandfunk läuft im Mai 2019 zeitgleich die Reihe "Ostdeutsche Leben".
Mary Fulbrook studierte in Cambridge und Harvard und ist seit 1995 Professorin für Deutsche Geschichte am University College London. Sie ist Fellow of the British Academy (FBA) und renommierte Autorin von zahlreichen Büchern, unter anderem: "Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR" (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft und Primus Verlag, 2008); "Eine kleine Stadt bei Auschwitz. Gewöhnliche Nazis und der Holocaust" (Essen: Klartext, 2015); und "Erfahrung, Erinnerung, Geschichtsschreibung. Neue Perspektiven auf die deutschen Diktaturen" (Wallstein Verlag, 2016). Ihr neuestes Buch ist "Reckonings: Legacies of Nazi Persecution and the Quest for Justice" (OUP, 2018).

Wir glauben, dass wir eigentlich schon alles über die DDR wissen. Es fällt uns sehr leicht, unangenehme DDR-Bilder und -Erinnerungen wachzurufen: Mauer, Stacheldraht, Wachtürme, sichtbare Symbole der Gewalt, kommen sofort ins Gedächtnis. Auch Symbole der Macht, die sich als legitim darstellen wollten, sind leicht in den Blick zu bringen.
Die Diktatur stellte sich immer wieder selbst plastisch dar: SED-Parteiabzeichen, uniformierte Jugenddemonstrationen, Militärparaden - auch sowjetische Panzerwagen - waren immer wieder und überall zu sehen. Die DDR inszenierte sich mit Hilfe von Ritualen, Parolen, Flaggen, Organisationen. Physisch konnte man fast nie davon wegkommen, nie sich einbilden, dass man nicht auf dem Boden "unserer DDR" stand. Und das sind die Bilder, die noch in den Medien wachbleiben.
Nicht nur sichtbare Symbole, sondern auch die unheimliche, unsichtbare Macht der Überwachung ist in unseren Bildern noch sehr präsent und war damals auch fast täglich zu spüren. Man flüsterte nicht nur von der Stasi; man meinte ganz genau zu wissen, wer Stasi-Spitzel war und mit wem man besser nicht zu offen sprechen sollte.
Wenn man gewisse höhere Ämter bekleidet hat - in einer Fabrik oder Schule oder sonstiger Institution - musste man sogar regelmäßig darüber Berichte abgeben, was in der betreffenden Institution vor sich ging, wer welcher Meinung war, wer was gemacht oder gesagt hat und so weiter. Man wusste, was sein sollte, also auch, was vielleicht möglich und woran gar nicht zu denken war.
Aber gerade in dieser Alltäglichkeit der Diktatur, in diesem Wissen des Ausmaßes der Macht und Gewalt, steckt noch etwas Anderes:
Die Routinemäßigkeit, die "Normalisierung" der Diktatur
Die Allgegenwärtigkeit und Sichtbarkeit der Diktatur hieß auch, dass man sich damit abfinden konnte oder sogar musste; dass alles über die Jahre und besonders nach dem Bau der Berliner Mauer einigermaßen "normal" wurde. Als ich persönlich anfing, mich für die DDR zu interessieren - schon in den späten siebziger Jahren, verstärkt in den Achtzigern - ist es mir immer wieder aufgefallen, wie oft man mir vielleicht etwas selbstentlastend gesagt hat: "Es lässt sich leben."
Während ältere Westdeutsche noch über DDR-Bürger als "den doofen Rest" - DDR - gespottet haben, versicherten mir diejenigen, die ich in der DDR kennengelernt habe, dass ihr Leben trotz allem nicht nur "ok", sondern sogar angenehm, interessant und wertvoll war. Man meckerte zwar darüber, dass es fast nie Südfrüchte oder guten Kaffee gab, dass man stundenlang Schlange stehen musste, um ein paar braune Bananen zu bekommen, dass die Auswahl in den Läden zwischen Rotkohl, Grünkohl und irgendeinem sonstigen Kohl bestand - aber immerhin, man hatte Freizeit, gute Freunde, eine billige Wohnung und einen gemütlichen Schrebergarten mit Häuschen. Wozu hätte man nach Italien oder in die USA reisen wollen, wenn man das Baltikum oder sogar Ungarn hatte?
Trotzdem haben sehr viele dann 1989 ihr Bestes getan, gegen die SED-Macht aufzustehen, und haben an dem völlig unerwarteten Untergang der DDR mitgewirkt. Und eine Minderheit hat schon in den Jahren, noch bevor Gorbatschow an die Macht kam, versucht, unter dem schonenden Dach der Evangelischen Kirche ihre Stimmen für Umweltschutz und gegen Unterdrückung und Unmündigkeit zu erheben.
Das Bild nach der Wende: DDR schwarz-weiß
Und nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands? Plötzlich sah alles ganz anders aus. Politiker, Historiker, Medienveranstalter, stellten ein ganz anderes Bild dar. Die DDR wurde zunehmend schwarz-weiß gemalt: In der überwiegend westdeutschen Medienlandschaft, in den Sitzungen der parlamentarischen Enquetekommissionen, in politischen wie auch in geschichtswissenschaftlichen Debatten wurde heftig darüber gestritten, ob man die DDR-Diktatur als eine Art "Totalitarismus" bezeichnen könne. Aber während für manche alles nun schlecht gewesen sei, versuchte noch eine ehemalige Minderheit, sich weiter an die Mythen der Verbesserungsfähigkeit des Sozialismusideals zu klammern.
Viele Bürger und Bürgerinnen der nun sogenannten "fünf neuen Länder" wussten gar nicht mehr, wie sie ihre früheren Lebensläufe bewerten sollten. Manche fühlten sich ihrer eigenen Vergangenheit beraubt.
Immerhin: Während Westdeutsche als Kolonialisten Neuland betraten, McDonald's Fastfoodketten die Stätten von Mitropa und Edeka oder Spar die von HO‑Lebensmittelgeschäften übernahmen, haben dennoch viele ehemalige DDR‑Bürger und -Bürgerinnen behauptet, dass sie damals in der DDR "ein ganz normales Leben" genossen hätten.
Ist diese Behauptung des "ganz normalen Lebens" nur als "Ostalgie" in einer Zeit rapide zunehmender Arbeitslosigkeit als Ausdruck von Unsicherheit, Angst um die Zukunft oder sogar Minderwertigkeitsgefühlen abzuwerten? Oder ist vielleicht noch etwas dabei, was man eventuell näher untersuchen sollte?
In Bezug auf Gesellschaften heißt "normal" an und für sich gar nichts. Wenn man Fieber hat, weiß man, dass das nicht normal ist. Wenn man krank ist, weiß man, dass das nicht normal ist, aber für Gesellschaften kann man das Wort "normal" nicht so benutzen. Das Gefühl aber der "Normalität" hat etwas mit dem zu tun, was Pierre Bourdieu "Habitus" genannt hat.
Wenn man sich an gewisse Lebensweisen und -normen gewöhnt hat, weil man damit aufgewachsen ist oder lange darunter gelebt hat, scheinen diese bestimmten Lebensweisen und -normen "normal", alles andere als eher außergewöhnlich. Es sei denn, die Lebensumstände sind in irgendeiner Weise so extrem, dass man gar nicht oder wenigstens nicht bequem oder nicht ehrlich damit leben kann. Es kommt auch darauf an, wer "man" ist. Für verschiedene soziale Gruppen und Alterskohorten waren die persönlichen Erfahrungen "derselben" Verhältnisse völlig verschieden.
Die "äußere" Geschichte der DDR
Um diese Fragen zu beantworten oder anzugehen, kann man auf zwei ganz verschiedene Weisen die Geschichte angehen. Erstens möchte ich die sozusagen "äußere" Geschichte der DDR kurz darstellen. Dann möchte ich die Frage stellen: Wie haben Mitglieder verschiedener Generationen, mit verschiedenen sozialen und politischen Meinungen, diese Geschichte eigentlich erfahren? Und wie kann man die Geschichte einer Diktatur hinter Mauer und Eisernem Vorhang mit den Erfahrungen und Erinnerungen eines "ganz normalen Lebens" zusammenbringen, ohne Gefahr zu laufen, entweder zu dämonisieren, wie die Vertreter des SED-Staats das manchmal machen, oder zu verharmlosen?
Man kann, etwas simplifizierend, die Geschichte der SBZ/DDR in drei grobe Phasen einteilen: Erstens die Zeit des Aufbaus, von 1945 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961; zweitens die Jahre der zunehmenden Stabilisierung, "Routinisierung" und auch internationalen Anerkennung der DDR, in den sechziger und siebziger Jahren; und drittens die Zeit der Öl- und Wirtschaftskrisen ab Mitte der Siebziger, des erneuten Kalten Krieges ab 1979 und der wachsenden politischen und sozialen Unruhen in den achtziger Jahren - eine Zeit der zunehmenden Destabilisierung, die schon vor Gorbatschows Machtantritt in der Sowjetunion begonnen hat, deren Ende aber eng mit seiner neuen Politik des Glasnost und Perestroika verbunden war.
Betrachtet man nun aber, wie verschiedene Generationen diese Phasen durchlebten, welchen Herausforderungen sie ausgesetzt waren und wie sie darauf reagierten, so sieht das Bild doch etwas anders aus.
Erstens die "gespaltene Generation"
Die Gründungsväter, die Mitläufer, die ehemaligen Nazis in der DDR, die viel zu wenig ins Geschichtsbild kommen.
Diejenigen, die im Dritten Reich schon Erwachsene waren, bildeten eine tief gespaltene Generation. Auf der einen Seite stand eine ganz kleine Minderheit, die die "Gründungsväter" der DDR darstellten. Sie hatten entweder gegen den Nationalsozialismus gekämpft und sind deswegen verfolgt, verprügelt, eingesperrt worden (wie zum Beispiel der spätere SED- und Staatschef Erich Honecker); oder sie sind ins Exil gegangen und erst nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekommen, wie zum Beispiel der erste SED-Generalsekretär Walter Ulbricht.
Für diese politisch aktive und sehr linkseingestellte Gruppe bildete die DDR die Chance, ein neues Deutschland und eine vollkommen neue Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild aufzubauen. Gerade weil sie so sehr unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, hatten diese politischen Akteure überhaupt kein Zutrauen in ihre deutschen Mitmenschen: nämlich diejenigen, die Hitler-Anhänger, NS-Enthusiasten oder auch passive Mitläufer gewesen waren. Für sie musste "Demokratie" heißen, dass die marxistisch-leninistische Partei immer leiten und lenken sollte, um den Weg in eine bessere Zukunft zu bereiten und durch gezielte Propaganda und/oder Zwang die Massen nach und nach zu überzeugen, bis sie alle in "neue Menschen" verwandelt wären.
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen aber hat im Krieg gegen den "Bolschewismus" gekämpft. Für sie, unter ihnen auch pragmatische Mitläufer und politisch Unbeteiligte, waren die späten Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre die schlimmsten.
"Opfer einer zweiten Diktatur"
Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges gab es die Tendenz, sich selber und die breitere Bevölkerung als die eigentlichen Opfer des Krieges und seiner Folgen darzustellen. Dafür gab es gewiss viele gute Gründe, darunter die schrecklichen Erfahrungen in den alliierten Luftangriffen auf deutsche Städte, Flucht und Vertreibung aus Osteuropa und die Massenvergewaltigungen durch sowjetische Soldaten. Auf breiterer Ebene betrachteten sich viele Ostdeutsche als Opfer einer zweiten Diktatur und tauschten den Antibolschewismus von vor 1945 gegen den Antikommunismus des Kalten Krieges aus.
Menschen, die nur einige Jahre zuvor im Namen des Führers, Volkes und Vaterlandes nicht nur Juden getötet, sondern auch gegen den Bolschewismus gekämpft hatten, mussten sich nun dazu bereit erklären, selber gute Kommunisten zu werden. Dazu kam, dass das Wirtschaftswunder im Westen - nicht zuletzt dank des amerikanischen Marshall-Plans, des Korea-Kriegs, des Zustroms billiger Arbeitskräfte aus Ost- und Südeuropa - die vermeintlichen Vorteile des Kapitalismus zeigte.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie viele ehemalige Hitler-Anhänger sich in "neue Menschen" verwandelt haben. Rehabilitation und Reintegration von "nominellen" Nazis war auf beiden Seiten im Kalten Kriege zunehmend wichtig.
Bis 1961 bestand noch die Möglichkeit, über Berlin in den Westen auszuwandern. Die überwiegende Mehrheit derer, die diesen Weg genommen haben, war etwas jünger, besser gebildet, hatte Aussichten auf neue Chancen. Ab 1961 mussten aber diejenigen, die zu Hause im Osten geblieben waren, sich mit den bestehenden Verhältnissen abfinden.
NS-Täter tauchten in die DDR-Gesellschaft ein
Nach und nach haben die meisten dieser älteren Generation Wege gefunden, sich ein Leben zu schaffen, womit sie einigermaßen zufrieden sein konnten. Aber enthusiastisch - wie manche im Dritten Reich gewesen waren - konnten sie nie sein. Meckern und weiterleben war in dieser älteren Generation, für die die Spaltung Deutschlands nie "normal" erscheinen konnte, eine weitverbreitete Einstellung.
Die DDR stellte sich nun als das "bessere" Deutschland, den "antifaschistischen Staat", dar.
Aber entgegen der SED-Propaganda waren nicht alle Nationalsozialisten in den Westen gegangen. In den Jahrzehnten nach dem Krieg konnten ehemalige NS-Täter - richtige, echte Täter - in weitaus größerem Ausmaß in der ostdeutschen Gesellschaft untertauchen als allgemein anerkannt wurde und immer noch wird. Wenn sie nicht vor Gericht gezogen worden waren - und die meisten Täter wurden nie vor Gericht gebracht - konnten auch sie sich erstaunlich verändern.
Gelegentlich können wir auch Einblicke darin gewinnen, wie sich individuelle Wandlungen vollzogen, zum Beispiel, wenn rechtliche Untersuchungen später mit den Tätern aufholten. Es gibt viele Beispiele von Personen, die sich in die DDR‑Gesellschaft eingefügt hatten, bevor sie entdeckt, vor Gericht gebracht und verurteilt wurden. Josef Blösche zum Beispiel, dessen Bild uns aus dem sogenannten "Stroop‑Bericht" über die Unterdrückung des Warschauer Ghetto-Aufstandes gut bekannt ist, lebte unauffällig in der DDR und baute sich mit Frau und Kindern ein gutes Leben auf. 1969 wurde er aber vor Gericht gezogen und zu Tode verurteilt. Der ehemalige Dresdener Gestapo-Chef Henry Schmidt wurde erst 1987 vor Gericht gebracht. Diese und viele andere wenig bekannte Beispiele, die ich nennen könnte, sind wahrscheinlich symptomatisch für eine weitaus größere Anzahl an ehemaligen Tätern und Täterinnen, die niemals ausfindig gemacht wurden und als DDR-Bürger und -Bürgerinnen ein von der Justiz unbehelligtes Leben führen konnten.
Vermeintlich "demokratischer" Widerstand
Ich habe eine Familie in der DDR besucht, wo ich wusste, der Vater war NS-Täter gewesen, hat 106 Menschen getötet, Juden in Polen getötet, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und ich besuchte die Familie. Ich wollte mit dem Sohn sprechen, wollte ein Interview mit ihm führen und es hat mich wirklich gewundert, der wusste überhaupt nichts von dem, was der Vater wirklich gemacht hat. Er war sieben Jahre alt, als sein Vater verhaftet wurde, und seine Mutter hat ihm immer wieder erzählt, dein Vater hat nichts Böses gemacht, er ist nur Opfer des Stasi-Unrechts, der DDR‑Diktatur.
Das ist völlig anders als die Geschichten, die man in Westdeutschland immer wieder findet, und in Westdeutschland ist das Problem immer, was hat mein Vater vielleicht gemacht? Möchte ich das wissen, will ich das wirklich nicht wissen, und wenn irgendjemand in der Familie das herausfinden will, dann ist diese Person eine Nestbeschmutzerin und sollte das nicht machen. Und das sind zwei ganz verschiedene Arten und Weisen, auf die NS-Vergangenheit der Tätergeneration heranzugehen. Das finde ich sehr, sehr interessant. Aber es muss auch dazu gesagt werden, in der DDR wurden viel mehr NS-Täter vor Gericht gebracht als in Westdeutschland. In der DDR waren sechs- oder siebenmal so viele Täter im Verhältnis zur ganzen Bevölkerung vor Gericht gebracht als in Westdeutschland.
Diese Dimension der NS-Vergangenheit vieler DDR-Bürger und Bürgerinnen fehlt in vielen Geschichtsschreibungen Ostdeutschlands nach 1945. Wie viele Menschen, die in offiziellen Berichten, die wir in Archiven lesen, (unter der allgegenwärtigen Überschrift der "Stimmungen und Meinungen") als mit "negativen" oder "schwankenden" Ansichten beschrieben auftauchen, einen solchen Hintergrund in NS-Gewalt hatten, ist keineswegs bekannt. Aber der NS-Werdegang vieler ostdeutscher Bürger wird in einer DDR‑Geschichtsschreibung, die sich primär auf den vermeintlichen "demokratischen" Widerstand gegen die schreckliche kommunistische Diktatur bezieht, nur selten in den Blick genommen.
Eine Frage über zum Beispiel den Aufstand von 1953, das wird immer so dargestellt, als ob es demokratischer Widerstand gegen Diktatur gewesen ist. Es kann auch sein, dass es antikommunistischer Widerstand war und viele waren wie gesagt nur einige Jahre, wenige Jahre zuvor gegen Bolschewismus. Es gibt dort Kontinuitäten, die man näher untersuchen sollte.
Die 1929er als eigentliche Träger der DDR
Ich komme zu einer ganz anderen Generation, diejenigen, die ich als die "1929er" bezeichne. Die 1929er waren die eigentlichen Träger der DDR, nicht die Gründungsgeneration, sondern diese etwas jüngere Generation, die waren die Träger der DDR.
Diejenigen, die in den späteren Weimarer Jahren geboren wurden - etwa zwischen 1925 und 1932 - nenne ich die 29er. Das ist eine ganz besondere, sogar historisch prägende Generation. Verhältnismäßig viele aus dieser Kohorte wurden Träger der neuen DDR-Gesellschaft. Es ist erstaunlich, wie viele Funktionäre des SED-Staates den Jahrgängen 1926 bis 1932 entstammen. Und nicht nur Funktionäre, sondern auch "ganz normale Ostdeutsche" aus jenen Jahrgängen waren ausgesprochen systemtreue DDR-Bürger. Es gab in dieser Generation einen besonders hohen Prozentsatz von SED-Mitgliedern und zugleich erstaunlich wenige Kirchgänger im Vergleich zu den Geburtsjahrgängen, die entweder kurz davor oder kurz danach geboren worden waren. Wie kann man das nun erklären?
Die 29er hatten ganz andere Erfahrungen im Dritten Reich gemacht als diejenigen, die damals schon erwachsen waren. Sie waren es, die ihre ganze Sozialisation unter dem Zeichen des Nazismus erlebt hatten; sie waren es, für die es Pflicht war, Mitglied der HJ oder des BDMs zu sein. Sie kannten in ihrer Kindheit und Jugend nichts Anderes als den Druck und die Ideologie des Nazismus.
Aufgrund ihres geringen Alters wurden sie aber nach dem Krieg als "unbelastet" betrachtet und hatten nun ganz andere Chancen und Aussichten als die schon etwas Älteren, als sie nun erst an der Schwelle zum Erwachsensein standen. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen nach 1945 produzierten eine wesentlich einschneidendere Wandlung im Osten als im Westen. Besonders in der DDR wurden also Mitglieder dieser "unschuldigen" Generation viele Chancen und Aufstiegsmöglichkeiten angeboten - vorausgesetzt, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammten und noch dazu willig waren, sich der neuen politischen Richtung zuzuwenden.
Die 29er waren auch psychologisch gut dafür vorbereitet. Viele fühlten sich vom Nazismus "betrogen", meinten auch, dass sie irgendwie missbraucht worden wären und ihre Jugend verloren hätten. Sie hatten wenig Zutrauen in die Mitläufer und Täter der Elterngeneration. Manche waren aber voller Idealismus und Energie und wollten sich dann dem Aufbau der neuen Gesellschaft widmen.
Eine einmalige historische Generation
Und ich glaube, Christa Wolf ist ein sehr gutes Beispiel für diese Generation. Sie hat viel darüber geschrieben, diesen Aufbauwillen und das Gefühl der Betrogenheit, des schlechten Gewissens, obwohl sie nichts wirklich Böses getan hätten und so weiter.
Während manche ältere Ostdeutsche - und besonders diejenigen, die aus politischen oder klassenspezifischen Gründen benachteiligt wurden - so die bürgerlichen, konservativen - Schwierigkeiten hatten, ihren Beruf weiter auszuüben oder ihr Leben so weiter zu gestalten, wie sie es sich vor dem Krieg vorgestellt hatten, sah die Situation für die 29er völlig anders aus. Viele Angehörige dieser Geburtsjahrgänge hatten das Gefühl, nach 1949 ihr eigenes Leben in die Hand nehmen zu können, auch mit Unterstützung des neuen Staates, der ihre Weiterbildung förderte und ihnen neue Berufschancen bot.
Durch die gezielte Frauenförderung der fünfziger und frühen sechziger Jahre, die angesichts der demographischen Schieflage nach dem Zweiten Weltkrieg dringend nötig war, erhielten auch viele Frauen unerwartete Aufstiegsmöglichkeiten. Letztere waren für viele berufstätige Mütter jedoch unweigerlich mit einer Doppelbelastung verbunden.
Um die 20 Jahre alt, als die DDR gegründet wurde, waren die 29er um die 60, als die DDR zu Grunde ging. Sie konnten also in den neunziger Jahren in die Rente gehen und auf vollendete Lebensgeschichten, geprägt von engen mitmenschlichen Beziehungen, zurückblicken. Das ist eine einmalige historische Generation. Sie ist wirklich völlig anders als die etwas Älteren und die etwas Jüngeren.
Die FDJ-Generation
Diejenigen, die noch im Dritten Reich geborenen wurden, später als "Kriegskinder" bezeichnet, waren viel weniger begeistert von der DDR als die 29er. Wurden diese Kriegskinder vor 1961 nicht mit in den Westen genommen, so hatten sie als junge Erwachsene nicht mehr die Chance, selbst über eine Flucht in die Bundesrepublik zu entscheiden. Sie hatten den Krieg oder zumindest die Kriegsfolgen ebenso wie die Teilung Deutschlands bewusst miterlebt; der neue Staat konnte keineswegs als "normal" angesehen werden. Die DDR erschien den meisten unter ihnen zwar nicht als selbstverständlich, aber doch als ein Ort, an dem sie sich erstmals selbst verwirklichen konnten.
Manche Hoffnungen wurden jedoch im Laufe der Zeit enttäuscht. Auch Frauen dieser etwas jüngeren Generation, die höhere Karriereziele verfolgten als die etwas Älteren, arrangierten sich mit dem Regime, zeigten sich aber wie viele andere mit der Zeit zunehmend enttäuscht vom Staatssozialismus. Daher zogen sich viele ins Privatleben zurück - welches der Staat allerdings durch den Mauerbau und die Einführung der Wehrpflicht maßgeblich mitbestimmte. Das Glück im Privatleben wurde auch zunehmend offiziell anerkannt, als der "Zeithorizont" nicht mehr auf die glorreiche kommunistische Zukunft orientiert war, sondern auf das alltägliche Leben schrumpfte. Und das war zunehmend der Fall in den siebziger und achtziger Jahren unter Honecker.
Für die jüngeren Generationen, die sozusagen "Hineingeborenen", sah es aber etwas anders aus. Im Gegensatz zu dieser älteren Generation schien ihnen die DDR zunehmend "normal".
Diejenigen, die nach dem Krieg geboren wurden, wurden in der DDR aufgezogen. Sie waren die erste richtige "FDJ-Generation". Es wurde ihnen viel versprochen; die Realität aber, als sie in den Siebzigern und Achtzigern erwachsen wurden, sah völlig anders aus. 1989 waren sie um die 40; ihre Familien hatten in den Wirtschaftskrisen der späten siebziger und achtziger Jahre gelitten; und sie selber fühlten sich bevormundet, enttäuscht, eingeschränkt. Sie waren es, diejenigen, die dann um die 40 waren, die im Herbst 1989 an der Spitze der Demonstrationen zu sehen waren.
Nach 1990 waren sie auch die größten Verlierer der Wiedervereinigung; besonders die weiblichen unter ihnen litten darunter, dass sie sichere Arbeitsplätze und flächendeckende Kinderhorte verloren hatten. Sie waren zu jung, um in die Frührente zu gehen, zu alt, um sich für neue Stellen umschulen zu lassen. Anfang der neunziger Jahre hatten die meisten dieser Generation wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Erwerbslosigkeit stieg, die Geburtsraten sanken.
Die jüngste DDR-Generation
Und die jüngste DDR-Generation? Diejenigen, die in der Honecker-Zeit geboren wurden, hatten die glücklichsten Erinnerungen. Idyllische Kindheiten, ein Gefühl der Geborgenheit, sichere Zukunftspläne - und kaum oder wenige Stasi-Erfahrungen. Und der Traum verwirklichte sich, obwohl auf ganz andere Weise, als sie es sich vorgestellt hatten: Nach 1990 konnten sie plötzlich überall hin, studieren und arbeiten, wo sie wollten, im Westen wie auch im Osten. Die glücklichen Kindheitserinnerungen mussten nicht mit dem Gefühl der Ostalgie verbunden werden wie bei der Elterngeneration.
Wie kann man nun den "historischen Blick" oder die "äußerliche Geschichte" der DDR mit den Erfahrungen und Erinnerungen der DDR-Bürger und -Bürgerinnen zusammenbringen?
Wenn Ostdeutsche nach dem gigantischen sozialen und politischen Umbruch von 1989/90 behaupten wollen, dass sie "davor" "ganz normale Leben" genossen hätten, so müssen wir das alles irgendwie zusammenbringen und mitdenken. Das ist keine einfache Geschichte - es gibt keine einfache Geschichte der DDR oder bezeichnet, was hieß die DDR -, sondern es sind viele Geschichten, besonders dann, wenn man die persönlichen Erfahrungen von Menschen aus vielen Schichten und vielen Generationen mitbetrachtet, und es wird auch nicht einfach sein, diese Geschichten annähernd angemessen medial darzustellen.