
Der Meridian ist im Eimer. In einem Mülleimer, um genau zu sein, und dieser Mülleimer steht 100 Meter abseits von der Linie, die den Meridian darstellen soll. Auf dem Hügel im Londoner Süden, in Greenwich, wo sich das Königliche Observatorium befindet, herrscht ein gewisses Durcheinander. Touristen, die das Museum besuchen, denn das Observatorium von Greenwich ist schon seit 1948 kein Observatorium mehr, fotografieren sich gern breitbeinig auf dem Null-Meridian direkt vor dem Eingang: mit einem Fuß auf der Westhälfte der Erde, mit dem anderen im Osten. Doch neuerdings bringen sie auch GPS-Geräte mit, und siehe da: die zeigen die Null-Grad-Position weit hinter dem Gebäude an.
Dabei, so glauben viele, wurde das Gebäude doch extra am Meridian errichtet. Oder wurde, wie andere glauben, der Meridian zufällig vor dem Gebäude gefunden? Es grenzt ja auch an ein Wunder, dass immer genau um Mitternacht ein neuer Tag beginnt – und nicht ein bisschen früher oder später. Anders gesagt: Ist es ein riesiger Zufall, dass ein Liter Wasser genau ein Kilogramm wiegt? Oder hat man einfach Wasser nachgeschüttet, bis das Kilogramm voll war?
Der Null-Meridian ist nichts anderes als eine internationale Vereinbarung
Das sind so Fragen, die sich im Grenzgebiet von Naturbeobachtung und Wissenskultur stellen. Der Mensch denkt sich Sachen aus, und wenn er die Gedanken zu Symbolen formt, staunt er über ihre Existenz. Der Null-Meridian von Greenwich ist nichts anderes als eine Setzung, eine 1884 getroffene internationale Vereinbarung, die frühere Vereinbarungen wie etwa den 1718 festgelegten Meridian von Paris abgelöst hat. Er ist also in der physikalischen Natur als solcher nicht vorhanden.
Wie aber kommt es dann, dass jetzt von Verlagerung, Verschiebung oder Neuvermessung die Rede ist? Kann man sich bei einer Setzung irren? Eine Setzung gehört zum Bereich des Willens, nicht zu demjenigen der Wahrheit. Kann also der Wille falsch sein? Das wiederum sind Fragen, die sich zwischen Logik und Ethik stellen. Doch bevor wir in diesen philosophischen Abgrund stürzen, hier nun die Lösung des Problems: Die Nulllinie vom Nord- zum Südpol mag zwar willkürlich gewählt, aber sie muss gerade sein, das heißt, sie muss auf der Kante eines imaginären Schnittes verlaufen, der genau durch den Erdmittelpunkt führt. Und diese Bestimmung des Erdmittelpunktes erfolgt mithilfe heutiger Methoden genauer als vor 131 Jahren.
So kommt es, dass ein gedankliches Konstrukt schließlich doch von natürlichen Gegebenheiten abhängt. Alles Abstrakte existiert eben nur, sofern ihm irgend etwas Reales entspricht. Bedenklich stimmt an der Längengrad-Geschichte bloß dies: Wenn schon die ganz großen Dinge anders liegen als geglaubt, wie ist es dann erst mit dem Rest?