Samstag, 27. April 2024

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Georg Fink
"Mich hungert"

Von Ralph Gerstenberg | 04.08.2014
    Die Erinnerungen von Theodor König beginnen im Alter von vier Jahren. An einem Herbstabend im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wird der halbjüdische Junge von seinem Alkoholikervater gezwungen, auf der Invalidenstraße, "dem großen Geschäftsboulevard" des Berliner Nordens, um Almosten zu betteln. Im Regen mit einem Hut in der Hand soll das verwirrte, den Armen der Mutter entrissene Kind die Worte stammeln, die dem Roman den Titel gaben: "Mich hungert".
    "Das war Auftrag, Befehl. Aber mich hungerte wirklich. Und wer hörte mich? Die Straße war voll, es lärmte schrecklich. Mir war's, als müsste ich jeden Augenblick zertreten werden, selbst in meiner Ecke. Hunde kamen und beschnupperten mich. Einmal beugte sich eine Frau, eine junge Frau, und streichelte mich, sie gab mir einen Apfel, aber ich konnte ihn nicht nehmen, ich musste ja so krampfhaft den Hut festhalten. Da steckte sie ihn in meine Tasche. Ich hatte jetzt keinen Hunger mehr, aber ich flüsterte immer noch: 'Mich hungert'".
    Mit dieser eindringlichen Szene beginnt Georg Finks Roman, in dem der Ich-Erzähler, ein etwa 25-jähriger Buchhalter, sein bisheriges Leben rekapituliert. Seine Mutter, eine jüdische Tochter aus höherem Hause, war mit einem Proletarier, der als Knecht bei ihren Eltern arbeitete, aus Schlesien nach Berlin geflohen. Nach der Hochzeit wurde sie von ihrer Familie enterbt. Ihr Mann fing an zu trinken und sie zu schlagen. Die drei gemeinsamen Kinder musste sie fortan alleine durchbringen.
    Der Vater kam nur noch nach Hause, um die mühevoll erarbeiteten Haushaltsgroschen für seine Kneipenrunden zu kassieren, landete immer mal wieder im Knast und fiel schließlich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Der sogenannte "Heldentod" der Väter wurde in den Haushalten der Elendsviertel oft mit Erleichterung aufgenommen.
    "Die Armen hatten es gut. Ihre Männer fielen: umso besser: Es gab die Rente. Und die kam ins Haus und wurde nicht vertrunken und mit Straßenmädchen durchgebracht, die Gattinnen hatten bloß zu lachen, aber die Mütter zu weinen. Und in unsern Häusern, wo dreißig und fünfzig Parteien in Höfen, Seitenflügeln, Quergebäuden, Kellern und den leer gewordenen Ställen lebten, gab es viel Aufschrein, Schluchzen nachts, Ausbrüche von Jammer und Geheul, wenn die Kinder die letzte Verlustliste brachten, wenn die Postbotin mit bebendem Mund ein Päckchen abgab. Aber sonst hatten wir es gut, auch noch als das große Hungern begann. Waren wir es nicht gewohnt?"
    Hunger der Deklassierten ist das zentrale Thema in Georg Finks Roman, der Hunger in seinen verschiedenen Formen: Hunger nach Nahrung, nach Liebe, nach Bildung, nach Schönheit, nach einem lebenswerten Leben, aber auch das Verlangen nach Wohlstand, Luxus und Aufstieg. Fink zeichnet ein durchaus ambivalentes Bild des Proletariats jener Jahre. Auf der einen Seite der aufopferungsvolle Überlebenskampf, der Zusammenhalt, die Integrität, die Würde des unteren Standes, auf der anderen die soziale und moralische Verwahrlosung, der Sumpf von Alkoholismus, Verbrechen, Gewalt und Prostitution.
    So geht ein Riss durch die Familie des Ich-Erzählers Theodor König. Die mütterliche, jüdische, liebevolle und tugendhafte Wesensart, mit der er sich identifiziert, wird der groben, auf eigenen Vorteil bedachten, blonden und blauäugigen Natur des Vaters gegenübergestellt, dem die Geschwister Henny und Mark ähneln. Die Schwester Henny endet als Prostituierte, Mark als Unterweltgröße im Gefängnis. Der erzählende Bruder Theodor hingegen, der außergewöhnlich begabt war, sollte als Schüler von einem Fabrikanten gefördert werden und aufs Gymnasium gehen. Doch er entschied sich dagegen, um sich von der Mutter und den Geschwistern nicht zu sehr zu entfernen.
    "So ein Kind aus dem Volk hat früh soziales Bewusstsein, es weiß genau, wohin es gehört, was ihm gebührt. Es hat ein Standesgefühl."
    Immer wieder lässt Georg Fink seinen Ich-Erzähler eine reflektierende Haltung einnehmen. Sein Leben und das seiner Familie stehen exemplarisch für das Heer der Hungernden, das auf seinem Zug vom Kaiserreich, durch den Ersten Weltkrieg, über die Barrikaden der Novemberrevolution bis in die Weimarer Republik vergeblich auf ein menschenwürdiges Dasein hoffte - und auch in Zukunft vergebens hoffen wird, wie es am Ende des Romans ebenso resignativ wie prophetisch heißt.
    "Ich denke nicht an das Proletariat, das sich durchsetzt, das mit Würde da ist, besonnt vom politischen Ideal, sondern an die Armen. An den fünften Stand. Wenn in einem Saal tausend Arme sitzen, vor der Tür stehen immer noch die ärmeren. Ich denke an meine Jugend und die Ungezählten, die diese selbe Jugend immer, immer weiterführen. Niemals höre ich auf zu betteln. Niemals hört Vater auf, sein Geld zu vertrinken und die Familie verkommen zu lassen; niemals Mutter, zu waschen, bis sie umfällt; immer geht die Schwester vor die Hunde und kommt der Bruder unters Rad. Man braucht nicht von denen zu reden, die sich selber helfen. Nur von denen, denen nie geholfen werden kann. Nicht einmal von Gott."
    Als der Roman "Mich hungert" 1929 erschien, sorgte er für Furore. Nicht nur weil hier einer, der offenbar viel erlitten hatte, aus dem Dunkeln trat und seine Stimme erhob, sondern auch, weil ihm das so erstaunlich gut gelang. Denn der Roman, der als autobiografisch verstanden wurde, ist sowohl ein zeitgeschichtliches Gesellschaftsporträt, ein ergreifender Familienroman sowie eine detailgenaue Milieustudie.
    Kein Wunder, dass bald Zweifel an der Autorenschaft des völlig unbekannten Georg Fink aufkamen, von dem es hieß, er sei vermutlich nach Hollywood gegangen, um dort als Schauspieler zu arbeiten. Erst Jahre später, als der Roman längst auf den Scheiterhaufen der Nationalsozialisten verbrannt worden war, outete sich der jüdische Schriftsteller Kurt Münzer als Urheber des Buches.
    Münzer, der 1944 im Schweizer Exil starb, war in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte studiert und als Literat bereits etliche Erfolge verbucht. Die Kenntnisse über das Hinterhofberlin der kleinen Leute, das so lebensecht und teilnahmsvoll in "Mich hungert" geschildert wird, hatte er sich durch intensive Recherchen in den Berliner Arbeitervierteln angeeignet, in Vierteln, die heutzutage zu den bevorzugten Wohngegenden der Hauptstadt zählen. Auch dieses Spannungsfeld zwischen dem unvorstellbaren Ausmaß der Armut, die hier herrschte, und den geschichtslosen Fassaden der luxussanierten Gründerzeithäuser machen fünfundachtzig Jahre nach seinem Erscheinen den Reiz dieses Buches aus.
    Georg Fink: "Mich hungert".
    Walde & Graf bei MetroLit, 300 Seiten, 19,99 Euro.