Das zweistöckige Holzhaus in der burmesischen Stadt Katha, in dem vor knapp einhundert Jahren der Engländer Eric Arthur Blair wohnte, steht zwar immer noch, aber es sieht so aus, als würde es demnächst in sich zusammenfallen. Blair trat als Neunzehnjähriger in den Polizeidienst der britischen Kronkolonie Burma ein. Nach fünfjähriger Dienstzeit kehrte er nach England zurück und entschloss sich, nicht nur seinen Beruf zu wechseln, sondern auch seinen Namen. So wurde 1927 aus dem Polizisten Eric Arthur Blair der später weltberühmte Schriftsteller George Orwell.
Im burmesischen Polizeidienst
Es dauerte aber wiederum etliche Jahre, die Orwell als Gelegenheitsarbeiter in England und auch Paris verbrachte, bis er 1934 seinen ersten Roman veröffentlichen konnte. Schon der Titel "Tage in Burma" weist darauf hin, dass er darin seine Erfahrungen im burmesischen Polizeidienst verarbeitet hat. Der kleinen Stadt Katha, in der es nach Reiseberichten heute noch genauso aussieht wie damals, gab er den fiktiven Namen Kyauktada, während er sich selbst in der etwas abgewandelten Figur des Holzhändlers John Flory zu verstecken schien.
"Flory war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mittelgroß, von guter Statur. Er hatte pechschwarzes, borstiges Haar mit tiefem Ansatz, trug einen kurzgeschnittenen Schnurrbart, und seine Haut, von Natur aus fahl, war dunkel von der Sonne. (...) Das erste, was einem an Flory auffiel, war ein hässliches Muttermal, das sich in einem gezackten Halbmond die linke Wange hinunterzog, vom Auge bis zum Mundwinkel."
Der Außenseiter in der Gemeinschaft
Nicht nur wegen des Muttermals ist Flory ein Außenseiter. Es sind vor allem seine gesellschaftspolitischen Ansichten, die bei den in Kyauktada lebenden britischen Geschäftsleuten auf Ablehnung stoßen. Sie treffen sich im sogenannten Europäischen Club, in dem sie sich zu jeder Tages- und Nachtzeit mit reichlich Gin und Whisky versorgen, Zeitung lesen und sich vor allem über die Minderwertigkeit der einheimischen Bevölkerung auslassen. Jeden, der nicht weißer Hautfarbe ist, nennen sie "Nigger", junge Frauen behandeln sie durchweg wie Prostituierte und die Bediensteten und Arbeiter wie ihre Sklaven. Einer der Engländer, Ellis, der Polizeichef von Kyauktada, weiß auch, wie man mit diesen "Niggern" umgehen sollte.
"Tja, die guten alten Deutschen. Die wussten, wie man einen Nigger behandelt. Vergeltungsmaßnahmen! Nilpferdpeitschen! Da wurden Dörfer überfallen, Vieh abgeschlachtet, Felder verbrannt, da gab es Hinrichtungen, die Kerle wurden aus der Kanone geschossen."
Orwell schildert den Rassismus und die brutale Arroganz der Nutznießer des britischen Kolonialismus mit solcher Direktheit, dass sein Verleger den Roman zunächst nicht veröffentlichen wollte. Er fürchtete, einzelne Personen könnten sich in verschiedenen Romanfiguren wiedererkennen. Aber Orwell hatte kein Pamphlet und auch keinen Schlüsselroman geschrieben.
Die Liebe zu Zeiten des Kolonialismus
Vordergründig erzählt er voller Einfallsreichtum die wechselvolle Liebesgeschichte zwischen Flory und der jungen, mittellosen Engländerin Elizabeth. Sie wurde zu Verwandten nach Kyauktada geschickt, um dort nach einer guten Partie Ausschau zu halten. Orwell beschreibt sie als jugendstilig zeitlose Schönheit.
Ebenso schwärmt er aber auch von der tropischen Vielfalt der Pflanzenwelt Burmas und schätzt die schüchterne Natürlichkeit der einfachen Bevölkerung. Doch dass es auch unter den Burmesen eine machthungrige Oberschicht gibt, erfahren wir gleich zu Beginn des Romans anhand der Figur des Unterbezirksrichters U Po Kyin. Er ist ein fettleibiger korrupter Beamter, der sich seiner vielen Vergewaltigungen rühmt und sich sein Geld mit brutalen Erpressungsmethoden beschafft. Aber:
"Nach buddhistischer Überzeugung werden diejenigen, die in ihrem Leben Böses getan haben, die nächste Inkarnation in Gestalt einer Ratte, eines Froschs oder sonst eines niedrigen Tiers verbringen. U Po Kyin war ein guter Buddhist und gedachte gegen solche Gefahr Vorsorge zu treffen."
Solche "Vorsorge" sollte etwa darin bestehen, dass er in seinen letzten Lebensjahren möglichst viele Pagoden bauen würde, solche, wie sie bis heute in Bagan zu bewundern sind. Bis zu deren Vergoldung aber könnte er weiter ungestraft vergewaltigen und intrigieren. Denn U Po Kyin hat ein großes irdisches Ziel: Er will in den Europäischen Club der britischen Herrscher aufgenommen werden. Um das zu erreichen, verleumdet er seinen Kontrahenten, den indischen Arzt und Verbündeten Florys Dr. Veraswami durch anonyme Schmähbriefe, finanziert einen Aufstand der Einheimischen, der natürlich mit seiner Hilfe niedergeschlagen wird, und schafft es am Ende sogar mit perfider Hinterlist, Elizabeth so sehr von Flory zu entfremden, dass sich der Unglückliche das Leben nimmt.
Lebendige Bilder der Vergangenheit
So komplex der Roman in seinen Themen und Figuren erscheint, so durchdacht sind sein Aufbau und die Ausführung der Handlungsstränge. Nach und nach lernen wir die unterschiedlichsten Protagonisten kennen, und vor unseren Augen entstehen lebendige Bilder der Vergangenheit und der ursprünglichen Schönheit des fernen Landes. Zugleich aber zeigt uns Orwell das in der Korrumpierbarkeit charakterlich schwacher Individuen mitbegründete System menschenverachtender Ideologien, das bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Orwells frühem Meisterwerk "Tage in Burma", stilistisch souverän und landeskundlich kenntnisreich übersetzt von Manfred Aillé, kann man nur möglichst viele Leser wünschen.
Soweit es das zweistöckige Orwell-Holzhaus in Katha betrifft, bleibt die Hoffnung, dass die Regierung von Myanmar der Initiative einiger burmesischer Orwell-Fans folgt und die spinnwebenverhangenen Räume irgendwann zu einem Orwell-Museum umgestaltet.
George Orwell: "Tage in Burma"
aus dem Englischen von Manfred Allié
mit einem Nachwort von Manfred Papst
Dörlemann Verlag, Zürich. 463 Seiten, 30 Euro.
aus dem Englischen von Manfred Allié
mit einem Nachwort von Manfred Papst
Dörlemann Verlag, Zürich. 463 Seiten, 30 Euro.