Dienstag, 19. März 2024

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Geplante Neuerungen im Infektionsschutzgesetz
Lindner (FDP) kritisiert Pandemiepolitik des "Stillstands"

Christian Lindner hat sich gegen die geplanten Neuerungen des Infektionsschutzgesetzes ausgesprochen. Was in der ersten Phase der Pandemie richtig war, sei nach über einem Jahr zu wenig, sagte der FDP-Chef im Dlf. Der erneute Lockdown sei keine Lösung. Man könne mittlerweile mit Hygiene- und Testkonzepten Öffnungen ermöglichen.

Christian Lindner im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 12.04.2021
Christian Lindner, Fraktionsvorsitzender und Parteivorsitzender der FDP, spricht im Bundestag nach der Regierungserklärung von der Bundeskanzlerin zur Corona-Pandemie und zum Europäischen Rat.
Die FDP werde dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes in der vorliegenden Form nicht zustimmen, so Parteichef Lindner (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
Christian Lindner plädiert für vorsichtige Lockerungen begleitet durch Hygenie- und Testkonzepte. Die Antwort auf die die Pandemie könne nach einem Jahr nicht der erneute Lockdown und Stillstand sein, sagte der FDP-Chef im Dlf. "Es gibt Hygienekonzepte, die erprobt werden. Wir haben die Möglichkeit zu testen und dann testbasiert auch Eröffnungen verantwortungsvoll durchzuführen - all das reflektiert dieser vorliegende Gesetzentwurf leider nicht".
In der vorliegenden Form wolle man dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht nicht zustimmen. Die konkret vorgeschlagenen Maßnahmen seien verfassungsrechtlich fragwürdig und teilweise nicht einmal epidemiologisch wirksam. "Ich denke dabei an die nächtliche Ausgangssperre", so FDP-Chef Lindner. Diese sei bis auf wenige Ausnahmefälle unverhältnismäßig.
Melle, Deutschland 16. Maerz 2021: In einem Restaurant steht auf dem Tresen eine kleines Hinweisschild, welches auf die Maskenpflicht hinweist. vor dem Schild steht eine Flasche mit Desinfektionsspray. Zur Zeit sind die Zapfhähne in dem Lokal nach oben gedreht, da wegen dem Lockdown zur Bekämpfung der Corona-Pandemie keine Gasstätten geöffnet haben dürfen.
Was regelt das Infektionsschutzgesetz und wie soll es geändert werden?
Nach einem Jahr Pandemie mit einem Flickenteppich an Corona-Regeln soll künftig der Bund einheitliche Maßnahmen vorgeben können. Eine zentrale Rolle spielt hier das Infektionsschutzgesetz.
Die Auswirkungen von Ausgangssperren auf das Infektionsgeschehen sei zu gering. Das hätten auch Obergerichte geurteilt. "Es geht in Wahrheit ja aber darum, Ansammlungen von Menschen, Wohnungspartys zu verhindern." Um das zu verhindern, gebe es aber mildere Mittel, so Lindner. Eine pauschal verhängte Ausgangssperre sehe man prinzipiell kritisch.

Kritik an Fokus auf 100er-Inzidenz

Einheitliche bundesweite Regelungen sehe die FDP aber als notwendig an. "Jedem Infektionsszenario, jedem Pandemiegeschehen muss konkret eine Maßnahme oder ein Bündel an Maßnahmen zugeordnet werden, wenn es um die Einschränkung von Grundrechten geht." Als Beispiele nannte er die Auslastung der Intensivmedizin und die Positivquote der Coronatests.
"Die 100er-Inzidenz ist nicht hinreichend geeignet, um das Pandemie-Geschehen abzubilden", so Lindner. "Allein die Frage: Warum sind es 100, warum nicht 75, warum nicht 125?" Der Wert sei nicht epidemiologisch begründet, so Lindner.
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Sollte die FDP bei ihrem Nein zu den Änderungen im Infektionsschutzgesetz bleiben, müsste sich Nordrhein-Westfalen bei der Abstimmung im Bundesrat enthalten. Ähnliches könnte in Bayern passieren; dort lehnen die Freien Wähler das Vorhaben ab.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Jörg Münchenberg: Herr Lindner, bedeutet der vorliegende Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes eine Vollbremsung bei der Corona-Bekämpfung?
Christian Lindner: Es ist eine Fortsetzung der Politik, die schon seit 14 Monaten praktiziert wird. Die Antwort auf die Pandemie ist der Stillstand. Was in der ersten Phase der Bekämpfung des Virus richtig war, das ist zu wenig nach über einem Jahr. Wir haben jetzt intelligentere Mittel.
Es gibt Hygienekonzepte, die erprobt werden. Wir haben die Möglichkeit, zu testen und testbasiert dann auch Öffnungen verantwortungsvoll durchzuführen. All das reflektiert dieser vorliegende Gesetzentwurf leider nicht.

"Ausgangssperren sehen wir als unverhältnismäßig an"

Münchenberg: Trotzdem, Herr Lindner, sind sich eigentlich viele doch einig. Nach der Kakophonie in den letzten Monaten, wo Bund und Länder teilweise gemacht haben was sie wollten, soll es jetzt einheitliche Regeln geben, und die sollen auch durchgesetzt werden. Warum sieht die FDP das so kritisch?
Lindner: Ganz im Gegenteil sehen wir einheitliche Regeln als notwendig an. Wir haben selbst im Dezember des vergangenen Jahres bei der damals anstehenden Novelle des Infektionsschutzgesetzes klare "Wenn-Dann-Regeln vorgeschlagen und auch in den Bundestag als Gesetzentwurf eingebracht.
Jedem Infektionsszenario, jedem Pandemiegeschehen muss konkret eine Maßnahme oder ein Bündel von Maßnahmen zugeordnet werden, wenn es um die Einschränkung von Grundrechten geht. Nur die konkret jetzt vorgeschlagenen Maßnahmen, die sind verfassungsrechtlich fragwürdig und teilweise epidemiologisch noch nicht einmal wirksam.
Ich denke an die nächtliche Ausgangssperre. Wenn ein geimpftes Paar daran gehindert wird, einen Abendspaziergang zu machen, dann hat das keine Auswirkung auf das Infektionsgeschehen, aber massive Einschränkungen von Grundrechten zur Folge.
Oberhausen, Ruhrgebiet, Nordrhein-Westfalen, Deutschland - Ausgangssperre in Oberhausen von 21 bis 5 Uhr, die Stadt Oberhausen informiert über ein Display die Bevölkerung in Zeiten der Coronapandemie beim zweiten Lockdown am Tag vor Heiligabend.
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Der Staatsrechtler Uwe Volkmann warnt vor Fallstricken, sollte ein geändertes Infektionsschutzgesetz Maßnahmen in der Pandemie noch konkreter festlegen. Für einzelne Maßnahme müsse die Verhältnismäßigkeit geprüft werden.
Münchenberg: Noch mal zur Klarstellung. Geht es Ihnen grundsätzlich um die Ausgangssperren, oder geht es Ihnen auch um die Inzidenz-Zahl 100? Denn erst ab der sollen ja diese Ausgangssperren greifen.
Lindner: Ja sowohl als auch. Ausgangssperren sehen wir bis auf wirklich wenige Ausnahmefälle als unverhältnismäßig an, weil die Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen nicht gegeben oder zumindest sehr gering sind. So haben ja auch Obergerichte bereits geurteilt.
Es geht in Wahrheit ja darum, Ansammlungen von Menschen, Wohnungspartys und anderes zu unterbinden. Dafür kann man aber keine generelle Ausgangssperre verhängen. Da gibt es mildere Mittel, um das zu erreichen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Münchenberg: Auf der anderen Seite, Herr Lindner, wenn ich da kurz eingreifen darf. Viele andere Länder haben das ja auch gemacht, Frankreich, Spanien oder Portugal - teilweise, muss man sagen, ja durchaus mit Erfolg bei Ausgangsbeschränkungen.
Lindner: Es gibt Studien, die belegen, welchen Beitrag dazu die nächtlichen Ausgangssperren geleistet haben. Das ist überschaubar. Und selbst wenn, sind wir der Staat des Grundgesetzes und bei uns gelten die Grundrechte für individuell die Bürgerinnen und Bürger. An denen hat sich der Staat zu orientieren.
Sie sprachen auch die 100er-Inzidenz an. Dieser Wert ist nicht hinreichend geeignet, um das Pandemiegeschehen abzubilden. Er schwankt, er ist politisch gegriffen. Allein die Frage, warum sind es 100, warum nicht 75, warum nicht 125, das ist ein politisch gegriffener, kein epidemiologisch begründeter Wert.
Zudem drückt er ja gar nicht aus, wenn in einem Landkreis - die Kritik des Landkreistages tauchte ja im Beitrag eben auf - es einen Cluster-Ausbruch gibt - wir hatten solche in einzelnen Betrieben etwa der Fleisch verarbeitenden Industrie -, dann ist das etwas völlig anderes als ein diffuses individuelles Ausbruchsgeschehen, und deshalb ist dieser Wert alleine nicht hinreichend bestimmt.
Münchenberg: Das habe ich noch nicht ganz verstanden. Sie sagen, grundsätzlich lehnen wir Ausgangsbeschränkungen ohnehin ab. Jetzt haben Sie gesagt, die Zahl 100 ist eine politische Zahl.
In der Tat: die ist virologisch nie gesetzt worden. Aber wenn andere Kriterien noch dazukämen, wie zum Beispiel Auslastung der Intensivbetten, könnte dann die FDP den Beschluss mittragen, oder sagen Sie grundsätzlich, Ausgangsbeschränkungen gehen für uns gar nicht?
Lindner: Wenn es ein Kriterienraster gibt von der Auslastung der Intensivmedizin, der Positivquote an der Gesamtzahl der Tests und weiterem mehr - wir haben im Februar ein solches Kriterienraster in den Bundestag eingebracht -, dann wäre das ein Fortschritt. Daran kann man dann Maßnahmen bemessen.
Beispielsweise gibt es Handel, gibt es Handel im Modell der Abholung vorbestellter Waren, gibt es Außengastronomie. Heute öffnet in Schleswig-Holstein Außengastronomie. Daran kann man das bemessen. Die Ausgangssperre pauschal sehen wir prinzipiell kritisch und hätten sie nicht in einen Maßnahmenkatalog aufgenommen.
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"Ich glaube, es ist sehr viel Symbolpolitik"

Münchenberg: Aber wenn der Bund bei dieser Position bleibt und sagt, wir bestehen auf der Ausgangssperre, heißt dies dann im Umkehrschluss, die FDP wird nicht zustimmen?
Lindner: Das ist korrekt. Und man muss noch eine weitere Frage aufwerfen. Ich habe mich gewundert, dass Herr Söder und Herr Laschet ja auch für dieses Bundesgesetz plädieren. Meine Frage an die Herren ist, warum setzen Sie das, was Sie offenbar als notwendig erachten, nicht in Ihren eigenen Ländern um.
Ganz im Gegenteil! Das bayerische Landeskabinett hat in der vergangenen Woche noch bei einer Inzidenz-Zahl von 100 bis 200 das sogenannte Termin-Shopping nach negativem Test als möglich beschlossen. Jetzt plötzlich, wenige Tage später, plädiert Herr Söder für völlig andere bundesgesetzliche Regelungen. Wenn er sie für notwendig erachten würde, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bekommen im Freistaat Bayern, könnte er sie ja im eigenen Lande umsetzen. Deshalb ist hier sehr viel Politik im Spiel.
Ich glaube, es ist sehr viel Symbolpolitik sogar im Spiel. Länder, Kommunen wären bereits in der Lage, Maßnahmen umzusetzen, wenn das Pandemiegeschehen es nötig macht.
Markus Söder (r, CSU), Ministerpräsident von Bayern und CSU-Vorsitzender, kommt neben Armin Laschet, CDU-Bundesvorsitzender und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, zu einer Pressekonferenz bei der Klausurtagung des Geschäftsführenden Vorstands der Unionsfraktion im Bundestag
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Nun ist es offiziell: Markus Söder, CSU-Chef und Ministerpräsident von Bayern, und Armin Laschet, CDU-Vorsitzender und Ministerpräsident von NRW, wollen beide Kanzlerkandidat der Union werden. Wie geht es jetzt weiter?
Münchenberg: Herr Lindner, passiert jetzt nicht auch wieder das, was wir alle von der Bund-Länder-Konferenz kennen? Im Prinzip ist man sich eigentlich einig, aber wegen des Streit um die Details macht am Ende doch jeder das, was er will, oder verweigert die Zustimmung?
Lindner: Nein! Da bin ich nicht Ihrer Meinung. Es ist ähnlich wie bei der Osterruhe. Es gibt ein sehr schlecht im Detail und sehr schlecht grundsätzlich vorbereitetes Vorhaben, das am Samstagmittag Ländern und den Bundestagsfraktionen zugestellt worden ist mit der Bitte, doch bis Sonntag, zwölf Uhr, Verbesserungsvorschläge zu machen. So kann man nicht arbeiten. Das ist kein geordnetes Verfahren.
Ich sage noch mal: Epidemiologisch sind die Maßnahmen fragwürdig und sie sind verfassungsrechtlich in hohem Maße angreifbar. Deshalb ist das kein Beitrag zur Pandemiebekämpfung, wie er nach über 14 Monaten eigentlich notwendig wäre.
Münchenberg: Herr Lindner, gestatten Sie mir noch eine ganz andere Frage zu einem ganz anderen Thema.
Lindner: Ja.
Münchenberg: Mit wem würde denn die FDP lieber regieren, wenn es denn so käme, mit einem Kanzler Laschet oder einem Kanzler Söder?
Lindner: Mit dem Ministerpräsidenten Laschet arbeiten wir ja erfolgreich in Nordrhein-Westfalen zusammen. Aber wir haben keine Präferenz nur für einen Spitzenkandidaten der Union. Die Frage müssen die Unions-Parteien mit sich selber beantworten. Und vor allen Dingen – darauf hat Herr Laschet ja hingewiesen – muss die Union ihre Kursfragen klären: Was will die Union für das Land? Und daraus ergibt sich dann eine Nähe oder Ferne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.