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Gerechtigkeit
Ein Begriff, viele Facetten

Gerechtigkeit ist eine Grundnorm des menschlichen Zusammenlebens. Ursprünglich bestimmt sie das, worauf die Menschen ein Recht haben. Heutzutage wird der Begriff zunehmend mit sozialer Gerechtigkeit gleichgesetzt. Doch was darunter zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Von Ingeborg Breuer | 15.06.2017
    Eine Statue der Justitia
    Jeder definiert Gerechtigkeit in Bezug auf seine eigene SItuation. Ursprünglich ist die Göttin Justitia blind für Stand und Herkunft. (dpa / picture alliance / David Ebener)
    "Wenn es bei einer Familie mit Kindern, deren Eltern arbeiten, nicht reicht, die Miete zu bezahlen, dann geht es nicht gerecht in diesem Land zu. Wenn ein Konzernchef verheerende Fehlentscheidungen trifft und dafür noch Millionen an Boni einkassiert, dann geht es in diesem Land nicht gerecht zu. Applaus."
    Seitdem Martin Schulz zum Kanzler-Kandidaten der SPD gekürt wurde, ist klar: Sein Kernthema ist "Soziale Gerechtigkeit". Und dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht, sehen auch viele Deutsche so. Doch - was verstehen sie darunter?
    "Soziale Gerechtigkeit ist, wenn Deutsche nicht hinten an stehen müssen, erst kommen die Flüchtlinge, dann lange nix, dann die Deutschen." - "Soziale Gerechtigkeit setzt voraus, dass alle Menschen gleich gestellt sind, egal welche Hautfarbe, welches Geschlecht sie haben." - "Dass alle Menschen finanziell gut zurechtkommen und nicht arbeiten müssen, wenn sie 70 sind." - "Was ist sozial gerecht? Sollen die Fleißigen immer mehr arbeiten und immer mehr Steuern zahlen?"
    Ein Sammelsurium an Meinungen, offensichtlich stark davon geprägt, an welcher Stelle der Gesellschaft man gerade steht. Doch statt dem Vorteil einzelner Interessengruppen zu dienen, soll Gerechtigkeit ja gerade einen Ausgleich schaffen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Interessen.
    "Der Gesichtspunkt der Unparteilichkeit ist ganz wichtig. Wir kennen doch die Darstellung der Justitia mit verbundenen Augen. Die soll ja genau das symbolisieren, nicht das blind entschieden wird, sondern unparteilich, unabhängig, ob man mächtig oder ohnmächtig, Mann oder Frau, reich oder arm ist."
    Professor Ottfried Höffe, emeritierter Philosoph der Uni Tübingen, schrieb ein Buch über Gerechtigkeit:
    "Gerechtigkeit ist das, was die Menschen einander schulden, Wohltätigkeit ist das, was darüber hinaus geht."
    Wichtig für das menschliche soziale Zusammenleben
    Gerechtigkeit ist eine Grundnorm des menschlichen Zusammenlebens. Ursprünglich bestimmt sie das, worauf die Menschen ein Recht haben. Sie können es einfordern, im Gegensatz etwa zu Wohlwollen oder Großzügigkeit, worum man nur bitten kann. Zentral für das Gerechtigkeitsempfinden ist die Idee der Gleichbehandlung aller Menschen, so wie es in modernen Verfassungen dann niedergelegt ist.
    "Schauen wir in unser Grundgesetz in die ersten 20 Artikel, da werden Grund- und Menschenrechte genannt. Erst mal der Gedanke der Gleichheit, alle sind vor dem Gesetz gleich, Mann und Frau sind gleich. Darüber sind wir uns einig, dass wir das einander schulden."
    Soziale Gerechtigkeit soll dann regeln, wie Chancen, Ressourcen, Güter und Lasten auf die Mitglieder einer Gesellschaft verteilt werden. Keine Gruppe darf durch diese Verteilung benachteiligt werden, die eigenen Lebenspläne zu verwirklichen und keine Gruppe darf ihre eigenen Lebenspläne auf Kosten einer anderen Gruppe verwirklichen.
    Oft wird soziale Gerechtigkeit mit der Idee einer sozialen Gleichheit verbunden, wie Stefan Hradil, emeritierter Professor für Soziologie und Ungleichheitsforscher erläutert:
    "Fangen wir an mit der Gerechtigkeit, die oft politisch im Vordergrund steht, Gleichheitsgerechtigkeit. Die Gesellschaft soll entweder ganz gleich oder nicht zu ungleich sein."
    "Nicht zu ungleich", damit meinen viele die Verteilung von materiellen Gütern:
    "Also wenn in einem Land die Kluft zwischen Arm und Reich sich immer weiter vertieft, dann muss man sich fragen, ob es sich dabei noch um einen Sozialstaat handelt."
    Professor Christoph Butterwegge, Armutsforscher, parteilos, war der Kandidat der Linken für die Bundespräsidentenwahl in diesem Jahr. Er hält die wachsende Spaltung zwischen Arm und Reich für ungerecht. Der Sozialstaat, so Butterwegge:
    "Kann auch nicht zusehen, wenn sich der Reichtum in wenigen Händen konzentriert und auf der anderen Seite immer mehr Menschen ein Armutsrisiko zu tragen haben."
    Ein Wahlplakat der Partei Die Linke mit der Aufschrift "Solidarit
    Die Partei Die Linke geht in ihrem Wahlpprogramm mit ihren Gerechtigkeitsidealen am weitesten. (dpa-Zentralbild)
    Im deutschen Parteienspektrum geht die Linke am weitesten mit ihren Gleichheitsidealen, die sie durch eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums erreichen will. Niemand brauche eine Milliarde, erklärte unlängst der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Dietmar Bartsch in einem Interview mit der "Welt" und schlug vor, einen solchen "obszönen Reichtum" mittels Steuern zu verhindern. Konkret: 75 Prozent Steuern ab einer Million, zudem eine Vermögenssteuer von fünf Prozent ab einer Million Euro. Praktisch allerdings wäre die Forderung wohl kaum zu realisieren, wie man vor fünf Jahren in Frankreich beobachten konnte:
    "Da muss man einfach die Steuern erhöhen, ist eine ganz einfache Antwort. Typischerweise wird die immer von Parteien erhoben, die sich in der Opposition befinden. Wir leben in Zeiten, wo nicht nur das Vermögen ein flüchtiges Reh ist, sondern auch die qualifizierten Arbeitskräfte. Also als Beispiel dient der französische Präsident Francois Holland, der kurz bevor er gewählt wurde, angekündigt hatte, die Einkommenssteuer um 70 Prozent anzuheben. Schon die Ankündigung hat eine so große Flucht an Kapital und qualifizierter Arbeit verursacht, dass er nie auf die Idee zurückgekommen ist."
    Doch was praktisch nicht realisierbar ist, muss deshalb ja noch nicht ungerecht sein. Die grundsätzliche Frage ist, ob die angedachte Steuerbelastung für Reiche und Superreiche "Sozial. Gerecht. Für alle" ist, so das Motto des Wahlprogramms der LINKEN.
    "Warum soll Herr Gates, der wirklich was Tolles erfunden hat und es auf den Markt geworfen hat, warum soll der nicht genug Geld haben? Wir sind in einer Marktgesellschaft und da geht es auch darum, dass Angebot und Nachfrage die Preise steuern. Und das gilt genauso für die Löhne und Arbeitseinkommen."
    Professor Stefan Liebig, Soziologe mit dem Schwerpunkt Gerechtigkeitsforschung, findet auch enorme Unterschiede in den Einkünften unproblematisch, wenn sie durch Leistung gerechtfertigt sind. Einem Top-Spieler in der Bundesliga, der laufend Tore schießt, so der Bielefelder Forscher, würden seine Millionen kaum geneidet. Einem Manager, der am Ende auch noch für sein Versagen belohnt wird – schon. Etwa wenn Ex VW-Vorstand Martin Winterkorn trotz "Dieselgate" eine monatliche Betriebsrente von 93.000 Euro bekommt.
    Ton Liebig: "Wenn Manager ihre Unternehmen so führen, dass die hohe Verluste einfahren oder auch Schaden in Unternehmen entsteht, wenn die dann noch hohe Bezüge bekommen, dann wird es massiv als ungerecht wahrgenommen, weil gegen grundlegende Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit verstoßen würde."
    Wachsende Bedeutung von Leistungsgerechtigkeit bedroht staatliche Fürsorgepflichten
    Diese "Leistungsgerechtigkeit", von der Stefan Liebig hier spricht, sieht durchaus ungleiche Belohnungen für ungleiche Bemühungen vor. Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Ein Grundsatz, der von der Mehrheit der Deutschen übrigens geteilt wird. Aber:
    "Was ist denn Leistungsgerechtigkeit. Wer definiert denn, was Leistung ist?"
    Fragt Christoph Butterwegge und verweist auf die diffuse Bedeutung dieses Begriffs:
    "Ist Leistung das, wie ich sagen würde, was Erzieherinnen, was Krankenschwestern, was Altenpfleger tun? Oder ist Leistung das, dass man den guten Anlagetipp eines Anlageberaters befolgt als Hyperreicher und ein Aktienpaket kauft und zum richtigen Zeitpunkt verkauft?"
    Mit der wachsenden Bedeutung von Leistungsgerechtigkeit, kritisiert der Armutsforscher, blieben die Fürsorgepflichten des Staates mehr und mehr auf der Strecke.
    "Die Väter des Grundgesetzes, die hatten natürlich im Sinn, dass sich der Sozialstaat besonders um jene kümmern muss, die ihn brauchen, Obdachlose, Drogenabhängige, Schwerstbehinderte, Menschen, die auf die eine oder andere Art und Weise benachteiligt sind. Und die die keine Leistung erbringen, um die soll sich Politik nicht mehr kümmern? Ich finde das ist eine solche Perversion des Sozialstaatsverständnisses, dass es verheerender nicht sein könnte."
    Hartz-IV-Gesetze als Synonym für soziale Ungerechtigkeit
    Ein unbekannter Street-Art-Künstler hat auf einer Mauer an einem besetzten Haus in Berlin im Bezirk Mitte dieses Bild geschaffen, das seine Meinung zu den Hartz IV Gesetzen drastisch wiedergibt, aufgenommen am 17.05.2014.
    Ein unbekannter Street-Art-Künstler hat auf einer Mauer an einem besetzten Haus in Berlin im Bezirk Mitte dieses Bild geschaffen, das seine Meinung zu den Hartz IV Gesetzen drastisch wiedergibt, aufgenommen am 17.05.2014. (picture alliance / Wolfram Steinberg)
    Im Jahr 2005 trat Christoph Butterwegge wegen der Hartz-IV-Gesetze aus der SPD aus. Für ihn galten die Reformen als Synonym für soziale Ungerechtigkeit. Und in der Tat: Die Gesetze markierten eine Wende:
    "Der zentrale Kern dieser Reform bestand dann ... also den Sozialstaat in die Richtung hin zu entwickeln, nur die zu fördern, die in nicht selbst verschuldete Notlagen kommen und für jeden ein gewisses Mindestmaß an Absicherung garantiert."
    Vom fürsorgenden zum 'aktivierenden' Sozialstaat, hieß damals der Slogan. Es gelte nicht mehr allein, sozial Schwache vor materieller Not zu bewahren, sondern sie zu befähigen, auf eigenen Füßen zu stehen. Ähnlich wie es der indische Wirtschaftswissenschaftler Armartya Sen beschrieb. Zwar könnten Sozialtransfers zur Abfederung individueller Notlagen durchaus hilfreich sein, schrieb er in seinem Buch über "Die Idee der Gerechtigkeit". Doch am besten sei armutsbedrohten Menschen geholfen, wenn man ihnen ein breit gefächertes Set an Fähigkeiten ermöglicht. Anders gesagt: Ihnen Chancen eröffnet. Chancen, zum Beispiel durch Bildung. Darin allerdings, meint Stefan Hradil, müsste Deutschland besser werden.
    "Es gibt keine Gesellschaft in der ganzen Welt, wo die Kinder unterschiedlicher Schichten gleiche Chancen der Leistungsentwicklung in der Schule hätten und gleiche Chancen bei den Schulerfolgen haben. Allerdings muss man hinzufügen, es gibt ne ganze Menge Gesellschaften in der Welt, die es geschafft haben, diese schichtspezifischen Chancenungleichheiten kleiner zu machen als wir in Deutschland. Wir sind da nicht gut im internationalen Wettbewerb."
    Fehlende Chancengleichheit
    Kinder sitzen im Klassenzimmer
    Noch immer bestimmt in Deutschland die soziale Herkunft die Bildungschancen für Kinder. (dpa/ picture alliance/ Bernd Wüstneck)
    "Wir wollen, dass es gerecht und fair zugeht."
    Tut es aber nicht, finden neben Martin Schulz auch viele Deutsche. Nach einer aktuellen Allensbach-Umfrage sehen 70 Prozent der Deutschen die Chancengerechtigkeit für Kinder nicht verwirklicht.
    Ebenso stimmten im vergangenen Jahr unter den 30 bis 59-Jährigen 64 Prozent der Aussage zu, dass es in Deutschland bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht gerecht zugehe. Dass die Ungleichheit in Deutschland wächst, das bestätigt auch Stefan Hradil:
    "Wir haben ja seit dem Jahr 2005 sinkende Arbeitslosigkeit in Deutschland. Die Einkommensverhältnisse des untersten und vielleicht des zweiten Zehntels fallen seitdem nicht weiter ab. Anders ausgedrückt, die Armut wird nicht größer in Deutschland seit zehn Jahren, sie tritt ungefähr auf der Stelle, während die einkommensstärksten zehn Prozent weiter zulegen und ihren Abstand zur Mitte weiter vergrößern.
    Wir haben insgesamt eine etwas gebremste, aber weiter wachsende Ungleichheit, aber hauptsächlich weil oben die Spitzeneinkommen und sehr guten Einkommen weiterwachsen."
    Allerdings schätzen 75 Prozent der Befragten ihre eigene Lebensqualität als gut oder sehr gut ein. 39 Prozent empfanden die letzten fünf Jahre sogar als wirtschaftlichen Aufstieg, während lediglich 20 Prozent angaben, wirtschaftlich schlechter da zu stehen. Und 70 Prozent der Deutschen bewerten sogar ihr Einkommen als gerecht.
    "Wenn wir Leute fragen, wie gerecht empfindest du dein Einkommen, können wir gerade in den letzten vier Jahren in dem Niedrigeinkommensbereich eine Abnahme der Ungerechtigkeitserfahrung feststellen. Da hat sich, und das vermuten wir, durch die Einführung des Mindestlohns was getan."
    "Mir persönlich ist es doch egal, ob die Milliardäre eine oder drei Milliarden haben. Wichtig ist zu sehen, wie gut geht es den Schlechtestgestellten? Wenn die Differenz zwischen Arm und Reich im Sozialismus geringer ist, aber den Schlechtestgestellten geht es grottenschlecht, dann wären sie ja dumm, wenn sie sagen, lieber nicht ganz so Reiche an der Spitze. Wenn das Gesamtsystem dafür sorgt, dass ich ein nicht nur einfaches, sondern gutes Auskommen habe, dann bin ich doch mehr als zufrieden."
    "Die Menschen wissen, man kann nicht alles zugleich kriegen"
    Mit seinem ostentativen Statement sieht sich Ottfried Höffe in der Tradition des amerikanischen Philosophen John Rawls. Der befand in seiner "Theorie der Gerechtigkeit", soziale und ökonomische Ungleichheit sei durchaus in Ordnung, wenn sie, so wörtlich, "zum größten zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten" beitrage.
    Dass dies zur Zeit in Deutschland der Fall ist, würden allerdings viele Deutsche verneinen. Richtig ist aber wohl, dass die Empörung über Gerechtigkeitslücken nachlässt, wenn viele Menschen sich materiell gesichert fühlen.
    "Das wirtschaftliche Hemd ist den meisten Menschen doch näher als der Rock der sozialen Gerechtigkeit. Die Menschen wissen, man kann nicht alles zugleich kriegen, eine gewisse Negativseite dieser Prosperitätsentwicklung ist, dass die sozialen Verhältnisse auseinandergehen. Das gefällt den wenigsten Menschen, aber ist eben nicht so wichtig wie ihr eigenes Wohlleben."
    Das Thema Gerechtigkeit nicht vernachlässigen
    Empörungsrhetorik gegenüber Gerechtigkeitslücken scheint zur Zeit nicht recht zu zünden. Das heißt aber nicht, dass es solche Lücken nicht gibt. ZUM BEISPIEL Steuertricks von Unternehmen, Managervergütungen, die kalte Steuerprogression im Mittelstand, der Niedriglohnsektor.
    Gerade unsere wohlhabende Gesellschaft sollte das Thema Gerechtigkeit nicht vernachlässigen. Zumal sie dank ihres Wohlstands gute Chancen hat, sich ihr anzunähern.
    "Gerechtigkeit ist ein wichtiges Thema. Und gerade der Sinn für Ungerechtigkeit wird in unserer Gesellschaft immer mehr relevant, weil, dass wir alle Bürger und gleich sind, ist sehr verankert. Es ist wichtig, auf der politischen Ebene über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu diskutieren. Aber notwendig ist, die Unterschiedlichkeit, Vielfältigkeit dieser Idee von Gerechtigkeit im Blick zu haben."