Gerster: Weder Traumjob noch strafversetzt, sondern ich fühle mich in die Pflicht genommen, und ich warte mit einer gewissen Ungeduld auf die Ergebnisse der Reformkommission, weil wir spätestens dann starten werden mit wichtigen Umbaumaßnahmen. Und später kommt dann der Gesetzgeber, der noch einiges machen muss, damit wir wirklich Erfolg haben können.
Japs: Beim Amtsantritt haben Sie zahlreiche Veränderungen bereits angekündigt. Wurden denn schon erste Umsteuerungen in Angriff genommen?
Gerster: Ich habe in der Zeit zwischen meiner Mainzer Ministeraufgabe und dem Vorstandsjob hier in Nürnberg mich geäußert über notwendige arbeitsmarktpolitische Reformen, die nur zum Teil mit der BA als Institution zu tun haben. Diese Reformen sind zum Teil Agenda für die nächste Wahlperiode, und ich hoffe, dass meine Vorschläge zur Fortsetzung einer Reformpolitik - vieles läuft ja auch, Job-Aktiv-Gesetz zum Beispiel - zur Fortsetzung dieser Reformpolitik aufgegriffen werden nach der Bundestagswahl. Jetzt gehen wir natürlich sehr intensiv an unsere Hausaufgaben und bereiten alle notwendigen Schritte vor, damit wir im Sommer, wenn der Bericht vorliegt, sofort starten können.
Japs: Was reizt Sie besonders an Ihrem neuen Job?
Gerster: Mich reizt die Aufgabe der Reform eines wichtigen Zweiges des Sozialstaates und die Reform einer bundesweiten staatlichen Einrichtung, die gleichwohl eine Sozialversicherung ist mit Selbstverwaltung, wie es sie in dieser Größenordnung nicht mehr darüber hinaus gibt. Ich möchte gern nachweisen, dass der Sozialstaat reformbedürftig - aber auch reformfähig ist.
Japs: In den zurückliegenden Wochen haben Sie zahlreiche Arbeitsämter besucht. Konnten Sie dabei Ansätze einer modernen Verwaltung kennenlernen, die ausgebaut werden sollten, oder muss ganz von vorn angefangen werden?
Gerster: Es gibt sehr kundige, es gibt auch sehr findige Arbeitsamtsdirektoren und mittlere Führungsleute in den Ämtern - 181 an der Zahl in ganz Deutschland -, und es gibt, wenn Sie so wollen, gute 'Insellösungen' - also zum Beispiel auch sehr originelle Verbesserungen des internen Services, um Reibungsverluste abzubauen, Nachsteuerungen der Teamstrukturen im Arbeitsamt 2000, es gibt findige DV-Lösungen, die weiter sind als das, was zentral vorgegeben und durchgesetzt wird. Also, es gibt viele interessante Modelle, aber es fehlt noch an dem best practice, es fehlt gewissermaßen an einem Wettbewerb der besten Lösungen, und es fehlt auch an der einen oder anderen Stelle an Freiheitsgraden, damit eben auch neue Wege noch engagierter gegangen werden können.
Japs: Und was haben Sie als größten Mangel festgestellt?
Gerster: Der größte Mangel ist der bürokratische Ballast, der aber zum nicht geringen Teil auch vom Gesetzgeber kommt. Das SGB III - das Sozialgesetzbuch III, unsere Bibel oder auch unser Handwerkszeug, wenn man so will - ist allein in vier Jahren 41 mal vom Bundesgesetzgeber geändert worden, und dann gibt es natürlich zu jeder Gesetzesänderung weitere verwaltungsinterne Weisungen, die das Geschäft der Vermittler und der Berater enorm erschweren. Wir müssen also bereinigen, wir müssen vereinfachen und wir müssen auch den Mut haben, in verschiedenen Tätigkeitsgebieten Ziele vorzugeben statt Wege, damit eben auch die eigene Motivation gestärkt wird, Ziele zu erreichen - und nicht Wege zu befolgen, also Tätigkeiten nach Fleißpunkten aufzulisten, ohne Rücksicht auf das Ergebnis, das erzielt wurde.
Japs: Konnten Sie denn bei Ihren Besuchen davon überzeugt werden, dass die Landesarbeitsämter erhalten bleiben sollen, oder halten Sie daran fest, diese Ebene abzubauen?
Gerster: Ich habe immer eine ergebnisoffene Prüfung verlangt. Ich bin nach wie vor für die ergebnisoffene Überprüfung und halte es für wahrscheinlich, dass wir eine sehr veränderte Zwischenebene bekommen werden nach den Reformschritten, also Kompetenzzentren zwischen Nürnberg und dem örtlichen Arbeitsamt - nicht mehr zehn, sondern vielleicht fünf, also eine Zahl zwischen fünf und zehn Kompetenzzentren, die sich kümmern um das, was man sinnvollerweise in einer Region organisiert - also Betreuung von Großkunden, großen Unternehmen, Konversionsbemühungen in bestimmten industriellen und regionalstrukturellen Umbruchsituationen und anderes mehr. Darüber hinaus muss es eine noch engere Zusammenarbeit mit den regionalen Akteuren geben am Arbeitsmarkt. Aber das ist nicht durch das Wörtchen 'Landesarbeitsamt' garantiert, sondern das muss meines Erachtens im einen oder anderen Fall durch Verbindungsbüros intensiviert werden. Also, wenn es dann, statt zehn heute, künftig weniger Regionaldirektionen gibt - so könnten sie heißen -, dann könnten diese Regionaldirektionen in jeder Landeshauptstadt ein Verbindungsbüro zur Landesregierung unterhalten, das mit sehr guten Leuten keine andere Aufgabe hat als Koordination. Das wäre ein Gewinn gegenüber heute.
Japs: Und damit sind dann auch die Ministerpräsidenten zufrieden?
Gerster: Ganz sicher. Ich hatte als Arbeitsminister in Mainz kein Landesarbeitsamt, das war in Saarbrücken. Ich hätte gern ein Verbindungsbüro gehabt mit ein paar sehr guten Leuten, die ein- und ausgehen bei uns im Ministerium und die gemeinsame Projekte entwickeln.
Japs: Wie wollen Sie Ihre Mammutbehörde - ich sage mal, eine richtige Beamtenbude - wie wollen Sie die entrümpeln?
Gerster: Ob man das Beamtenrecht abschaffen muss, will ich mal offen lassen. Was wir verändern müssen ist das rechtsförmliche Denken, das Statusdenken, das statische Denken, das also sehr stark in starren Strukturen sich orientiert. Also, wir müssen auch hier Ergebnisorientierung finden, wir müssen Fluktuationen bekommen mit der Außenwelt. Es darf zum Beispiel nicht so sein, dass der normale Vermittler über den Verwaltungsinspektor-Anwärter zur Bundesanstalt gekommen ist mit dem klaren persönlichen Ziel, einen sicheren Job zu haben, der relativ gut bezahlt ist, sondern wir brauchen für den echten und engen Kontakt mit der Arbeitswelt Leute, die diese kennen. Also, wir brauchen zum Beispiel in der Baubranche und zum Umgang mit der Baubranche ehemalige Poliere, die sich weitergebildet haben, die inzwischen als Techniker oder Ingenieure oder was auch immer vielleicht körperlich nicht mehr am Bau arbeiten können, aber die gleichwohl geeignet sind, Bauberufe zu vermitteln. Und das heißt: Wir brauchen Seiteneinsteiger, wir brauchen einen gewissen Austausch - und nicht mehr dieses Laufbahndenken.
Japs: Sie haben rund 90.000 Mitarbeiter. Muss hier nicht dringend Personal abgebaut werden, damit Ihr Laden wieder beweglich wird?
Gerster: Jetzt wollen Sie mich provozieren, denn das verfolgt mich seit Wochen, dass ich . . .
Japs: . . . die 50 Prozent, die Sie reduzieren wollten . . .
Gerster: . . . dass ich - langfristig, wohlgemerkt: langfristig, die Halbierung der Arbeitslosigkeit auch logischerweise auf die Arbeitsverwaltung übertragen wollte. Also, ich sage jetzt ohne konkrete Festlegung: Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt - und da bin ich viel optimistischer als andere, dass sie in den nächsten Jahren fühlbar sinken wird -, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, kann es nicht so sein, dass die Institution, die mit ihr befasst ist, gleich bleibt. Undenkbar! Und deshalb müssen wir die Arbeitsverwaltung verschlanken. Wir brauchen möglicherweise vorübergehend auch neue frische Kräfte, aber dann vielleicht eben auch auf Zeit oder als Partner außerhalb des eigenen Apparates. Da müssen wir flexibler werden.
Japs: Vorgestern gab es wieder das allmonatliche Ritual aus Nürnberg. Sie haben die neuen Arbeitsmarktdaten für den Monat Mai vorgelegt - jetzt wieder unter vier Millionen. Ist die Talsohle erreicht, die Trendwende in Sicht?
Gerster: Zum Zweiten: Ja, zum Ersten: Nein. Also, die Trendwende ist in Sicht, denn die Konjunkturbelebung, die eindeutig belegbar ist, wird in einigen Monaten auch nach Schätzung seriöser Wissenschaftler verschiedener Institute, auch des eigenen Instituts, im vierten Quartal zu einer deutlichen Belebung des Arbeitsmarktes führen. Die Talsohle ist noch nicht durchschritten, sondern wir sind gewissermaßen - ja, wir sind auf der Talsohle oder kurz davor, das heißt, wir werden im dritten Quartal Stagnation haben, saisonbereinigt - nach meiner festen Überzeugung und nach meiner Voraussicht. Und wir werden im vierten Quartal dann eine deutlich anziehende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben. Ungeduld ist ein schlechter Ratgeber, und so sehr ich verstehe, dass bestimmte Daten auch Erfolge auf dem Arbeitsmarkt herbeiwünschen - und ich selbst wünsche sie herbei -, so sehr ist es auch berechtigt, übliche ökonomische Abläufe, zum Beispiel einer Konjunkturbelebung, als Gesetzmäßigkeit mehr oder weniger zu akzeptieren.
Japs: Nach wie vor besonders gravierend hoch ist die Arbeitslosigkeit im Osten. Wie lange wird es noch dauern, bis sich der Arbeitsmarkt Ost dem Arbeitsmarkt West angleichen kann - muss?
Gerster: Wir haben gerade bei dieser Pressekonferenz vor zwei Tagen dargelegt, dass die Arbeitslosenquote im Osten immer noch mehr als doppelt so hoch ist, sehr bedauerlich, dass aber die Beschäftigung im Osten fast gleich ist wie im Westen. Das heißt: Durch die aus der DDR-Zeit gewachsene deutlich höhere Erwerbsbeteiligung - speziell der Frauen - haben wir im Vergleich zu dieser Erwerbsbeteiligung eine höhere Arbeitslosigkeit. Das ist ohne Zweifel ein gravierendes Problem, an dem wir auch arbeiten. Aber wenn wir die Beschäftigungsquoten vergleichen, sieht das ganz anders aus. Also, ich möchte gerne ein bisschen differenzieren und relativieren. Es gibt auch im Osten Anzeichen, dass zum Beispiel industrielle Kerne sich bewährt haben und dass sie um sich herum Beschäftigung aufbauen, dass zum Beispiel Wissenschaftseinrichtungen Existenzgründungen auslösen - Großraum Dresden und anderswo -, die wiederum auch Produktion nach sich ziehen. Wenn man also genau hinschaut, ist auch der Osten alles andere als monolithisch; es ist sehr unterschiedlich, und ich würde auf keinen Fall denen recht geben wollen, die den Osten auf absehbare Zeit abschreiben.
Japs: Aber muss man nicht nach radikalen neuen Wegen in der Arbeitsmarktpolitik - gerade im Osten - suchen?
Gerster: Wir haben zum Beispiel in diesem Jahr versucht, die Arbeitsmarktpolitik sehr viel stärker auf den ersten Arbeitsmarkt zu lenken, also Eingliederungszuschüsse, Existenzgründungen und anderes mehr. Das ist jetzt, weil die Konjunktur doch schwerer angesprungen ist als im letzten Jahr erhofft, nicht gelungen. Wir müssen gewissermaßen jetzt auch den zweiten Arbeitsmarkt wieder etwas stärker in den Blick nehmen. Ob es darüber hinaus radikale Brüche geben muss, weiß ich gar nicht. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Bei einem Arbeitsamt in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, wo wir eine Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent haben, wurde mir gezeigt, dass in diesem Arbeitsamt Existenzgründungsberatungen durch eine Diplomökonomin, die nichts anderes macht, ganz offensichtlich Erfolge zeitigt. Also, selbst da, wo man sich das gar nicht so recht vorstellen kann - am Rande Sachsens, kurz vor der Grenze sozusagen -, gelingt offenbar ein zutiefst marktwirtschaftlicher Weg. Deswegen würde ich auch für den Osten das Instrumentarium nicht so sehr auf wenige Instrumente festlegen. Man muss es richtig anwenden, man muss auch ein bisschen Freiheiten schaffen, und man muss natürlich auch unternehmerische Initiativen fördern, die dann weitere mittelständische Folgen auslösen.
Japs: Gerhard Schröder wollte die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr unter 3,5 Millionen bringen. Das hat er nicht geschafft. Halten Sie es für möglich, gibt es überhaupt noch einen Weg, wieder Vollbeschäftigung zu bekommen?
Gerster: Ich bin fest überzeugt, dass wir aus verschiedenen Gründen in einem überschaubaren Zeitraum die Vollbeschäftigung erreichen können. Wenn Sie mich jetzt fragen, was ist überschaubar, dann sage ich: In einem Zeitraum, den ich mir noch als aktiv handelnder Mensch vorstellen kann. Also nicht in 30 Jahren, sondern . . .
Japs: . . . in zehn . . .
Gerster: . . . in zehn Jahren und vielleicht noch etwas darüber. Das wird uns einerseits durch die Demographie erleichtert, das ist dann nicht nur sozusagen die Leistung unserer Volkswirtschaft, das wird uns aber auch erleichtert durch ein Wachstum, das mittelfristig immer noch höher liegen kann als in den schlechten Jahren, die unmittelbar hinter uns liegen. Und es wird sicherlich auch gestärkt werden können durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Wir werden sogar, was wir jetzt erst ansatzweise haben, in den nächsten Jahren noch viel stärker als heute, nach Fachkräften suchen, werden Ältere festhalten, weiterqualifizieren, werden Frauen im Berufsleben festhalten, damit sie eben ihre Qualifikation nicht in der Familie quasi verlieren, wenn sie jahrelang ganz aussteigen. Also, durch viele Instrumente wird es möglich sein, der Vollbeschäftigung nahe zu kommen, und deswegen bin ich weit entfernt von allen Krisengemälden, die üblicherweise gemalt werden.
Japs: Aber Herr Gerster, Deutschland ist seit vielen Jahren Schlusslicht in Europa bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Woran liegt das, wo sehen Sie die größten Barrieren am Arbeitsmarkt?
Gerster: Das ist unbestreitbar, wir sind - je nach dem, welche Indikatoren man nimmt - unter den EU-Mitgliedsstaaten so unter den letzen drei, vier. Das hat zum Teil Gründe, die nichts mit politischen oder volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun haben, sondern mit gesellschaftspolitischem Wollen. Damit meine ich die Folgen der deutschen Einheit, die ja heute noch zweistellige Milliardenbeträge an Transfer auslösen - von West nach Ost, die auch nach wie vor die Sozialversicherung belasten und damit die Lohnnebenkosten belasten, damit über die Lohnnebenkosten zur Verteuerung der Arbeit beitragen. Wir haben darüber hinaus den dramatischen Konstruktionsfehler im deutschen Steuer- und Abgabensystem, dass wir den Sozialstaat, der im europäischen Vergleich nicht teurer ist als in Dänemark oder Holland oder Frankreich, ganz wesentlich aus Lohnnebenkosten finanzieren und aus Beiträgen vom Lohn abgezogen. Also, die direkte Belastung des Faktors Arbeit, die gar nicht sein müsste, wenn man sich an anderen Beispielen orientiert - etwa Dänemark mit hohen Verbrauchssteuern und geringen Arbeitsabgaben - ist ein weiterer gravierender Punkt. Und ich hoffe, dass es möglich ist, in ruhigeren Zeiten - also abseits von Wahlkämpfen - dann auch über eine solche Umschichtung zu sprechen. Und ich sage auch an dieser Stelle, ohne jeden parteipolitischen Akzent: Die Ökosteuer, so umstritten sie ist, ist aus meiner Sicht immer noch gerechter, als es ein höherer Rentenbeitrag wäre - ohne Ökosteuer.
Japs: Sie haben eingangs bereits das Job-Aktiv-Gesetz positiv erwähnt. Hier hört man aber kritische Stimmen, die sagen, man hätte viel mehr erwartet - und es kommt doch nur Kleckerkram dabei raus.
Gerster: Das Problem ist, dass wir jeden Monat etwa 500.000 neue Arbeitslose haben. Die unter vier Millionen, die wir jahresdurchschnittlich in diesem Jahr haben werden, sind ja nur eine Durchschnittsbetrachtung; die Fluktuation monatlich ist ja enorm. Und da ist es schlicht nicht realistisch zu erwarten, dass mit jedem arbeitslos Werdenden eine Eingliederungsvereinbarung gemacht werden kann. Mit anderen Worten: Es muss in einem Arbeitsamt eine Sichtung stattfinden, wo diese besonderen Bemühungen des Job-Aktiv-Gesetzes sinnvoll sind und wo man sie im Augenblick wegen der hohen Gesamtbelastung zurückstellen muss. Das macht das Instrument ein Stück weit weniger wirksam als man es bei einer flächendeckenden Anwendung haben könnte. Manches braucht auch Zeit, und manches muss erst noch richtig beworben werden - zum Beispiel die Förderung von Weiterbildung älterer Arbeitnehmer in Kleinbetrieben. Da haben wir so gut wie keine Nachfrage bisher, was dramatisch ist. Denn das ist eine tolle Gelegenheit für Betriebe bis zu 100 Beschäftigten, Mitarbeiter, die über 50 sind, mit erheblicher Förderung des Arbeitsamtes weiterzubilden. Also, ich setze auf Werbung. Wir machen auch einige Kampagnen noch in den nächsten Wochen und Monaten, und ich setze darauf, dass wir bei rückläufiger Arbeitslosigkeit im zweiten Halbjahr uns auch mehr konzentrieren können auf diese neuen Instrumente.
Japs: Wie wird denn das Angebot der Eingliederungsvereinbarungen von den Betroffenen angenommen?
Gerster: Weitgehend gut nach den Berichten, die mir vorliegen, zum Teil auch in einem Sinne, der vom Gesetzgeber als Nebeneffekt bedacht worden ist - also zum Beispiel in dem Sinne, dass sich die Spreu vom Weizen trennt, wenn das Fordern zu dem Fördern kommt, dass dann eben auch die Arbeitssuchenden im Einzelfall oder als Gruppen aus der Statistik vorübergehend verschwinden. Das sind verschiedene Effekte, insgesamt ist es sinnvoll. Man muss es aber noch vereinfachen, weil der Zeitbedarf enorm ist, der mit diesem sogenannten Profiling verbunden ist.
Japs: Auch die private Arbeitsvermittlung wurde ausgeweitet. Kurz vor Ostern wurden die Gutscheine für die private Arbeitsvermittlung eingeführt. Gibt es hier bereits erste Erfahrungen?
Gerster: Wir haben etwa 46.000 ausgegebene Gutscheine. Wir haben wenig Rückfluss, um ehrlich zu sein. Das dauert, und das muss wohl auch noch dauern, weil sich die Szene erst noch finden muss und es auch noch nicht möglich ist, zum Beispiel durch die verbandsinterne Zertifizierung - durch ein Siegel - deutlich zu machen: 'Geh zu dem Arbeitsvermittler, da bist Du gut beraten und da wirst Du nicht übers Ohr gehauen'.
Japs: Oder es zeigt sich jetzt, dass der private Vermittler auch nicht besser vermitteln kann als das Arbeitsamt?
Gerster: Das kann es auch zeigen, denn immerhin haben wir im letzten Monat über 100.000 Menschen aktiv vermittelt, was so schlecht nicht ist. Also, das Ganze wird sich normalisieren, und es wird deutlich werden, dass das Vermittlungsgeschäft in schwierigen Zeiten eben auch schwierig ist.
Japs: Ein nicht mehr ganz so neues Zauberwort in Politik und Wirtschaft lautet: Deregulierung. Wie viel brauchen wir davon auf dem Arbeitsmarkt?
Gerster: Man muss an der richtigen Stelle deregulieren. Ich bin zum Beispiel sehr vorsichtig im Umgang mit dem auf Dauer angelegten sogenannten Kernarbeitsverhältnis. Das betrifft den Kündigungsschutz. Ich würde davor warnen, den Kündigungsschutz flächendeckend einzuschränken. Das mindert Vertrauen in den Arbeitgeber, das mindert Vertrauen in die berufliche Situation, in die soziale Sicherheit - und Vertrauen ist eine Grundlage auch für Leistungsbereitschaft, für Kreativität, für ein selbstbewusstes Arbeiten.
Japs: Aber Herr Gerster, in den USA wird das 'Heuern und Feuern' als Motor der Jobmaschine angesehen.
Gerster: Richtig, aber diese Jobmaschine in den USA hat gravierende Nachteile. Schauen Sie sich mal die Handwerkerleistungen an und deren Qualität. Schauen Sie sich mal an, wie soziale Unsicherheit und Kriminalität verbunden sind in einer solchen Volkswirtschaft. Also, es reicht nicht, die Leute zu beschäftigen - zum Teil mit zwei und drei Jobs, damit sie einigermaßen leben können. Wir brauchen soziale Sicherheit und Flexibilität. Und deswegen würde ich an anderer Stelle deregulieren. Da habe ich auch schon Vorschläge gemacht - aber beim Kündigungsschutz zum Beispiel wäre ich vorsichtig.
Japs: Den Niedriglohnsektor - brauchen wir den dringend?
Gerster: Ja, ich würde einen deutlichen Unterschied machen zwischen der Kernbeschäftigung - auf Dauer angelegt, die Familie ernährend - und den ergänzenden Beschäftigungsformen. Da müssen wir besser werden, flexibler werden, damit wir einen atmenden Arbeitsmarkt haben und eine Alternative zu Überstunden.
Japs: Sie haben vorhin angedeutet: Wir müssen wieder verstärkt auf den zweiten Arbeitsmarkt schauen. Heißt das, dass die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wieder angezogen werden sollen, dass wieder mehr Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen?
Gerster: Dies gilt auf keinen Fall für ganz Deutschland, dies gilt in bestimmten Arbeitsamtsbezirken - vor allen Dingen Ostdeutschlands, wo wir beim besten Willen aus der vorhandenen Struktur nicht beliebig Arbeitsplätze herauskitzeln können. Da gibt es keine stille Arbeitsplatzreserve. Und da wäre ich auch vorübergehend für ein Hochfahren - jetzt, in diesem Jahr, wo wir eben noch eine Durststrecke überwinden wollen und müssen - für ein Hochfahren von ABM. Das gilt aber auf keinen Fall auf lange Sicht, und für den Westen gilt es weitgehend nicht mehr.
Japs: Ist das nicht ein Etikettenschwindel - nur um die Statistik zu frisieren?
Gerster: Herr Japs, wenn wir die deutsche Einheit rein marktwirtschaftlich eingeleitet hätten, das hätte bedeutet: Die DDR wird - wie das manche Experten nennen - passiv saniert. Das heißt, von ursprünglich 17 Millionen würden da heute vielleicht noch drei Millionen leben oder vier Millionen. Das will niemand. Deswegen brauchen wir dort bestimmte Rahmenbedingungen, die das Wegbrechen von ganzen Strukturen verhindern.
Japs: Herr Gerster, vor Ihrem Amtsantritt haben Sie mit Ihren Vorschlägen zur Arbeitsmarktpolitik ziemlich für Furore gesorgt - ich denke einmal an 'weniger Arbeitslosengeld für die Älteren' oder an 'gestaffeltes Arbeitslosengeld für die Jüngeren'. Sind Sie da nicht eine Bauchlandung gefahren?
Gerster: Nein. Ich habe mit meinen Vorschlägen an den Stellen, die mir wichtig sind, Denkgewohnheiten ein bisschen verändert. Und ich bin sicher, das wird sich auch niederschlagen. Manchmal muss man auch Widerstände auslösen, um Denkprozesse auszulösen. Und an einer Stelle will ich es noch mal betonen: Die Länge von Lohnersatzleistungen gleichbleibend - staatliche Lohnersatzleistungen bis zu drei Jahren - hat natürlich etwas zu tun mit der Dauer von Arbeitslosigkeit. Und da brauchen wir auch gewissermaßen eine Verbindung von Sicherheit und Flexibilität. Und ich möchte mich gern daran beteiligen, wenn es nach der Bundestagswahl darum geht: Was können wir da noch machen?
Japs: Und wie steht es mit Ihrem Vorschlag, die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zusammenzulegen? Halten Sie daran fest? Was versprechen Sie sich davon?
Gerster: Im Kern ist das ja auf der Agenda; eine Arbeitsgruppe des Arbeitsministeriums wird sich jetzt in den nächsten Tagen damit befassen. Und ich halte es nach wie vor für richtig, bin aber inzwischen auch überzeugt davon, dass es Zwischenlösungen geben kann, die Sinn machen - zum Beispiel eine zeitliche Befristung von Arbeitslosenhilfe, ohne sie ganz abzuschaffen.
Japs: Aber Sie wollen die Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe absenken.
Gerster: Nein, aber ich hielte es für sinnvoll, sie degressiv zu gestalten, damit sie dazu beiträgt, nach längerer Arbeitslosigkeit die eigenen Bemühungen eher zu verstärken.
Japs: Beim Amtsantritt haben Sie zahlreiche Veränderungen bereits angekündigt. Wurden denn schon erste Umsteuerungen in Angriff genommen?
Gerster: Ich habe in der Zeit zwischen meiner Mainzer Ministeraufgabe und dem Vorstandsjob hier in Nürnberg mich geäußert über notwendige arbeitsmarktpolitische Reformen, die nur zum Teil mit der BA als Institution zu tun haben. Diese Reformen sind zum Teil Agenda für die nächste Wahlperiode, und ich hoffe, dass meine Vorschläge zur Fortsetzung einer Reformpolitik - vieles läuft ja auch, Job-Aktiv-Gesetz zum Beispiel - zur Fortsetzung dieser Reformpolitik aufgegriffen werden nach der Bundestagswahl. Jetzt gehen wir natürlich sehr intensiv an unsere Hausaufgaben und bereiten alle notwendigen Schritte vor, damit wir im Sommer, wenn der Bericht vorliegt, sofort starten können.
Japs: Was reizt Sie besonders an Ihrem neuen Job?
Gerster: Mich reizt die Aufgabe der Reform eines wichtigen Zweiges des Sozialstaates und die Reform einer bundesweiten staatlichen Einrichtung, die gleichwohl eine Sozialversicherung ist mit Selbstverwaltung, wie es sie in dieser Größenordnung nicht mehr darüber hinaus gibt. Ich möchte gern nachweisen, dass der Sozialstaat reformbedürftig - aber auch reformfähig ist.
Japs: In den zurückliegenden Wochen haben Sie zahlreiche Arbeitsämter besucht. Konnten Sie dabei Ansätze einer modernen Verwaltung kennenlernen, die ausgebaut werden sollten, oder muss ganz von vorn angefangen werden?
Gerster: Es gibt sehr kundige, es gibt auch sehr findige Arbeitsamtsdirektoren und mittlere Führungsleute in den Ämtern - 181 an der Zahl in ganz Deutschland -, und es gibt, wenn Sie so wollen, gute 'Insellösungen' - also zum Beispiel auch sehr originelle Verbesserungen des internen Services, um Reibungsverluste abzubauen, Nachsteuerungen der Teamstrukturen im Arbeitsamt 2000, es gibt findige DV-Lösungen, die weiter sind als das, was zentral vorgegeben und durchgesetzt wird. Also, es gibt viele interessante Modelle, aber es fehlt noch an dem best practice, es fehlt gewissermaßen an einem Wettbewerb der besten Lösungen, und es fehlt auch an der einen oder anderen Stelle an Freiheitsgraden, damit eben auch neue Wege noch engagierter gegangen werden können.
Japs: Und was haben Sie als größten Mangel festgestellt?
Gerster: Der größte Mangel ist der bürokratische Ballast, der aber zum nicht geringen Teil auch vom Gesetzgeber kommt. Das SGB III - das Sozialgesetzbuch III, unsere Bibel oder auch unser Handwerkszeug, wenn man so will - ist allein in vier Jahren 41 mal vom Bundesgesetzgeber geändert worden, und dann gibt es natürlich zu jeder Gesetzesänderung weitere verwaltungsinterne Weisungen, die das Geschäft der Vermittler und der Berater enorm erschweren. Wir müssen also bereinigen, wir müssen vereinfachen und wir müssen auch den Mut haben, in verschiedenen Tätigkeitsgebieten Ziele vorzugeben statt Wege, damit eben auch die eigene Motivation gestärkt wird, Ziele zu erreichen - und nicht Wege zu befolgen, also Tätigkeiten nach Fleißpunkten aufzulisten, ohne Rücksicht auf das Ergebnis, das erzielt wurde.
Japs: Konnten Sie denn bei Ihren Besuchen davon überzeugt werden, dass die Landesarbeitsämter erhalten bleiben sollen, oder halten Sie daran fest, diese Ebene abzubauen?
Gerster: Ich habe immer eine ergebnisoffene Prüfung verlangt. Ich bin nach wie vor für die ergebnisoffene Überprüfung und halte es für wahrscheinlich, dass wir eine sehr veränderte Zwischenebene bekommen werden nach den Reformschritten, also Kompetenzzentren zwischen Nürnberg und dem örtlichen Arbeitsamt - nicht mehr zehn, sondern vielleicht fünf, also eine Zahl zwischen fünf und zehn Kompetenzzentren, die sich kümmern um das, was man sinnvollerweise in einer Region organisiert - also Betreuung von Großkunden, großen Unternehmen, Konversionsbemühungen in bestimmten industriellen und regionalstrukturellen Umbruchsituationen und anderes mehr. Darüber hinaus muss es eine noch engere Zusammenarbeit mit den regionalen Akteuren geben am Arbeitsmarkt. Aber das ist nicht durch das Wörtchen 'Landesarbeitsamt' garantiert, sondern das muss meines Erachtens im einen oder anderen Fall durch Verbindungsbüros intensiviert werden. Also, wenn es dann, statt zehn heute, künftig weniger Regionaldirektionen gibt - so könnten sie heißen -, dann könnten diese Regionaldirektionen in jeder Landeshauptstadt ein Verbindungsbüro zur Landesregierung unterhalten, das mit sehr guten Leuten keine andere Aufgabe hat als Koordination. Das wäre ein Gewinn gegenüber heute.
Japs: Und damit sind dann auch die Ministerpräsidenten zufrieden?
Gerster: Ganz sicher. Ich hatte als Arbeitsminister in Mainz kein Landesarbeitsamt, das war in Saarbrücken. Ich hätte gern ein Verbindungsbüro gehabt mit ein paar sehr guten Leuten, die ein- und ausgehen bei uns im Ministerium und die gemeinsame Projekte entwickeln.
Japs: Wie wollen Sie Ihre Mammutbehörde - ich sage mal, eine richtige Beamtenbude - wie wollen Sie die entrümpeln?
Gerster: Ob man das Beamtenrecht abschaffen muss, will ich mal offen lassen. Was wir verändern müssen ist das rechtsförmliche Denken, das Statusdenken, das statische Denken, das also sehr stark in starren Strukturen sich orientiert. Also, wir müssen auch hier Ergebnisorientierung finden, wir müssen Fluktuationen bekommen mit der Außenwelt. Es darf zum Beispiel nicht so sein, dass der normale Vermittler über den Verwaltungsinspektor-Anwärter zur Bundesanstalt gekommen ist mit dem klaren persönlichen Ziel, einen sicheren Job zu haben, der relativ gut bezahlt ist, sondern wir brauchen für den echten und engen Kontakt mit der Arbeitswelt Leute, die diese kennen. Also, wir brauchen zum Beispiel in der Baubranche und zum Umgang mit der Baubranche ehemalige Poliere, die sich weitergebildet haben, die inzwischen als Techniker oder Ingenieure oder was auch immer vielleicht körperlich nicht mehr am Bau arbeiten können, aber die gleichwohl geeignet sind, Bauberufe zu vermitteln. Und das heißt: Wir brauchen Seiteneinsteiger, wir brauchen einen gewissen Austausch - und nicht mehr dieses Laufbahndenken.
Japs: Sie haben rund 90.000 Mitarbeiter. Muss hier nicht dringend Personal abgebaut werden, damit Ihr Laden wieder beweglich wird?
Gerster: Jetzt wollen Sie mich provozieren, denn das verfolgt mich seit Wochen, dass ich . . .
Japs: . . . die 50 Prozent, die Sie reduzieren wollten . . .
Gerster: . . . dass ich - langfristig, wohlgemerkt: langfristig, die Halbierung der Arbeitslosigkeit auch logischerweise auf die Arbeitsverwaltung übertragen wollte. Also, ich sage jetzt ohne konkrete Festlegung: Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt - und da bin ich viel optimistischer als andere, dass sie in den nächsten Jahren fühlbar sinken wird -, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, kann es nicht so sein, dass die Institution, die mit ihr befasst ist, gleich bleibt. Undenkbar! Und deshalb müssen wir die Arbeitsverwaltung verschlanken. Wir brauchen möglicherweise vorübergehend auch neue frische Kräfte, aber dann vielleicht eben auch auf Zeit oder als Partner außerhalb des eigenen Apparates. Da müssen wir flexibler werden.
Japs: Vorgestern gab es wieder das allmonatliche Ritual aus Nürnberg. Sie haben die neuen Arbeitsmarktdaten für den Monat Mai vorgelegt - jetzt wieder unter vier Millionen. Ist die Talsohle erreicht, die Trendwende in Sicht?
Gerster: Zum Zweiten: Ja, zum Ersten: Nein. Also, die Trendwende ist in Sicht, denn die Konjunkturbelebung, die eindeutig belegbar ist, wird in einigen Monaten auch nach Schätzung seriöser Wissenschaftler verschiedener Institute, auch des eigenen Instituts, im vierten Quartal zu einer deutlichen Belebung des Arbeitsmarktes führen. Die Talsohle ist noch nicht durchschritten, sondern wir sind gewissermaßen - ja, wir sind auf der Talsohle oder kurz davor, das heißt, wir werden im dritten Quartal Stagnation haben, saisonbereinigt - nach meiner festen Überzeugung und nach meiner Voraussicht. Und wir werden im vierten Quartal dann eine deutlich anziehende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben. Ungeduld ist ein schlechter Ratgeber, und so sehr ich verstehe, dass bestimmte Daten auch Erfolge auf dem Arbeitsmarkt herbeiwünschen - und ich selbst wünsche sie herbei -, so sehr ist es auch berechtigt, übliche ökonomische Abläufe, zum Beispiel einer Konjunkturbelebung, als Gesetzmäßigkeit mehr oder weniger zu akzeptieren.
Japs: Nach wie vor besonders gravierend hoch ist die Arbeitslosigkeit im Osten. Wie lange wird es noch dauern, bis sich der Arbeitsmarkt Ost dem Arbeitsmarkt West angleichen kann - muss?
Gerster: Wir haben gerade bei dieser Pressekonferenz vor zwei Tagen dargelegt, dass die Arbeitslosenquote im Osten immer noch mehr als doppelt so hoch ist, sehr bedauerlich, dass aber die Beschäftigung im Osten fast gleich ist wie im Westen. Das heißt: Durch die aus der DDR-Zeit gewachsene deutlich höhere Erwerbsbeteiligung - speziell der Frauen - haben wir im Vergleich zu dieser Erwerbsbeteiligung eine höhere Arbeitslosigkeit. Das ist ohne Zweifel ein gravierendes Problem, an dem wir auch arbeiten. Aber wenn wir die Beschäftigungsquoten vergleichen, sieht das ganz anders aus. Also, ich möchte gerne ein bisschen differenzieren und relativieren. Es gibt auch im Osten Anzeichen, dass zum Beispiel industrielle Kerne sich bewährt haben und dass sie um sich herum Beschäftigung aufbauen, dass zum Beispiel Wissenschaftseinrichtungen Existenzgründungen auslösen - Großraum Dresden und anderswo -, die wiederum auch Produktion nach sich ziehen. Wenn man also genau hinschaut, ist auch der Osten alles andere als monolithisch; es ist sehr unterschiedlich, und ich würde auf keinen Fall denen recht geben wollen, die den Osten auf absehbare Zeit abschreiben.
Japs: Aber muss man nicht nach radikalen neuen Wegen in der Arbeitsmarktpolitik - gerade im Osten - suchen?
Gerster: Wir haben zum Beispiel in diesem Jahr versucht, die Arbeitsmarktpolitik sehr viel stärker auf den ersten Arbeitsmarkt zu lenken, also Eingliederungszuschüsse, Existenzgründungen und anderes mehr. Das ist jetzt, weil die Konjunktur doch schwerer angesprungen ist als im letzten Jahr erhofft, nicht gelungen. Wir müssen gewissermaßen jetzt auch den zweiten Arbeitsmarkt wieder etwas stärker in den Blick nehmen. Ob es darüber hinaus radikale Brüche geben muss, weiß ich gar nicht. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Bei einem Arbeitsamt in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, wo wir eine Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent haben, wurde mir gezeigt, dass in diesem Arbeitsamt Existenzgründungsberatungen durch eine Diplomökonomin, die nichts anderes macht, ganz offensichtlich Erfolge zeitigt. Also, selbst da, wo man sich das gar nicht so recht vorstellen kann - am Rande Sachsens, kurz vor der Grenze sozusagen -, gelingt offenbar ein zutiefst marktwirtschaftlicher Weg. Deswegen würde ich auch für den Osten das Instrumentarium nicht so sehr auf wenige Instrumente festlegen. Man muss es richtig anwenden, man muss auch ein bisschen Freiheiten schaffen, und man muss natürlich auch unternehmerische Initiativen fördern, die dann weitere mittelständische Folgen auslösen.
Japs: Gerhard Schröder wollte die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr unter 3,5 Millionen bringen. Das hat er nicht geschafft. Halten Sie es für möglich, gibt es überhaupt noch einen Weg, wieder Vollbeschäftigung zu bekommen?
Gerster: Ich bin fest überzeugt, dass wir aus verschiedenen Gründen in einem überschaubaren Zeitraum die Vollbeschäftigung erreichen können. Wenn Sie mich jetzt fragen, was ist überschaubar, dann sage ich: In einem Zeitraum, den ich mir noch als aktiv handelnder Mensch vorstellen kann. Also nicht in 30 Jahren, sondern . . .
Japs: . . . in zehn . . .
Gerster: . . . in zehn Jahren und vielleicht noch etwas darüber. Das wird uns einerseits durch die Demographie erleichtert, das ist dann nicht nur sozusagen die Leistung unserer Volkswirtschaft, das wird uns aber auch erleichtert durch ein Wachstum, das mittelfristig immer noch höher liegen kann als in den schlechten Jahren, die unmittelbar hinter uns liegen. Und es wird sicherlich auch gestärkt werden können durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Wir werden sogar, was wir jetzt erst ansatzweise haben, in den nächsten Jahren noch viel stärker als heute, nach Fachkräften suchen, werden Ältere festhalten, weiterqualifizieren, werden Frauen im Berufsleben festhalten, damit sie eben ihre Qualifikation nicht in der Familie quasi verlieren, wenn sie jahrelang ganz aussteigen. Also, durch viele Instrumente wird es möglich sein, der Vollbeschäftigung nahe zu kommen, und deswegen bin ich weit entfernt von allen Krisengemälden, die üblicherweise gemalt werden.
Japs: Aber Herr Gerster, Deutschland ist seit vielen Jahren Schlusslicht in Europa bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Woran liegt das, wo sehen Sie die größten Barrieren am Arbeitsmarkt?
Gerster: Das ist unbestreitbar, wir sind - je nach dem, welche Indikatoren man nimmt - unter den EU-Mitgliedsstaaten so unter den letzen drei, vier. Das hat zum Teil Gründe, die nichts mit politischen oder volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun haben, sondern mit gesellschaftspolitischem Wollen. Damit meine ich die Folgen der deutschen Einheit, die ja heute noch zweistellige Milliardenbeträge an Transfer auslösen - von West nach Ost, die auch nach wie vor die Sozialversicherung belasten und damit die Lohnnebenkosten belasten, damit über die Lohnnebenkosten zur Verteuerung der Arbeit beitragen. Wir haben darüber hinaus den dramatischen Konstruktionsfehler im deutschen Steuer- und Abgabensystem, dass wir den Sozialstaat, der im europäischen Vergleich nicht teurer ist als in Dänemark oder Holland oder Frankreich, ganz wesentlich aus Lohnnebenkosten finanzieren und aus Beiträgen vom Lohn abgezogen. Also, die direkte Belastung des Faktors Arbeit, die gar nicht sein müsste, wenn man sich an anderen Beispielen orientiert - etwa Dänemark mit hohen Verbrauchssteuern und geringen Arbeitsabgaben - ist ein weiterer gravierender Punkt. Und ich hoffe, dass es möglich ist, in ruhigeren Zeiten - also abseits von Wahlkämpfen - dann auch über eine solche Umschichtung zu sprechen. Und ich sage auch an dieser Stelle, ohne jeden parteipolitischen Akzent: Die Ökosteuer, so umstritten sie ist, ist aus meiner Sicht immer noch gerechter, als es ein höherer Rentenbeitrag wäre - ohne Ökosteuer.
Japs: Sie haben eingangs bereits das Job-Aktiv-Gesetz positiv erwähnt. Hier hört man aber kritische Stimmen, die sagen, man hätte viel mehr erwartet - und es kommt doch nur Kleckerkram dabei raus.
Gerster: Das Problem ist, dass wir jeden Monat etwa 500.000 neue Arbeitslose haben. Die unter vier Millionen, die wir jahresdurchschnittlich in diesem Jahr haben werden, sind ja nur eine Durchschnittsbetrachtung; die Fluktuation monatlich ist ja enorm. Und da ist es schlicht nicht realistisch zu erwarten, dass mit jedem arbeitslos Werdenden eine Eingliederungsvereinbarung gemacht werden kann. Mit anderen Worten: Es muss in einem Arbeitsamt eine Sichtung stattfinden, wo diese besonderen Bemühungen des Job-Aktiv-Gesetzes sinnvoll sind und wo man sie im Augenblick wegen der hohen Gesamtbelastung zurückstellen muss. Das macht das Instrument ein Stück weit weniger wirksam als man es bei einer flächendeckenden Anwendung haben könnte. Manches braucht auch Zeit, und manches muss erst noch richtig beworben werden - zum Beispiel die Förderung von Weiterbildung älterer Arbeitnehmer in Kleinbetrieben. Da haben wir so gut wie keine Nachfrage bisher, was dramatisch ist. Denn das ist eine tolle Gelegenheit für Betriebe bis zu 100 Beschäftigten, Mitarbeiter, die über 50 sind, mit erheblicher Förderung des Arbeitsamtes weiterzubilden. Also, ich setze auf Werbung. Wir machen auch einige Kampagnen noch in den nächsten Wochen und Monaten, und ich setze darauf, dass wir bei rückläufiger Arbeitslosigkeit im zweiten Halbjahr uns auch mehr konzentrieren können auf diese neuen Instrumente.
Japs: Wie wird denn das Angebot der Eingliederungsvereinbarungen von den Betroffenen angenommen?
Gerster: Weitgehend gut nach den Berichten, die mir vorliegen, zum Teil auch in einem Sinne, der vom Gesetzgeber als Nebeneffekt bedacht worden ist - also zum Beispiel in dem Sinne, dass sich die Spreu vom Weizen trennt, wenn das Fordern zu dem Fördern kommt, dass dann eben auch die Arbeitssuchenden im Einzelfall oder als Gruppen aus der Statistik vorübergehend verschwinden. Das sind verschiedene Effekte, insgesamt ist es sinnvoll. Man muss es aber noch vereinfachen, weil der Zeitbedarf enorm ist, der mit diesem sogenannten Profiling verbunden ist.
Japs: Auch die private Arbeitsvermittlung wurde ausgeweitet. Kurz vor Ostern wurden die Gutscheine für die private Arbeitsvermittlung eingeführt. Gibt es hier bereits erste Erfahrungen?
Gerster: Wir haben etwa 46.000 ausgegebene Gutscheine. Wir haben wenig Rückfluss, um ehrlich zu sein. Das dauert, und das muss wohl auch noch dauern, weil sich die Szene erst noch finden muss und es auch noch nicht möglich ist, zum Beispiel durch die verbandsinterne Zertifizierung - durch ein Siegel - deutlich zu machen: 'Geh zu dem Arbeitsvermittler, da bist Du gut beraten und da wirst Du nicht übers Ohr gehauen'.
Japs: Oder es zeigt sich jetzt, dass der private Vermittler auch nicht besser vermitteln kann als das Arbeitsamt?
Gerster: Das kann es auch zeigen, denn immerhin haben wir im letzten Monat über 100.000 Menschen aktiv vermittelt, was so schlecht nicht ist. Also, das Ganze wird sich normalisieren, und es wird deutlich werden, dass das Vermittlungsgeschäft in schwierigen Zeiten eben auch schwierig ist.
Japs: Ein nicht mehr ganz so neues Zauberwort in Politik und Wirtschaft lautet: Deregulierung. Wie viel brauchen wir davon auf dem Arbeitsmarkt?
Gerster: Man muss an der richtigen Stelle deregulieren. Ich bin zum Beispiel sehr vorsichtig im Umgang mit dem auf Dauer angelegten sogenannten Kernarbeitsverhältnis. Das betrifft den Kündigungsschutz. Ich würde davor warnen, den Kündigungsschutz flächendeckend einzuschränken. Das mindert Vertrauen in den Arbeitgeber, das mindert Vertrauen in die berufliche Situation, in die soziale Sicherheit - und Vertrauen ist eine Grundlage auch für Leistungsbereitschaft, für Kreativität, für ein selbstbewusstes Arbeiten.
Japs: Aber Herr Gerster, in den USA wird das 'Heuern und Feuern' als Motor der Jobmaschine angesehen.
Gerster: Richtig, aber diese Jobmaschine in den USA hat gravierende Nachteile. Schauen Sie sich mal die Handwerkerleistungen an und deren Qualität. Schauen Sie sich mal an, wie soziale Unsicherheit und Kriminalität verbunden sind in einer solchen Volkswirtschaft. Also, es reicht nicht, die Leute zu beschäftigen - zum Teil mit zwei und drei Jobs, damit sie einigermaßen leben können. Wir brauchen soziale Sicherheit und Flexibilität. Und deswegen würde ich an anderer Stelle deregulieren. Da habe ich auch schon Vorschläge gemacht - aber beim Kündigungsschutz zum Beispiel wäre ich vorsichtig.
Japs: Den Niedriglohnsektor - brauchen wir den dringend?
Gerster: Ja, ich würde einen deutlichen Unterschied machen zwischen der Kernbeschäftigung - auf Dauer angelegt, die Familie ernährend - und den ergänzenden Beschäftigungsformen. Da müssen wir besser werden, flexibler werden, damit wir einen atmenden Arbeitsmarkt haben und eine Alternative zu Überstunden.
Japs: Sie haben vorhin angedeutet: Wir müssen wieder verstärkt auf den zweiten Arbeitsmarkt schauen. Heißt das, dass die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wieder angezogen werden sollen, dass wieder mehr Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen?
Gerster: Dies gilt auf keinen Fall für ganz Deutschland, dies gilt in bestimmten Arbeitsamtsbezirken - vor allen Dingen Ostdeutschlands, wo wir beim besten Willen aus der vorhandenen Struktur nicht beliebig Arbeitsplätze herauskitzeln können. Da gibt es keine stille Arbeitsplatzreserve. Und da wäre ich auch vorübergehend für ein Hochfahren - jetzt, in diesem Jahr, wo wir eben noch eine Durststrecke überwinden wollen und müssen - für ein Hochfahren von ABM. Das gilt aber auf keinen Fall auf lange Sicht, und für den Westen gilt es weitgehend nicht mehr.
Japs: Ist das nicht ein Etikettenschwindel - nur um die Statistik zu frisieren?
Gerster: Herr Japs, wenn wir die deutsche Einheit rein marktwirtschaftlich eingeleitet hätten, das hätte bedeutet: Die DDR wird - wie das manche Experten nennen - passiv saniert. Das heißt, von ursprünglich 17 Millionen würden da heute vielleicht noch drei Millionen leben oder vier Millionen. Das will niemand. Deswegen brauchen wir dort bestimmte Rahmenbedingungen, die das Wegbrechen von ganzen Strukturen verhindern.
Japs: Herr Gerster, vor Ihrem Amtsantritt haben Sie mit Ihren Vorschlägen zur Arbeitsmarktpolitik ziemlich für Furore gesorgt - ich denke einmal an 'weniger Arbeitslosengeld für die Älteren' oder an 'gestaffeltes Arbeitslosengeld für die Jüngeren'. Sind Sie da nicht eine Bauchlandung gefahren?
Gerster: Nein. Ich habe mit meinen Vorschlägen an den Stellen, die mir wichtig sind, Denkgewohnheiten ein bisschen verändert. Und ich bin sicher, das wird sich auch niederschlagen. Manchmal muss man auch Widerstände auslösen, um Denkprozesse auszulösen. Und an einer Stelle will ich es noch mal betonen: Die Länge von Lohnersatzleistungen gleichbleibend - staatliche Lohnersatzleistungen bis zu drei Jahren - hat natürlich etwas zu tun mit der Dauer von Arbeitslosigkeit. Und da brauchen wir auch gewissermaßen eine Verbindung von Sicherheit und Flexibilität. Und ich möchte mich gern daran beteiligen, wenn es nach der Bundestagswahl darum geht: Was können wir da noch machen?
Japs: Und wie steht es mit Ihrem Vorschlag, die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zusammenzulegen? Halten Sie daran fest? Was versprechen Sie sich davon?
Gerster: Im Kern ist das ja auf der Agenda; eine Arbeitsgruppe des Arbeitsministeriums wird sich jetzt in den nächsten Tagen damit befassen. Und ich halte es nach wie vor für richtig, bin aber inzwischen auch überzeugt davon, dass es Zwischenlösungen geben kann, die Sinn machen - zum Beispiel eine zeitliche Befristung von Arbeitslosenhilfe, ohne sie ganz abzuschaffen.
Japs: Aber Sie wollen die Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe absenken.
Gerster: Nein, aber ich hielte es für sinnvoll, sie degressiv zu gestalten, damit sie dazu beiträgt, nach längerer Arbeitslosigkeit die eigenen Bemühungen eher zu verstärken.