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Gescheitertes Referendum in Ungarn
"Das ist eine Klatsche für Orbán"

Ungarns Premierminister Viktor Orbán habe keinen Grund, sich mit dem Ergebnis des gescheiterten Referendums zu schmücken. Im Gegenteil. Es sei eine totale Niederlage, sagte der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen im DLF. Ungarn müsse sich an Europarecht halten und seinen Teil zur Lösung der Flüchtlingsproblematik beitragen.

Jo Leinen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.10.2016
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen, von der Seite aufgenommen, sprechend und mit einer Hand gestikulierend.
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen sagt, die EU wird noch viele Probleme mit Viktor Orbán bekommen. (imago/stock&people/Becker&Bredel)
    Christoph Heinemann: Vor dieser Sendung haben wir mit dem SPD-Politiker Jo Leinen gesprochen. Er ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments - Guten Tag, Herr Leinen!
    Jo Leinen: Guten Tag!
    Heinemann: Ohrfeige oder nicht Ohrfeige für Viktor Orbán? Das ist hier die Frage.
    Leinen: Das ist eine totale Niederlage für Orbán. Er hat 40 Millionen Euro für eine wochenlange Kampagne ausgegeben und trotzdem sind weniger als 50 Prozent der Menschen zu den Urnen gegangen. Er verkauft das als Sieg, aber das ist eine Klatsche, das ist eine Niederlage.
    Heinemann: 98 Prozent von 40, das ist ein Ergebnis, von dem die SPD nur träumen kann.
    !Leinen:!! Nun, das Ergebnis war ja von vornherein klar. Erstens würden auch nur die zur Wahl gehen, die Orbán folgen, Ausländer von Ungarn auszusperren. Alle anderen Parteien haben ja zum Boykott aufgerufen. Mit diesem sowjetischen Ergebnis kann er sich wirklich nicht schmücken, auch wenn er zurzeit in Ungarn damit Propaganda macht.
    "Europarecht hat Vorrang vor dem nationalen Recht."
    Heinemann: Warum soll das ungarische Parlament nicht über die eigene Migrationspolitik entscheiden sollen?
    Leinen: Wir haben einen Vertrag, der Lissabon-Vertrag, der eindeutig sagt, dass Asyl und Einwanderung europäische Themen sind, die auch gemeinsam europäisch bewältigt werden müssen. Hier gilt das Europarecht und das hat Vorrang vor dem nationalen Recht. Und daran, so sehen wir, will sich Orbán nicht halten. Das ist der Konflikt.
    Heinemann: Haben Nationen in Europa das Recht zu sagen, was sich Frau Merkel und Herr Gabriel ausgedacht haben, das machen wir nicht mit?
    Leinen: In Europa beschließen wir normalerweise gemeinsam, sehr oft einstimmig, manchmal auch mit qualifizierter Mehrheit. Das ist dann gut und gerne zwei Drittel der Stimmen, die es in dem Ministerrat gibt.
    Heinemann: Und beschlossen wird, was die Großen vorgeben?
    Leinen: Es gibt kein Diktat von einem Land, sondern es gibt eine Problemlage, die gemeinsam bewältigt werden muss.
    Heinemann: Sagen Sie!
    Leinen: Ja in der Tat. Wir haben ja auch bei dem Gesetz, was beschlossen ist, bisher gewartet. Es gibt ja nicht direkt irgendwelche Vollzugsmaßnahmen in Form von Sanktionen und man sucht auch nach Wegen. Aber letztendlich müssen sich alle Mitgliedsstaaten der EU an die Regeln der EU halten.
    Heinemann: Inwiefern tut das Herr Orbán nicht?
    Leinen: Er bestreitet, dass Ungarn das Gesetz befolgen muss, einige der Migranten aufzunehmen, die in Italien und die in Griechenland festsitzen. Und hier gilt es, Solidarität einzufordern. Es kann nicht sein, dass vier oder fünf oder sechs Länder von 28 die ganze Last tragen, wissend, dass die Flüchtlingsproblematik nicht vorbei ist, sondern vielleicht auch noch größer wird. Das geht nur gemeinsam und man kann nicht zulassen, dass da Einzelne ausscheren.
    "Es geht nicht, dass wir ein Europa à la carte haben."
    Heinemann: Und Solidarität, noch mal gefragt, ist immer das, was in Berlin oder in Brüssel ausgekungelt wurde?
    Leinen: Das ist bei anderen Themen auch so. Wir sind eine Union, wir sind eine Gemeinschaft, wir sind ein Club und man hat sich an die Regeln dieses Clubs zu halten. Sonst kriegt man Sanktionen oder, wenn man will, siehe Großbritannien, kann man den Club auch verlassen. Aber es geht nicht, dass wir ein Europa à la carte haben, wo jeder macht was er will. Dann können wir die Europäische Union vergessen.
    Heinemann: Herr Leinen, kann man mit Blick auf Frankreich und Deutschland nicht verstehen, wenn osteuropäische Regierungen sagen, nein, wir möchten keine Einwanderer mit islamischem Hintergrund?
    Leinen: In der Tat haben wir ein großes Problem. Wir sehen, dass in den postkommunistischen Staaten - Ungarn und Polen in erster Linie, aber Slowakei und Tschechische Republik ist auch zu erwähnen - es einen Populismus gibt, eine Rückbesinnung auf das Nationale, also ganz große Empfindlichkeiten.
    Heinemann:Warum müssen Sie das direkt negativ stempeln? Sind die zu blöd, die Genialität der deutschen Flüchtlingspolitik zu erkennen?
    Leinen: Die EU ist wirklich ein Symbol der Offenheit, Offenheit innerhalb Europas, aber auch offen für die Welt. Und wir sehen, dass sich einige Länder jetzt zuknöpfen, sogar mit Zäunen abschotten. Das hätte man sich vor drei, vier Jahren nicht erträumen können. Wir haben das Schengen-Abkommen, wo wir Grenzen aufmachen. Jetzt machen wir wieder Grenzen zu. Und das ist ein langer Diskussionsprozess, den Westeuropa mit Zentraleuropa führen muss. Wir haben ein Kardinalproblem.
    "Er will mit dem Kopf durch die Wand und das geht meistens schief."
    Heinemann: Das sagt auch der Bundesaußenminister und mahnt jetzt eine gemeinsame europäische Lösung der Flüchtlingsfrage an. Was bedeutet das für Sie?
    Leinen: Na gut. Orbán und auch Kaczynski in Polen sperren sich ja, Flüchtlinge aufzunehmen. Der letzte Gipfel hat ja auch schon einen Weg gezeigt, wie man da rauskommen kann. Man kann sich auch in anderer Weise an der europäischen Flüchtlingspolitik beteiligen. Man kann Geld geben für den europäischen Küsten- und Grenzschutz, auch Personal zur Verfügung stellen. Man kann Geld geben für die Betreuung der Flüchtlingslager außerhalb der EU, Jordanien, Libanon, Türkei, vielleicht sogar etwas in den nordafrikanischen Ländern. Die Tür ist ja offen gemacht worden für Orbán, er muss nur durchgehen. Aber ich habe den Eindruck, er will gar keinen Kompromiss. Er will mit dem Kopf durch die Wand und das geht meistens schief.
    Heinemann: Ihr CSU-Kollege Manfred Weber hat gesagt, man könne das Ergebnis der Abstimmung nicht ignorieren. Noch einmal: 98 Prozent Zustimmung. Was bedeutet das?
    Leinen: Es bedeutet, dass wir in den europäischen Ländern eine aufgewühlte Stimmung haben. Das hat zum Teil mit Ängsten vor Fremden zu tun, vor allen Dingen Migranten, auch wenn sie aus einer anderen Kultur kommen. Es sind ja meistens auch Muslime, die dann in dieser Flüchtlingswelle kommen. Es hat auch Ängste mit der wirtschaftlichen Zukunft, weil vieles fragil ist in Zeiten der Globalisierung. Natürlich müssen wir diese Sorgen ernst nehmen. Aber wir haben es auch zu tun mit gnadenlosen Populisten wie Herrn Orbán, die aus Machtzwecken, auch aus parteipolitischen Machtzwecken diese Fragen instrumentalisieren und Missbrauch betreiben, und das kann man in der EU nicht zulassen.
    "Man muss aufpassen, dass die europäische Idee nicht kaputt geht."
    Heinemann: Wäre die Frage, welcher Politiker nicht machtpolitisch auch denkt. Unser Korrespondent Stephan Oszváth hat uns berichtet, dass Tatsachen - Stichwort Populismus - nicht im Mittelpunkt der Referendumskampagne standen. Herr Leinen, funktioniert Politik im postfaktischen Zeitalter anders?
    Leinen: Ja wir sind Teil einer Mediengesellschaft, wo einfache Slogans besser rüberkommen wie komplizierte Zusammenhänge. Das haben wir ja von Herrn Trump in den USA bis Herrn Orbán in Ungarn oder Herrn Erdogan in der Türkei. Wir haben es mit einer Tendenz der illiberalen Demokratie zu tun, also mit einem etwas autoritären Gehabe von Persönlichkeiten - in dem Fall sind es auch alle Männer -, und man muss aufpassen, dass nicht die Demokratie kaputt geht, das Zusammenleben in den Gesellschaften kaputt geht und die europäische Idee kaputt geht.
    Heinemann: Aber es scheint ja zu funktionieren. Was heißt das für Sie als Politiker?
    Leinen: Nun, es heißt, dass man noch mehr aufklären muss, noch mehr debattieren muss. Wir sind ja in der EU auch schon immer wieder darauf aus, Kompromisse zu finden. Es ist ja keine Polizei der EU, die Herrn Orbán befehlen kann, was er zu tun hat, aber wir können ihn auch zur Ordnung rufen. Und ich bin sicher, dass die Niederlage bei dem Referendum auch innenpolitisch in Ungarn die anderen Kräfte zusammenführt, weil sie sehr zerstritten waren, und vielleicht erstmals seit Jahren auch wieder eine ernsthafte Opposition zu Herrn Orbán hervorbringt. In Polen sehen wir ja auch, dass die Zivilgesellschaft sehr mobil ist, auf die Straße geht und sich nicht alles gefallen lässt, und das sollte in Ungarn auch so sein.
    "Wir werden leider noch viele Probleme mit Herrn Orbán bekommen."
    Heinemann: Herr Orbán will sein Ziel jetzt über eine Verfassungsänderung erreichen. Das heißt, es bleibt konfliktreich?
    Leinen: Ja wir werden leider noch viele Probleme mit Herrn Orbán bekommen. Ich sehe schwere Zeiten auf Ungarn zukommen, aber auch auf die EU, weil der Grundkonsens der europäischen Werte offensichtlich nicht mehr da ist, auch der Grundkonsens über die Einhaltung von EU-Regeln schwindet. Also wir sind in schwerem Gewässer und gehen komplizierten Zeiten entgegen.
    Heinemann: Der SPD-Europapolitiker Jo Leinen. Das Gespräch haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.