Dienstag, 16. April 2024

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Geschichte der DDR
Der Nachwuchs weiß nichts von der Mauer

Die Ende der 80er-Jahre und später geborene Generation weiß immer weniger über die DDR und die deutsche Teilung. Ein Grund dafür: Geschichte nach 1945 ist oft nicht Teil des Schulunterrichts. Verschiedene Projekte versuchen, diesen Wissensmangel auszugleichen.

Von Henry Bernhard und Ludger Fittkau | 02.10.2014
    "We want the Wall back" ("Wir wollen die Mauer zurück"), haben Unbekannte an der East Side Gallery auf ein Wandbild gesprüht.
    Im Osten des Landes sind Schüler besser über die Mauer informiert als im Westen. (dpa / picture alliance / Wolfram Steinberg)
    Der Stasi-Knast war ganz oben, unterm Dach. Dorit Bause und ihr Mann Gerhard gehen voran, eine Schulklasse stapft hinterher. Im Sommer 1988 waren die Bauses das erste Mal hier in der Erfurter Andreasstraße. Sie waren Untersuchungsgefangene der Staatssicherheit.
    "Also, wir waren hier zusammen in dem Zellentrakt weggeschlossen worden nach der Vernehmung. Man wurde fotografiert auf 'nem Stuhl, der mit so einem Hebel bewegt wurde, die Fingerabdrücke, dann seine ganzen persönlichen Sachen abgeben musste, die Haftkleidung ... Und dann stand man hier vorne am Eingang und sah dann hier rein - in diesen Trakt, die Türen ... Und da zitterten mir die Knie, da habe ich wirklich einen richtigen Schock gehabt. Weil: Diesen Anblick habe ich nicht erwartet! Ich hab' jetzt gedacht: Weiß nicht wie, aber schon alleine der Blick hier rein war ... Also die Kräfte ... Der Körper zitterte. Und aber ich habe versucht, mir das nicht anmerken zu lassen. Und in dem Moment, wo dann die Zellentür zuschlug und dann die ganze Nacht ... Da war wirklich der Schock groß!"
    Die Schüler schauen und hören schweigend zu. Der Gang ist bedrückend niedrig, man kann mit den Händen die Decke berühren. Die Zellen sind kahl: zwei Stockbetten, ein Waschbecken, ein Eimer.
    "Das sind dann so die typischen Geräusche, denen man tagtäglich auch ausgesetzt war, von früh! Und man kann sich vorstellen: Bei diesem lauten Knallen, dass man, wenn man einmal früh aufgestanden ist und noch gar nicht richtig bei der Sache war ... Das zog durch Mark und Bein! Diese Geräusche hatte man auch lange, lange nach der Haft immer wieder in den Ohren gehabt."
    Hochbetten in einer Zelle im ehemaligen Stasi-Gefängnis Andreasstraße in Erfurt.
    Hochbetten in einer Zelle im ehemaligen Stasi-Gefängnis Andreasstraße in Erfurt. (dpa/picture alliance/Jens-Ulrich Koch)
    Die Schüler kommen aus der thüringischen Kleinstadt Ohrdruf. Eine 10. Klasse vom Gymnasium. Drei Tage dauert ihr Projekt. Sie haben die Stasi- und Gerichtsakten der Bauses zu lesen bekommen, Liebesbriefe aus dem Knast von ihm an sie, und sie haben zuvor ihre Eltern befragt: Was war, wie war die DDR für euch? Erst nach all dem treffen sie die Bauses, die Zeugen der dunklen Seite der DDR, für eine Fragestunde. Die erste Frage stellt Josephine.
    "Also, da fange ich mal an: Wir haben ja jetzt so gehört, was Sie gemacht haben. Und ich hätte gern mal einen Grund, warum Sie das gemacht haben mit der Protesterklärung? Weil: Ich höre selbst von meinen Eltern - die sind jetzt so zehn Jahre jünger, das ist schon ein Unterschied -, aber denen hat es eigentlich in der DDR gut gefallen! Und die wären jetzt nicht auf die Idee gekommen, so was zu machen. Warum haben Sie das gemacht?"
    "Schülern die Frage beantworten: Warum soll ich das wissen?"
    Die Bauses wollten raus aus der DDR. Gerhard kam beruflich nicht voran, verweigerte den Wehrdienst. Gemeinsam mit Gleichgesinnten verfasste er eine Protesterklärung, Dorit unterschrieb neben 36 anderen.
    "Also, mein Mann hat im Prinzip in dem katholischen Eichsfeld eine Erziehung genossen, die auch in der Schule so war, dass da viele von vornherein nicht zur Jugendweihe gegangen sind, nicht in der FDJ waren. Ich dagegen bin eigentlich auch - wahrscheinlich ähnlich wie Ihre Eltern! - als glückliches DDR-Kind herangewachsen. Bei mir hat sich das Blättchen dann erst gewendet, als wir uns kennenlernten. Ich kannte dieses rosarote Leben, mein Vater hatte eine höhere Funktion, uns ging's immer gut, und ich hab mir nie Gedanken gemacht, die DDR zu verlassen. Ich bin dann durch das Schicksal, was die Familie Bause betraf, bin ich da im Prinzip erst mal so nach und nach dahinter gekommen, was da los war: Der eine Bruder halt inhaftiert; und er konnte sich auch nicht in einem sozialistischen Betrieb abfinden zu arbeiten und wollte die Selbstständigkeit in der DDR nicht aufgeben. Und so kam das, dass ich mich zu ihm bekannt habe und wir uns entschieden haben, die DDR zu verlassen, weil ich, in dem Moment, wo ich ihn geheiratet habe, auch nicht mehr reisen durfte."
    Organisiert hat das Lernprojekt Matthias Wanitschke. Im Auftrag des Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Wanitschke hat die Zeitzeugen gefunden, die Akten gesichtet, die Schüler vorbereitet.
    "Es geht nicht darum, Schülern traurige Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen. Da muss man nur den Fernseher anmachen: Da gibt es Herzzerreißendes! Sondern hier geht es einfach darum, die Frage der Schüler positiv zu beantworten: Warum soll ich das wissen? Das fragen Schüler; und die Frage ist korrekt! Und die Erinnerung ist ja zu Hause; die Eltern, Großeltern sitzen ja zu Hause und erzählen was von der schönen DDR! Weil: Erste Liebe, erster Kuss - denke ich, das ist ja eigentlich schön! Aber es geht ja um den Rahmen, auch den zu begreifen! Einfach zu sagen: Ok, jetzt höre ich mir das Gerede vom Vater oder vom Opa an, aber es geht um die eigene Wertorientierung."
    Wertorientierung heißt: Über nachdenken, was Demokratie und Freiheit eigentlich sind, dass sich dies für manchen vielleicht erst herausstellt, wenn sie fehlen.
    "Ich bin erst 1989 geboren und wo ich dann in der Schule war, da war das schon relativ weit weg."
    "Meine aktuelle Erfahrung damit ist, dass ich mal einen Freund von mir besucht habe in Thüringen und er mir dann so diese Grenze gezeigt hat. Und natürlich ist es für uns ziemlich unreal, ich bin auch '89 geboren, also gerade da geboren, als das alles passiert ist. Und natürlich hat man nicht mehr so den krassen Bezug dazu."
    "Finde es gut, dass es keine Blockade mehr gibt"
    Die Maueröffnung vor 25 Jahren ist tief im kollektiven Gedächtnis der Nation verankert. Doch Jugendliche und junge Erwachsene sind auf Erzählungen in den Familien, in der Schule, in den Uniseminaren und vor allem in den Massenmedien angewiesen, um zu begreifen, was einst die deutsche Teilung war und wie sie beendet wurde. So wie der im Jahr nach dem Mauerfall geborene Denis Türkpencesi, der im 5. Semester an der TU Darmstadt Informatik studiert:
    "Ich kann mich erinnern, dass mein Opa damals viel Familie drüben hatte und auch regelmäßig rüber gegangen ist, bis sie es dann dicht gemacht haben. Und tatsächlich damals noch zeitweise über einen See geschwommen ist, um da noch hinkommen zu können. Man kann sich das heute kaum vorstellen, denn heute kann man einfach durchfahren. Und dass man damals, um seine Familie zu sehen, irgendwo durchschwimmen musste, ist auf jeden Fall sehr interessant."
    Erzählungen in der Familie sind auch für den siebzehnjährigen Darmstädter Gymnasiasten Nils Hansen wichtige Quellen seines Wissens über die Zeit der deutschen Teilung:
    "Ja, ich finde es auf jeden Fall gut, dass es jetzt keine Blockade mehr zwischen West- und Ostdeutschland gibt. Denn das hat eben vor allem den Menschen auf der Ostseite überhaupt nicht gut gefallen. Dadurch, dass es ja so eine Art Planwirtschaft war. Und dann gab es zum Beispiel bestimmte Obstsorten nicht, oder Kaffee gab es nicht, dann musste man einen Muckefuck trinken, das weiß ich. Es ist auf jeden Fall ein Fortschritt, dass es nun sei 25 Jahren keine Blockade mehr gibt."
    Diese Meinung entspricht auch der Haltung der überwiegenden Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland - glaubt man der sogenannten "Sächsischen Längsschnittstudie", die seit mehr als einem Vierteljahrhundert das politische Bewusstsein von 1.200 Menschen zwischen 14 und 35 Jahren dokumentiert. Die Studie zeigt auch: Die grundsätzliche Zustimmung zur deutschen Einheit bedeutet nicht, dass der heutigen Gesellschaft vorbehaltlos zugestimmt wird. Gerade im Westen offenbaren sich 25 Jahre nach dem Mauerfall jedoch bei jungen Leuten große Wissenslücken. Schon bei der Frage, wann die Mauer gebaut wurde. Eine Umfrage unter Darmstädter und Stuttgarter Gymnasiasten:
    "1945?"
    "1945 bis 50."
    "1959?"
    Im Osten des Landes wissen noch 69 Prozent der Menschen, wann mit dem Mauerbau begonnen wurde. Im Westen sind es nur noch 45 Prozent. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Befragung der Darmstädter und Stuttgarter Gymnasiasten bestätigt diesen Befund:
    "1951."
    "1960."
    Nils Hansen vom Darmstädter Justus-Liebig-Gymnasium kennt die Jahreszahl des Mauerbaus aus dem Schul-Leistungskurs "Politik und Wirtschaft":
    "1961."
    Wissebegierige Schüler
    Manche Mitschüler wissen weniger:
    "Also in der Schule hatten wir das noch nicht, den Mauerfall. Aber natürlich hört man immer wieder mal was. Gerade am 3. Oktober dann, und wenn man es sich heute vorstellt, wenn jetzt noch eine Mauer stehen würde, dann fände ich es nicht so gut, weil - wenn zum Beispiel einmal durch Darmstadt die Mauer gehen würde, dann wäre man von den Freunden getrennt und könnte nicht so leicht zu denen rüber."
    Die Schüler in der Erfurter Stasi-Gedenkstätte sind wissbegierig, stellen dem Ehepaar Bause viele Fragen. Zu den Haftbedingungen, zu den Vernehmungen, zur Treue während der Haftzeit. Auch Alexander ist neugierig. Seine Vorbildung zur DDR:
    "Um ehrlich zu sein: keine. Also, wir haben da jetzt nicht so oft drüber gesprochen, und wenn, dann auch nur ganz kurz, der Opa vielleicht mal am Mittagstisch zum Sonntag oder zum Samstag, aber sonst auch nicht groß."
    Alexander hat jetzt Fragen.
    "Sie haben ja jetzt allgemein in der Zeit ziemlich viel Negatives erlebt. Können Sie jetzt trotzdem aus der Zeit was Positives sagen?"
    "Wenn ich manchmal Bundesbürger treffe und die sagen immer, "Eh, wir hätten uns das doch keine 40 Jahre angeguckt, so wie ihr! Wir hätten das viel eher geregelt!" Und da sage ich denen dann: "Jaja, mein Lieber! Einen großen Mund kann ich auch haben, wenn ich überhaupt keine Ahnung hab, wie es war!" Es war schön in der DDR; man hatte Freunde; man hatte eine schöne Wohnung; man hatte auch viel, was einem gutgetan hat; und die Menschen waren auch miteinander sehr angenehm und man hat auch gerne gearbeitet da und einen guten Freundeskreis gehabt, den wir heute noch haben! ABER die Angst vor der Stasi! Und dann, wenn einem so was passiert und man muckt mal auf, kommt man wirklich dahin, wo wir waren! Und das ist eine Willkür, das ist vielen passiert! Und denen ging's ganz schlecht."
    "Also Einschüchterung pur! Ich muss noch was dazu ergänzen: Mir wurde dann klipp und klar und ganz unmissverständlich zu verstehen gegeben, "Herr Bause, ziehen sie die Protesterklärung zurück; und ich garantiere ihnen: Sie und ihre Frau sind binnen kurzer Zeit in Freiheit!" Immer wieder ... Und ich hab mir gesagt, "Du kannst nicht zurück! Wenn du jetzt einmal klein beigibst - so etwas vergisst die Staatssicherheit nicht! Du bist ein gebrandmarktes Kind zeitlebens!" Und das war mir in dem Moment auch bewusst; und das gab mir dann auch die Stärke, dass ich gesagt habe: "Mit mir nicht!""
    Ostdeutsche Jugendliche wissen mehr als westdeutsche
    Bauses möchten wissen, ob sich die Vorstellung der Schüler von der DDR durch die Begegnung mit ihnen verändert hat. Josephine gibt Auskunft:
    "Sie hatte auch eine gute Kindheit! Und die Kindheit als solche ändert sich nicht, nur dann, glaube ich, das Erwachsenenleben, was meine Eltern nicht so hatten, weil sie noch nicht so alt waren. Aber da kriege ich schon ein sehr anderes Bild davon, weil er halt keine Chance hatte auf den Job, den er machen wollte; das finde ich schon ganz schön krass!"
    Ein Café im Fernbahnhof des Flughafens Frankfurt am Main. Hier wartet Anna Kaminsky auf ihren Flieger zurück nach Berlin. Dort hat die an der Karl-Marx-Uni in Leipzig ausgebildete Wissenschaftlerin ihren Arbeitsplatz. Anna Kaminsky ist Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Stiftung wurde 1998 vom Deutschen Bundestag eingerichtet, um Ursachen, Geschichte und Folgen der Diktatur in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR aufzuarbeiten. Seit Jahren reist Anna Kaminsky durch das Land, um die Erinnerung an die deutsche Teilung wachzuhalten. Gerade kommt sie aus Mannheim. Ostdeutsche Jugendliche wissen mehr über die Mauer-Zeit als Gleichaltrige im Westen, erzählt sie im Bahnhofscafé:
    "Das zeigt zumindest unsere jüngste Umfrage. Da war der Wissensstand im Osten höher als im Westen. Was ich allerdings schon auch ermutigend finde ist, dass doch viele Jugendliche eine Vorstellung davon haben, dass sie die DDR doch mit Unfreiheit und mit Diktatur assoziieren, selbst wenn sie im Einzelnen nicht genau wissen, was sich dahinter verbirgt."
    "Das war so eine große Lüge!"
    Immer wichtiger werden Medien für die Erinnerungsarbeit, das betont Anna Kaminsky. Die Bundes-Stiftung arbeitet beispielsweise mit Comics zur deutschen Teilung. Aber auch Fernsehfilme sind ein guter Einstieg in die Auseinandersetzung, betont die Wissenschaftlerin. Der Darmstädter Schüler Nils Hansen kann sich auch deshalb gut an die Jahreszahl des Mauerbaus erinnern, weil man in diesem Jahr in der Schule gemeinsam die Filmserie "60 mal Deutschland" des RBB gesehen hat - moderiert von Sandra Maischberger:
    "Wir zeigen ihnen Bilder aus einem Jahr, das Deutschland verändert hat, wie kaum eines zuvor - das Jahr 1961. In diesem Sommer wird Staats-und Parteichef Walter Ulbricht einen Satz sagen, der als einer der unverfrorensten Lügen in die Weltgeschichte eingehen wird:
    - 'Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.'-"
    Nils Hansen hat sich der Film tief eingeprägt:
    "Es gibt ein ganz berühmtes Bild, da springt ein Soldat über einen Stacheldrahtzaun. Und das habe ich immer so im Kopf, wenn ich an den Mauerbau denke. Der hat sich eben gerade noch rüber gerettet und dann wurden die Soldaten damit beauftragt, die Mauer zu errichten. Es gab noch einen Politiker, der hat vorher gesagt, "Niemand hat die Absicht, die Mauer zu errichten." Das war so eine große Lüge, denn kurz danach wurde dann eben die Mauer errichtet."
    Willy Brandt: "Wir rufen die Völker der Welt, wir rufen ihre Repräsentanten auf, hierher nach Berlin zu sehen, wo die blutende Wunde eines Volkes verkrustet werden soll. Durch Stacheldraht und genagelte Stiefel."
    "Meine Mutter hatte auch Verwandte im Osten und sie haben auch immer erzählt, dass sie ganz bestimmte Sachen mitbringen sollten in die DDR, die die da einfach nicht hatten. Und dass das dann immer eine ewige Warterei am Zoll war, weil die immer die ganzen Visa checken mussten und dass dies immer alles kompliziert war. Und eine Verwandte wollte damals eine Zitrone oder so etwas geschickt bekommen haben und dann dachte sie, es wäre eine vergammelte Zitrone, weil sie Kiwis nicht kannte. Sie hatte eine Kiwi bekommen und kannte das eben nicht und dachte, es sei irgendein vergammeltes Obst."
    Deutsche Nachkriegsgeschichte muss Prüfungsthema werden
    Das exotische Obst aus dem Westen, das mühselig durch die Sperranlagen der Mauer gebracht werden muss: Ein Gutteil der Ost-West-Erinnerung macht sich an solchen kleinen, einfachen Geschichten fest, hier knüpfen Familien- wie Medienerzählungen an. Die komplexeren Kenntnisse aus der Zeit vor dem Mauerfall müssen nun vor allem mit pädagogischen Mitteln wachgehalten werden. Die Geschichte der deutschen Teilung soll deshalb stärker in Abitur- und Abschlussprüfungen verankert werden, so will es eine Initiative der Bundesstiftung. Das Ziel dieser Initiative erläutert Geschäftsführerin Anna Kaminsky im Frankfurter Bahnhofscafé:
    "In dem Moment, wo deutsche Nachkriegsgeschichte Prüfungsthema wird, ist eigentlich auch sichergestellt, dass DDR, deutsche Teilung, Diktatur im Unterricht drankommt und der Unterricht nicht mit dem Zweiten Weltkrieg endet."
    Die Berliner Bundesstiftung bietet ein sogenanntes "Zeitzeugenportal" an, über das auch regional Zeitzeugen für den Unterricht gewonnen werden können. Manchmal sogar auch ehemalige DDR-Bürger, die Stasispitzel oder SED-Funktionäre waren. Anna Kaminsky:
    "Also wenn sie zum Beispiel Wolfgang Berghofer nehmen, den ehemaligen Oberbürgermeister von Dresden, der sehr offen und kritisch mit seiner Vergangenheit umgeht. Oder wenn sie Günter Schabowski nehmen, der ja jahrelang für einen sehr kritischen Umgang eines SED-Funktionärs mit der Geschichte gestanden hat. Und da gibt es schon einige, die bereit sind sich sehr kritisch und auch öffentlich zu äußern."
    Das sei allerdings eher noch die Ausnahme, ergänzt Anna Kaminsky. Nicht nur das Sprechen über die DDR-Geschichte ist immer noch ein heikles Thema im Ost-West-Verhältnis. Das böse Wort vom "Dunkeldeutschland" nutzen manche im Westen immer noch, wenn sie die ostdeutschen Bundesländer meinen. Meist bezieht es sich auf die Wahlergebnisse von Rechtsextremen. Diese schrecken Schüler und Studierende aus dem deutschen Südwesten ab. Vor allem, wenn sie nicht ganz hellhäutig sind, wie Ikira Schielke, die an der TU Darmstadt Informatik studiert:
    "Ich habe überlegt, in Dresden zu studieren, weil meine Eltern dort eine Zeit lang gelebt haben. Und meine Mutter meinte - die kommt aus Südamerika und ist dunkelhäutig - sie meinte, dass sie mir davon abraten würde. Dann habe ich mich auch danach gerichtet und bin denn hier geblieben."
    "In welch einer Gesellschaft möchte ich leben?"
    Auch der Darmstädter Schüler Nils Hansen würde aus politischen Gründen bestimmte Studienorte nicht wählen:
    "Ich könnte mir Rostock überhaupt nicht vorstellen. Gerade weil es dort sehr viel rechte Wähler gibt, das ist so das Hauptargument für mich. Generell hat Ostdeutschland viele extreme linke und rechte Wähler, das sieht man ja auch beim Wahlergebnis jetzt, dass die Linke stark abgeschnitten hat."
    Für Matthias Wanitschke in Erfurt kommt es darauf an, politische Bildung zu ermöglichen, die die Rechte der Menschen und nicht die Systemfrage im Blick hat. Mit Grausen erinnert sich Wanitschke an Zeitzeugen-Gespräche in der DDR. KZ-Überlebende, die von heldenhaften Kommunisten erzählten, um den Gründungsmythos der DDR, den Antifaschismus zu belegen. "Funktionalisiertes Leid" nennt er das.
    "Es geht nicht darum, Schülern zu sagen, wie gut Demokratie ist, sondern Schüler einfach vor die Entscheidung zu führen: In welch einer Gesellschaft möchte ich leben? Wer möchte ich sein eigentlich?"