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Geschichte
Die guten Seiten des Kriegs

Der Historiker Ian Morris von der amerikanischen Stanford-Universität sagt: Krieg ist gut. Seine These: Solche Auseinandersetzungen haben es den Menschen erst ermöglicht, friedliche Gesellschaftsordnungen zu errichten.

Von Michael Kuhlmann | 23.12.2013
    Schlacht um Verdun: Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916).
    Morris kann sich eine Welt ohne Krieg nicht vorstellen. (picture alliance / AFP)
    Eines muss man Ian Morris lassen: Er kann seine Leser bei der Stange halten. Denn so absurd sich die Ausgangsthese seines neuen Buches "Krieg" auch anhört - darauf, wie Morris sie begründet und welche Schlüsse er zieht, ist man dann doch neugierig. Krieg sei nämlich nützlich, behauptet Morris. Denn:
    "Zehntausend Jahre Krieg haben größere Gemeinschaften höherer Ordnung geschaffen, die das Risiko, eines gewaltsamen Todes zu sterben, gemindert haben. So unbequem diese Tatsache ist - auf lange Sicht hat der Krieg die Welt sicherer und reicher gemacht."
    Morris macht eine einfache Rechnung auf: Danach kamen in der Steinzeit zehn bis 20 Prozent der Menschen gewaltsam zu Tode. Heute widerfahre das nur noch ein bis zwei Prozent. Die Welt sei also zehnmal sicherer geworden; und dazu beigetragen hätten - Kriege. Genauer: die produktiven Kriege. Morris kennt nämlich produktive und unproduktive Kriege. Die unproduktiven hinterlassen in der internationalen Sphäre Chaos und beschwören immer neue Konflikte herauf. Die produktiven dagegen sorgen für klare Verhältnisse: Die Menschen leben hinterher friedlicher als zuvor. Unproduktiv waren nach dieser Lesart zum Beispiel die Kriege, nach denen das antike weströmische Reich zerbrach. Denn danach sank Europa für ein Jahrtausend in die Instabilität. Für produktiv hingegen erklärt Morris die 500 Jahre dauernden Konflikte vom 15. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Man brauche nur zu vergleichen:
    "Im Jahr 1415 war der Globus fragmentiert. Und jeder Kontinent oder Subkontinent wurde von einer Gruppe von Regionalmächten dominiert oder war zwischen ihnen umkämpft. Dieses alte Mosaik war 1914 verschwunden, ersetzt durch nur noch drei oder vier Akteure von wirklich globaler Reichweite: Frankreich, Deutschland, die Vereinigten Staaten und natürlich das Vereinigte Königreich - die eng in ein von Großbritannien dominiertes System eingebunden waren."
    Schuld hat die menschliche Natur
    Einmal abgesehen von dem Inferno, das nach 1914 begann, drängt sich die Frage auf: Wäre die vorherige relative Stabilität nicht einfacher zu erreichen gewesen? Ohne Krieg? Aber so denkt Morris gar nicht. Er kann sich die Welt ohne Kriege und Konflikte nicht vorstellen. Der Grund liege in der menschlichen Natur:
    "Das Tier ist in uns. Ließe man uns wählen, wie wir aus der mittellosen, gewalttätigen Steinzeit zu Frieden und Wohlstand unserer Tage kommen wollten, sähen sicher nur wenige von uns gerne Krieg als Mittel zum Ziel. Aber die Evolution- nichts anderes ist die Menschheitsgeschichte - wird nicht von unseren Wünschen getrieben."
    Damit liegt Morris ganz auf der Linie einer traditionellen politikwissenschaftlichen Denkströmung: des Realismus. Für dessen Anhänger hat jeder Staat nun mal seine eigenen Interessen; und in der internationalen Sphäre verhalten sich die Staaten zueinander wie die Bälle auf einem Billardtisch: Undurchdringlich sind sie gegeneinander abgeschottet; und wenn sie zusammenprallen, fällt einer von ihnen schon mal auf Nimmerwiedersehen in ein Loch. Schon vor einer ganzen Weile allerdings offenbarte dieses Modell seine Schwächen. Die Globalisierung hatte begonnen; die Staaten waren keine Billardkugeln, sondern sie standen in Interdependenz, sie verflochten sich immer enger miteinander. Zwar dachte in der Staatenwelt immer noch jeder zuerst an sich selbst. Aber man konnte seine Interessen nur durchsetzen, wenn man auch die Sicht des Gegenüber mitdachte. Ian Morris allerdings scheint schon diese neue Form von Realismus rosarot verträumt. Er kann sich Frieden nur dann vorstellen, wenn ein Weltpolizist mit der Hand am großkalibrigen Revolver für Ordnung sorgt. Denn, so Morris weiter, die Spielregeln der internationalen Politik stünden nun einmal unverrückbar fest. Und sie belohnten nicht den Klügeren, der nachgebe, sondern den Stärkeren, der seine Gegner gewaltsam besiege.
    "Wir töten, weil die erbarmungslose Logik des Todesspiels dies belohnt. Nicht die Entscheidungen, die wir treffen, beeinflussen das Belohnungssystem des Spiels. Vielmehr beeinflusst der Spielausgang unsere Entscheidungen. Deshalb können wir nicht einfach beschließen, mit dem Kriegführen aufzuhören."
    Hoffnung auf Frieden
    Aber eine Friedenshoffnung hegt Morris doch: Wenn man den enormen Fortschritt der Hochtechnologie betrachte, dann sei Mitte des Jahrhunderts durchaus eine Symbiose denkbar: aus menschlicher und künstlicher Intelligenz. Ein Zusammenschluss unzähliger menschlicher Gehirne mit Mitteln einer ins Extrem entwickelten Computer-Technologie.
    "Wir werden uns vermittels unserer Maschinen zusammenschließen. Und Gewalt zunehmend an Bedeutung verlieren lassen. Bis wir - irgendwann gegen Mitte bis Ende des 21. Jahrhunderts - ihren Lohn auf Null gebracht, dem Tier in uns den Garaus gemacht und den Weg von hier nach dort gefunden haben."
    Einmal vorausgesetzt, ein solch gigantisches Hybrid-Netzwerk aus Milliarden menschlicher und elektronischer Gehirne würde tatsächlich wahr - so drängt sich allerdings ein Einwand auf: Die Menschen, die die Frieden stiftende Technik programmieren sollten, wären immer noch dieselben, die einander jahrtausendelang bekämpft haben. Soll Morris' Vision funktionieren, dann müssten diese Menschen eben zuvor doch noch ihre guten Seiten auszuleben beginnen. Wenn sie das freilich könnten, dann wäre zu überlegen, ob man wirklich auf die Technologie und auf das Jahr 2050 warten sollte, oder ob es nicht einen Versuch wert wäre, schon etwas früher auf internationale Balance und Verständigung hinzuarbeiten. Morris' Vision fußt auf einer gänzlich offenen Kommunikation. Und damit setzt sie nicht weniger voraus, als es die Interdependenz-Theorie mit ihrem ausgehandelten Miteinander der Staaten auch tut. Dennoch ist das Buch "Krieg" eine lohnende Lektüre. Zum einen ist Morris ein brillanter Schreiber: Er zeigt, dass kenntnisreich geschriebene Geschichte und Politikwissenschaft eben doch spannend sein können wie ein Krimi. Was viele seiner deutschen Fachkollegen als heilsamen literarischen Kulturschock erleben mögen. Und zum anderen machen Morris' Schreckensvisionen bewusst, dass die Menschheit eben doch alles daransetzen sollte, ein Hazardspiel wie 1914 oder auch die Tollpatschigkeit eines George W. Bush künftig zu vermeiden. Dass das möglich ist, darauf indirekt hoffen lässt gerade die Zukunftsvision des Pessimisten Ian Morris.
    Ian Morris: "Krieg. Wozu er gut ist". Campus, 527 Seiten, 26,99 Euro. ISBN: 978-3-593-39716-0.