Mittwoch, 15. Mai 2024

Putins Russland
Das gespaltene Verhältnis zur eigenen Geschichte

Wladimir Putin benutzt Geschichte als Instrument, um seine Macht zu stärken und den Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Dabei vereinfacht und verfälscht er sie gezielt, auch im Schulunterricht. In Russland herrscht kaum Konsens über Geschichte.

27.03.2024
    Putin als Matrjoschka, mit Figuren von Jelzin, Gorbatschow, Stalin und Lenin als Matrjoschka-Puppen.
    Russische Geschichte zum Zusammensetzen: Putin, Jelzin, Gorbatschow, Stalin, Lenin. (IMAGO / ITAR-TASS / IMAGO / Alexander Ryumin)

    Inhalt

    Welches Verständnis hat Putin von russischer Geschichte?

    Für Putin ist Geschichte ein Kampfinstrument. Er durchforstet sie ganz genau: Welche Bereiche eignen sich, genutzt zu werden und was fällt besser unter den Tisch? Seit Jahrzehnten verfälscht er Geschichte und deutet sie um.
    So versucht Putin auch, den Überfall auf die Ukraine mit historischen Argumenten zu legitimieren, und verbreitet die Idee, die Ukraine habe schon immer zu Russland gehört und sei kein souveräner Staat, sondern es gäbe eine historische Einheit von Russen und Ukrainern. Dabei beruft er sich auf die Kiewer Rus, ein slawisches Reich im Hochmittelalter, aus dem viel später die heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus hervorgegangen sind.
    Putin geht es um Größe, Macht und Weltgeltung. Dabei will er an zwei historische Vorbilder anknüpfen: die Sowjetunion und das Zarentum. Beides scheint eigentlich unvereinbar, hier die Monarchie, da die kommunistische Diktatur. Doch es geht Putin auch nicht darum, eines davon wiederherzustellen, sondern er nutzt lediglich Versatzstücke aus der Geschichte, um seine eigene Ideologie zu festigen.

    Welche Bedeutung hat das Zarenreich für Putin?

    „Das Zarenreich entspricht seiner Vorstellung von geopolitischer Größe“, sagt der Osteuropahistoriker Jan Kusber. „Das Zarenreich vor 1917 war das größte Land-Imperium der Welt, aber auch die Verfassung des Zarenreiches, die Autokratie, die unumschränkte Herrschaft eines Einzelnen, kein Parlamentarismus, keine individuelle Meinungsfreiheit.“
    Das entspreche Putins Vorstellungen von Herrschaft und Staat viel mehr als die Sowjetunion, die föderal organisiert worden war, zumindest der Form nach, wenn es auch ein starkes Durchgriffsrecht der Zentrale gegeben habe. „Von der Herrschaftsrepräsentation, von der Tiefe der Geschichte, wie er sie empfindet, ist daher das Zarenreich für ihn viel stärker als geschichtliches Vorbild zu fassen als die Sowjetunion.“
    Wladimir Putin bei der Einweihung eines Denkmals für Zar Alexander III. bei Sankt im Jahr 2021
    Vorbild für Putin? Zar Alexander III. galt als "Friedensstifter", aber auch als Unterdrücker, der auf "Russifizierung" von Polen und Ukrainern setzte. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Mikhail Metzel)
    Putin orientiert sich an Zaren: Peter der Große regierte von 1682 bis 1725, ab 1721 als erster Kaiser der Russischen Reiches. Er modernisierte das russische Reich, darunter Militär, Verwaltung und Wissenschaft, und orientierte sich dabei an westlichen Vorbildern. Er trieb aber auch die Expansion des russischen Imperiums nach Westen voran, indem er im Großen Nordischen Krieg (1700 – 1721) die baltischen Provinzen Livland und Estland eroberte.
    Putin selbst stammt aus der von dem Zaren gegründeten Stadt Sankt Petersburg, die dem Reich bis 1918 als Hauptstadt diente (später Leningrad). Zarin Katharina die Große (1762–1796) ist Vorbild für die Annexion der Krim, Zar Alexander III. (1881–1894) für seine „Russifizierung“ von Polen und Ukrainern.
    Die russische Monarchie ist 1917 zusammengebrochen, von Ruhm und Stolz war nicht mehr viel übrig. Zar Nikolaus II. aus der Romanow-Dynastie war schon lange schwach und bei seinen Untertanen verhasst, 1918 wurden er und seine Familie von den Bolschewiki ermordet. Das Zarenreich ging in der Februarrevolution unter, in der Oktoberrevolution siegten die Kommunisten, was später zur Gründung der Sowjetunion führte.
    "Über die strukturellen Defizite des Zarenreiches, über das Versagen des letzten Zaren Nikolaus II., eine politische Antwort auf die Herausforderung der Zeit der Modernisierung zu finden, darüber spricht Putin nicht“, sagt Kusber.

    Wie beurteilt Putin die Sowjetunion?

    Zur Sowjetunion pflegt Putin ein ambivalentes Verhältnis. Zwar nennt er ihren Zerfall „die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, aber er war kein Freund der föderalen Struktur mit Sowjetrepubliken und ihren nationalen Rechten. Auch wenn es diese föderale Struktur spätestens ab den 1930er-Jahren eigentlich nicht mehr gab. Die Anfänge der Sowjetunion sind also ‚zu frei‘ für Putin.
    Das ist auch daran zu erkennen, dass er dem Gründer Wladimir Iljitsch Lenin kritisch gegenübersteht, aber dafür versucht, den Diktator Josef Stalin in ein wesentlich positiveres Licht zu rücken. Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die jahrzehntelang zur Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen beigetragen hatte, ist 2021 verboten worden.
    Es gibt aber einen anderen Aspekt der Sowjetunion, den Putin für sich zu nutzen weiß: die Geschichte vom Kampf gegen den Faschismus, verbunden mit dem großen Vaterländischen Krieg. So wird in Russland der Zweite Weltkrieg genannt. Der Tag des Sieges, nach russischem Kalender der 9. Mai, wird mit einer jedes Jahr größer werdenden Militärparade gefeiert.
    Putin vergleicht die Invasion in der Ukraine mit dem Kampf der Roten Armee gegen die Nationalsozialisten. Analog dazu hat er Lügen über ein angebliches faschistisches Nazi-Regime in Kiew und einen vermeintlichen Genozid in der Ukraine verbreitet. Bereits die Demonstranten der Maidan-Proteste der Jahre 2013 und 2014 verunglimpfte Putin als Faschisten.

    Wie stehen Russen zu ihrer Geschichte?

    Die russische Gesellschaft sei in ihrer Erinnerungskultur sehr gespalten, sagt die Soziologin und Kulturwissenschaftlerin Barbara Christophe, „viel gespaltener als etablierte Nationalstaaten wie Deutschland. Wie hält man es mit der Oktoberrevolution? Wie hält man es mit dem Zarismus? Das sind alles Fragen, über die es in der russischen Gesellschaft keinen Konsens gibt. Da gibt es noch nicht mal einen Konsens im Lager derjenigen, die Putin unterstützen."
     „Für viele war die sowjetische Erfahrung nicht nur schrecklich“, sagt Historiker Jan Kusber. „Die Erinnerung an den Stalinismus mit seinen Verbrechen trat in den Hintergrund. Und in der Erinnerung viel stärker war bei vielen die Erfahrung der 1960er- und 1970er-Jahre, also jener Zeit unter Chruschtschow und Breschnew, in denen es in der Sowjetunion einigermaßen gut geht, in der die totalitäre Diktatur aufhörte, totalitär zu sein und man sozusagen ein Auskommen hatte, Rentenzahlung erfolgt ist, einen gewissen Wohlstand gab. Insofern waren die Erinnerungen an die Sowjetunion gerade bei der mittleren und älteren Generation, als die Sowjetunion unterging, gar nicht so schlecht im Vergleich zu den 1990er-Jahren, die da kamen.“

    Welche Rolle spielt die Kirche in Putins Geschichtsbild?

    Im Zarenreich spielte die russisch-orthodoxe Kirche eine zentrale Rolle, während sie in der Sowjetunion unterdrückt wurde, da galt ein atheistisches Weltbild. In der Reformzeit von Glasnost und Perestroika in den 80er-Jahren wurde sie wieder offener gezeigt. Für Putin spielt die Kirche eine zentrale Rolle.
    „Das nutzte Putin, um diese Religiosität den Wunsch nach Frömmigkeit und Orientierung, nach dem Zerfall der Sowjetunion einzubauen, in sein ideologisches System“, sagt Jan Kusber. „Es wurde wieder so etwas gebildet, wie wir es vor 1917 schon gesehen haben, eine Symphonie von Staat und Kirche, die gemeinsam wirken für die Größe Russlands. Der derzeitige Patriarch Kyrill teilt mit Putin eine Sozialisation als Geheimdienstmann.“

    Welches Geschichtsbild wird im Schulunterricht vermittelt?

    Zum Schuljahr 2023/2024 erschien ein neues Geschichtsbuch, in dem ein einheitliches Geschichtsbild nach Staatsideologie gefestigt werden soll. Russische Geschichte wird möglichst widerspruchsfrei so erzählt, dass der Angriff auf die Ukraine legitimiert werden soll.
    „Die Geschichte muss sozusagen so rekonstruiert werden seit 1914, dass man punktgenau da landet und ein Narrativ anbietet, aus dem hervorgeht, dass es gar keine andere Möglichkeit gab“, sagt die Soziologin und Kulturwissenschaftlerin Barbara Christophe. Die Sowjetunion werde als Erfolgsgeschichte dargestellt, stalinistische Massenverbrechen ausgeblendet, relativiert oder gerechtfertigt. Der Westen werde für den Zusammenbruch der Sowjetunion verantwortlich gemacht.
    „Ein entscheidender Strang in diesem Narrativ ist der Westen, der seit Jahrzehnten nichts anderes im Sinn hat, die als die fixe Idee, Russland in die Knie zu zwingen, die Sowjetunion aufzulösen, Zwietracht innerhalb Russlands zu säen und im Zweifelsfall dann sogar tatsächlich auch die Russische Föderation noch mal zu einer Selbstauflösung zu bewegen.“
    Außerdem werden Lügen über die Ukraine verbreitet, dass Kiew kurz davor war, den Hafen auf der Krim in Sewastopol in einen NATO-Stützpunkt zu verwandeln oder sich um Atomwaffen bemüht habe. „Da wird erzählt, dass 80 Prozent der Bevölkerung in der Ukraine Russisch als Hauptsprache sprechen, was auch nicht stimmt.“

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