Freitag, 19. April 2024

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Geschichtstourismus
Reisen als Suche nach dem Paradies

Das Paradies sei der Ort, in dem andere Dinge erlaubt sind, als im eigenen Leben, sagte der Historiker Valentin Groebner im Dlf. Diese Sehnsucht liege dem Geschichtstourismus zugrunde. Doch das "alte Echte", das der Tourist sucht, sei eine Konstruktion, die sich ständig verändere.

Valentin Groebner im Gespräch mit Britta Fecke | 05.08.2018
    Blick auf Luzern am Luzerner See, Schweiz
    An Luzern interessiert die Touristen heute dasselbe wie schon vor 150 Jahren: der Blick über den Vierwaldstätter See (imago)
    Vielen Touristen geht es im Urlaub um Erholung. Viele sind aber auch auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Warum sie dieses bevorzugt in der Vergangenheit suchen, damit beschäftigt sich der Historiker Valentin Groebner in seinem bald erscheinenden Buch "Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen."
    Groebner lehrt Geschichte des Mittelalters und der Renaissance in Luzern. Hier, in einer der europäischen Städte, in denen der Tourismus erfunden worden sei, wie er sagt, beobachtet der 56-Jährige, dass die Touristen immer noch das gleiche interessiert wie vor 150 Jahren: Die Aussicht über den Vierwaldstätter See auf die Alpen. Dieser sei im 19. Jahrhundert zur Attraktion geworden.
    Damals habe sich niemand für die Altstadt interessiert. "Im Gegenteil: Die mittelalterlichen Brücken, die der Aussicht im Weg waren, wurden abgerissen", sagt Groebner. "Aber es wurden wunderbare, riesige Infrastrukturen für die Besucher gebaut, der Bahnhof und das Grand Hotel und der Kai davor mit der schönen Aussicht." Das interessante am Tourismus sei, dass er Orte verändere. "Und zwar unwiderruflich auf eine sehr, sehr spannende Art und Weise", so Groebner.
    Der Historiker Valentin Groebner
    Historiker Valentin Groebner (Franca Pedrazzetti / Luzern)
    Das Erbe des 19. Jahrhunderts
    So sei unser heutiges Bild vom Mittelalter ein Produkt des 19. Jahrhundert. Im Zeitalter der Industrialisierung sei das Mittelalter zum Inbegriff verlorener Eigentlichkeit geworden. "Das heißt, wir erben vom 19. Jahrhundert unter anderem den Wunsch zurück zu reisen in eine vorindustrielles Zeitalter", erläutert der Historiker. Dieses werde als schöner und übersichtlicher empfunden. Und die entsprechenden Prospekte mittelalterlicher Städte suggerierten, dass dort diese Idylle noch vorhanden sei, "dass man sich eben in diese Vergangenheit zurückbewegen könne".
    Die Herstellung dieser Idylle sei in den vergangenen 150 Jahren zu einem riesengroßen Industriezweig geworden, der gleichzeitig von sich behaupte das genaue Gegenteil von Industrie zu sein: "Nämlich Freizeit und das Echte von Früher". Teil dieser "wunderbaren Paradoxa" sei es, dass der Tourist gerne einsamer Entdecker wäre, jedoch nie einsam ist, sondern immer ein Schwarmphänomen – und das schon früher, wie Groebner betont: "Touristen beklagen sich seit etwa 180 Jahren eigentlich am ausdauerndsten über die anderen Touristen, die genau das selbe wollen, was sie wollen."
    Tourismus verändert und optimiert das "echte Eigentliche"
    Durch den Tourismus werde die Vergangenheit, die das echte Eigentliche von Früher sein soll, nicht nur verändert, sondern auch ständig optimiert. "Das heißt: Die Städte werden restauriert, zum Teil rekonstruiert - und wir erzeugen die Geschichte, die wir gerne hätten von früher natürlich ständig neu selbst, als Reisende", sagt Groebner. Als Beispiel nennt er in diesem Zusammenhang den Nachbau biblischer Stätten, wie etwa des heiligen Grabs, Endes des 15. Jahrhunderts in Norditalien durch Dominikanermönche.
    "Das sind in gewisser Weise die ersten touristischen Installationen, - die sind von vielen, vielen Zehntausenden Leuten besucht worden -, die dafür gemacht waren, das Echte von Früher zum Anfassen in 3D zu reproduzieren", sagt Groebner und ergänzt: "Das heißt der Tourismus hat mit der Reproduktion des alten Echten von Anfang an sehr, sehr viel zu tun."
    Geschichte als Gefühlsgenerator
    Etwas anders sei die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, etwa beim Besuch eines Konzentrationslagers. Hier werde mit anderen Maßstäben gemessen, als beim Humanismus, die Renaissance und erst recht dem Mittelalter und der Antike. "Weil das in unserer eigenen Lebensgeschichte oder der Lebensgeschichte unserer Eltern und Großeltern sehr, sehr nahe ist", so Groebner.
    Grundsätzlich suchten Touristen aber immer eine Vergangenheit, die mit ihnen zu tun habe. "Aber auf eine Art und Weise, die sie sich selbst aussuchen können, das heißt die Geschichte funktioniert als ein ganz spezifischer Gefühlsgenerator und je nach Bedürfnis können diese Gefühle mit den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zu tun haben oder auch mit dem Konsum einer bewundernswerten Hochkultur wie in den Uffizien oder in der Sixtinischen Kapelle", fast Groebner zusammen.
    Erotische Aufladung des Paradieses
    Die Rede von der Suche nach dem Paradies im Zusammenhang mit dem Reisen sei sehr alt und "auch immer schon mehr oder weniger ironisch gewendet". Das Paradies sei der Ort, dass könne man vor allem Anhand von Goethes Reiseberichten gut zeigen, in dem Andere Dinge erlaubt seien, als im eigenen Leben: "Das Paradies ist der Ort, der mehr oder weniger unschuldigen Nacktheit. Die Tiere sind noch zahm, niemand hat Unterhosen oder Präservative an. Und diese erotische Aufladung des Paradieses, als ein Ort jenseits von Sünde und Kontrolle, ist tatsächlich eine sehr, sehr alte Geschichte." Auch das könne man an den Nachbauten biblischer Stätten in Norditalien aus dem 16. Jahrhundert bewundern.