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Gespräche über Coronahilfen in Brüssel
Ein Gipfel, der Europa verändert

Auf dem EU-Finanzgipfel zeigen sich Brüche und Konfliktlinien, die noch lange spaltend wirken werden, analysiert Dlf-Hauptstadtkorrespondent Stephan Detjen. Die dramatischste Verschiebung zeige sich darin, dass fünf kleinere Länder zusammen das schwergewichtige Duo Deutschland und Frankreich bezwungen haben.

Von Stephan Detjen | 20.07.2020
    News Bilder des Tages 200719 -- BRUSSELS, July 19, 2020 Xinhua -- Dutch Prime Minister Mark Rutte 2nd L, Austrian Chancellor Sebastian Kurz 3rd L, Danish Prime Minister Mette Frederiksen 1st R, Swedish Prime Minister Stefan Lofven 2nd R and Finnish Prime Minister Sanna Marin 3rd R hold a meeting at the EU headquarters in Brussels, Belgium, July 19, 2020. A special summit grouping heads of state and government of the European Union EU member states on Saturday failed to reach consensus on its multiannual budget and an ambitious recovery plan designed to lift the bloc out of the crisis triggered by the coronavirus pandemic. The leaders will reconvene on Sunday noon, a spokesman for the European Council President Charles Michel said on Twitter l PUBLICATIONxNOTxINxCHN
    Staats- und Regierungschefs der Länder, die sich für mehr Kredite statt Zuschüsse aussprechen (imago / Xinhua)
    Nach einer selbst für Brüsseler Verhältnisse denkwürdigen Verhandlungsnacht ist in Europa nichts mehr, wie es einmal war. Machtkonstellationen haben sich verschoben. Brüche und Konfliktlinien sind sichtbar geworden, die noch lange nach diesem Gipfel spaltend wirken werden.
    Zerfledderte Europa Fahne im Wind
    Das Hilfspaket im Überblick
    EU-Ratspräsident Charles Michel und die EU-Kommission haben ein Hilfspaket von 750 Milliarden Euro zur Bewältigung der Coronakrise vorgeschlagen. Art und Finanzierung sowie die Höhe der Finanzhilfen sind jedoch hoch umstritten.
    Die Konfliktlinien
    Im harten Ringen um den Billionen-Haushaltsrahmen und hunderte Milliarden des Corona-Konjunkturpaktes ging der ursprünglich für zwei Tage angesetzte Gipfel in den vierten Tag. Eine 45-minütige Pause der Plenarsitzung kündigte der Sprecher von Ratspräsident Charles Michel zunächst an. Mehr als sechs Stunden wurden daraus. Die ganze Nacht hindurch setzte Michel die Einzelgespräche mit Staats- und Regierungschefs fort.
    Die Sparsamen Fünf (unter ihnen Finnlands Premier Sanna Marin, r.) sind dabei, sich in wichtigen Streitfragen durchzusetzen. Angela Merkel (M.) und Emmanuel Macron haben das Nachsehen.
    Die "Sparsamen Fünf" (unter ihnen Finnlands Premier Sanna Marin, r.) sind dabei, sich in wichtigen Streitfragen durchzusetzen. Angela Merkel (M.) und Emmanuel Macron haben das Nachsehen. (imago / Xinhua)
    Parallel saßen die rivalisierenden Gruppen zusammen: Auf der einen Seite die selbsternannten Frugalen, die im Laufe des Gipfels vom Quartett aus den Niederlanden, Österreich, Dänemark und Schweden zur Fünfergruppe angewachsen waren, nachdem der österreichische Kanzler Sebastian Kurz und der niederländischer Premier Mark Rutte auch die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin auf ihre Seite gezogen hatten. Auf der anderen Seite die Osteuropäer. Von Hass gegen ihn und sein Land sprach der ungarische Regierungschef Viktor Orbán, von Erpressung der Schwächeren durch die Starken der polnische Premier Mateusz Morawiecki.
    Man muss weit und in düstere Zeiten zurückdenken, um sich an eine solche Rhetorik in Europa zu erinnern. Nie zuvor war so deutlich geworden, dass die neue Bruchkannte in der Europäischen Union nicht mehr zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Ost und West verläuft.
    "Solidaritätsgedanke der Europäischen Union wurde lädiert"
    Die kontroversen Positionen beim EU-Sondergipfel in Brüssel stellten das Funktionieren der EU infrage. Er vermisse Weitsicht, Risikobereitschaft und Überzeugung, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Dlf. Die Debatte über das Corona-Hilfsprogramm werde von Kleinkrämergeist bestimmt.
    Die "Sparsame Fünf" siegen über deutsch-französische Achse
    Die dramatischste Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa haben Sebastian Kurz und Mark Rutte bewirkt. Als Anführer der selbsternannten Sparsamen haben sie die Macht der deutsch-französischen Achse gebrochen. Dass Angela Merkel im Mai den notorischen Widerstand Deutschlands gegen eine gemeinsame Verschuldung der EU aufgegeben hatte, um gemeinsam mit Emmanuel Macron den Vorschlag für ein 750 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket zu präsentieren, hatte Europa elektrisiert und die Dynamik in Gang gesetzt, die sich an diesem endlosen Wochenende in Brüssel verdichtete.
    Alexander Graf Lambsdorff während einer Sitzung des deutschen Bundestags 
    Alexander Graf Lambsdorff (FDP): Nachhaltige Maßnahmen fördern statt Prestigeprojekte
    Die andauernden Verhandlungen in Brüssel über die Milliarden-Hilfspakete wertet der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff als gutes Zeichen. Es gehe darum, den Vorschlägen mehr Kontur zu verleihen, sagte er im Dlf. So müssten die Programme nachhaltiger und wirtschaftspolitisch besser aufgestellt sein.
    Am frühen Morgen war klar, dass Merkel, Macron und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drastische Abstriche an ihren Vorschlägen hingenommen hatten, um ein Scheitern des Gipfels abzuwenden. Kurz und Rutte – so bestätigen mehrere Quellen – ist es gelungen, die Summe der nicht rückzahlbaren Zuschüsse unter die symbolische Grenze von 400 Milliarden Euro zu drücken. Nur noch 390 statt wie von Merkel, Macron und von der Leyen vorgeschlagen 500 Milliarden sollen als reine Zuwendungen an besonders hilfsbedürftige Länder ausgeschüttet werden. Der Rest des Konjunkturpakets muss als Darlehen von den Empfängern zurückgezahlt werden. Das Verhältnis zwischen Zuschüssen und Darlehen würde sich damit umkehren, sollte dies am Nachmittag die Grundlage eines finalen Kompromisses sein.
    Von einem "Ergebnis", mit dem "wir sehr zufrieden" sein könnten, sprach Kurz. Die Verhandlungen seien "wieder auf der Spur", sagte Rutte. Mehr als die reinen Zahlen wiegt die Bedeutung dieser Machtdemonstration einer entschlossenen Gruppe kleiner Mitgliedsstaaten gegen das traditionelle Zentrum aus einem erneuerten deutsch-französischen Führungsduo und den Spitzen der Brüsseler Institutionen.
    Coronavirus
    Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)