Es war einer der längsten Gipfel in der EU-Geschichte. Beim Treffen der 27 EU-Staaten vom 17. bis 21. Juli in Brüssel war nach zähen Verhandlungen ein Kompromiss im massivem Streit um ein Haushalts- und Finanzpaket in der historischer Größenordnung gefunden worden. Teil dieses Pakets ist ein Corona-Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie. Dazu soll auch gezielt Geld in die Bereiche Klimaschutz und Digitalisierung fließen. Ein Überblick:
- Was beinhaltet das Haushalts- und Finanzpaket?
- Warum ist das Konjunkturprogramm nötig?
- Wie schwierig war eine Einigung?
- Wie unterscheidet sich der Aufbaufonds von Coronabonds?
- Was bedeutet das Kompromisspaket für Deutschland?
- Wie bewerten die "sparsamen Vier" das Kompromisspaket?
- Wie bewerten andere EU-Länder das Kompromisspaket?
- Welche Kritik gibt es am Kompromisspaket?
Insgesamt umfasst das Paket 1,8 Billionen Euro – davon entfallen 1.074,3 Milliarden Euro auf den siebenjährigen EU-Haushaltsrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm. Mit dem Geld soll der beispiellose Wirtschaftseinbruch in Folge der COVID-19-Pandemie abgefedert und der EU-Binnenmarkt zusammenhalten werden.
Das 750-Milliarden-Programm setzt sich zusammen aus 390 Milliarden Euro Zuschüssen, die nicht zurückgezahlt werden müssen und Krediten in Höhe von 360 Milliarden Euro. Laut den ursprünglichen Plänen von EU-Ratspräsident Charles Michel und der EU-Kommission sollte das Verhältnis 500 Milliarden an Zuschüssen zu 250 Milliarden an Krediten betragen. Die sogenannten "sparsamen Vier", bestehend aus den Staaten Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden sowie als weiteres Land Finnland, setzten jedoch eine Senkung der Zuschüsse auf 390 Milliarden Euro durch. Für die Kredite in Höhe von 360 Milliarden Euro hat laut EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn bisher aber noch kein Land Interesse angemeldet.
Zur Finanzierung des Corona-Wiederaufbaufonds nimmt die EU-Kommission in bisher nicht gekannter Höhe gemeinsame Schulden an den Finanzmärkten auf. Sie sollen bis 2058 zurückgezahlt werden. Um höhere EU-Beiträge der Mitgliedstaaten zu verhindern, soll die Tilgung der Coronaschulden über neue EU-Einnahmen finanziert werden: eine Abgabe auf Plastikmüll ab 2021 sowie eine Digitalsteuer und eine Einfuhrgebühr auf Produkte aus Drittstaaten mit geringeren Umweltauflagen ab 2023. Geplant ist zudem eine Ausweitung des Emissionshandels etwa auf Luft- und Schifffahrt. Diese Gelder sind zum Teil jedoch schon in den nationalen Haushalten verplant, etwa in Deutschland.
Von den Hilfszahlungen sollen vor allem die besonders hart von der Pandemie betroffenen südeuropäischen Staaten profitieren, etwa Italien und Spanien. Grundsätzlich sollen alle 27 EU-Länder die Möglichkeit haben, Gelder zu bekommen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ein Kriterium für die Aufteilung der Mittel auf die Mitgliedstaaten soll bei der ersten Tranche die Arbeitslosigkeit im Zeitraum 2015-2019 sein, bei der zweiten Tranche soll das Kriterium durch den Verlust der Wirtschaftsleistung in der Coronakrise ersetzt werden.
Die Auszahlung der Hilfsgelder soll an die Umsetzung von Reformen in den Ländern gebunden sein. Das hatten die "sparsamen Vier" für ihre Zustimmung zum Corona-Wiederaufbaufonds zur Bedingung gemacht. Die Niederlande forderten ein Veto-Recht, um die Auszahlung zu stoppen, falls Reformen nicht umgesetzt werden. Vereinbart wurde nun eine "Super-Notbremse". Ein Land, aus dessen Sicht die Bedingungen nicht erfüllt sind, kann demnach "ausnahmsweise" verlangen, dass die Frage beim nächsten Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs "erschöpfend diskutiert" wird. Offen bleibt, was passiert, wenn ein Land dann noch immer nicht zufrieden ist.
Zudem soll die Zahlung von EU-Geldern künftig an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards gekoppelt werden, d.h. daran, dass Regierungen im Rahmen bestehender Gesetze und nicht willkürlich handeln und dass es etwa unabhängige Gerichte gibt. Dieser Punkt war einer der brisantesten beim Gipfel. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hatte deshalb im Vorfeld sogar mit einem Veto gegen das gesamte Finanzpaket gedroht. Nun einigte man sich darauf, dass die EU-Kommission künftig bei Verstößen Maßnahmen vorschlagen kann, die von den EU-Staaten mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden müssen. Wie dieser umstrittene Mechanismus genau aussehen soll, ist aber ebenfalls noch unklar. Die Klärung vieler Details wurde vertagt.
Sowohl im EU-Haushalt als auch beim Corona-Fonds sollen 30 Prozent der Mittel für den Klimaschutz verwendet werden. Allerdings gab es in diesem Bereich auch Kürzungen. Die Gelder für den sogenannten Fonds für einen gerechten Übergang wurden von 40 auf 17,5 Milliarden Euro zusammengestrichen. Der Topf sollte Kohleregionen auch in Deutschland bei einem klimafreundlichen Strukturwandel unterstützen.
Wegen der Coronakrise wird inzwischen für 2020 ein Einbruch der EU-Wirtschaftsleistung um 8,3 Prozent befürchtet. Das ist die tiefste Rezession in der Geschichte der EU. Anders als Deutschland haben viele Mitgliedstaaten nur wenig Spielräume in ihren Haushalten, um mit nationalen Konjunkturprogrammen gegenzusteuern. Aus Sicht Brüssels droht deshalb ein wirtschaftliches Auseinanderdriften der EU-Länder, das die Union insgesamt in eine Schieflage bringen könnte.
Für den EU-Haushaltsfinanzrahmen ist grundsätzlich die Einstimmigkeit aller 27 Mitgliedsstaaten notwendig, gleiches galt für den Corona-Wiederaufbaufonds. Insbesondere zu letzterem lagen die Positionen einzelner Mitgliedsstaaten zu Beginn des Gipfels zum Teil sehr weit auseinander. Umstritten war nicht nur die Höhe der Summen, sondern auch das Prinzip der Zuschüsse, die Maßstäbe zur Verteilung und die Kontrolle der Verwendung. Am Streit um die Höhe der Zuschüsse drohte der Gipfel dann offenbar mehrmals fast zu scheitern.
Der Weg für den Gesamtdeal wurde durch einen Kompromiss frei: Die "sparsamen Vier" und Finnland akzeptierten Gemeinschaftssschulden, die sie zuvor grundsätzlich abgelehnt hatten, im Gegenzug zu einer Reduzierung der Höhe der Zuschüsse von 500 auf 390 Milliarden Euro. Erkauft wurde die Einigung darüber hinaus mit weiteren finanziellen Zugeständnissen an die "Sparsamen Vier". Sie bekommen deutlich höhere Nachlässe auf ihre Einzahlungen in den EU-Haushalt als ursprünglich vorgesehen.
Ursprünglich wollte die EU-Kommission die Rabatte auf Mitgliedsbeiträge zum Haushalt sogar abschaffen. Nun summieren sich die zusätzlichen Nachlässe für die "sparsamen Vier" für die kommenden Jahres auf 7,86 Milliarden Euro. So wurde die jährliche Rabattsumme für Österreich von 237 Millionen Euro auf 565 Millionen Euro angehoben, eine Steigerung um 138 Prozent. Bei Dänemark steigt sie um 91 Prozent, bei Schweden um 34 Prozent und bei den Niederlanden um 22 Prozent. Nur die Rabattsumme für Deutschland blieb wie vor dem Gipfel geplant bei rund 3,67 Milliarden Euro jährlich.
Nach der Einigung über die Höhe der Zuschüsse fanden die EU-Staats- und Regierungschefs dann die Formel zur Koppelung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit. Diese räumte eine weitere hohe Hürde vor der Einigung ab. So lehnten etwa Polen und Ungarn ab, die Vergabe von EU-Gelder mit Auflagen zur Rechtsstaatlichkeit oder Klimazielen zu verknüpfen. Der jetzt gefundene Kompromiss wird aber bereits als zu lasch kritisiert. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der eine Rechtsstaatlichkeitsklausel im Vorfeld kategorisch abgelehnt hatte, bestritt die Wirksamkeit der neuen Klausel.
Im Ergebnis bedeutet der Corona-Wiederaufbaufonds europäische Schulden, die gemeinsam abgezahlt werden müssen. Ein Konzept, gegen dass sich auch die Bundesregierung bis vor kurzem noch vehement gestemmt hatte. Der jetzt gefundene Kompromiss geht jedoch nicht so weit wie die von Italien ursprünglich geforderten Coronabonds. Bei diesen hätte im äußersten Fall ein einziges EU-Land für die Gesamtsumme haften müssen, wenn alle anderen Mitgliedstaaten wegen Finanzproblemen ausfallen.
Beim Corona-Wiederaufbaufonds bleibt die Belastung eines Landes auf den Anteil am EU-Haushalt beschränkt. Im Falle Deutschlands sind das rund 27 Prozent. Die Bundesrepublik müsste demnach langfristig 202,5 Milliarden des 750 Milliarden schweren Pakets schultern. Das ist eine Umverteilung in einem bisher ungekannten Ausmaß. Insofern geht das Wiederaufbauprogramm im Rahmen der Europäischen Union weiter als je zuvor.
Deutschland muss künftig jährlich rund zehn Milliarden Euro mehr in den europäischen Haushalt zahlen. Die jährliche Überweisung nach Brüssel liegt damit bei etwa 40 Milliarden Euro, wie es aus Regierungskreisen hieß. Der Betrag beinhaltet demnach auch Zölle und Zuckerabgaben, die die Bundesrepublik für die EU erhebt. Bisher lag die Summe bei 25,5 Milliarden Euro pro Jahr plus Zolleinnahmen in Höhe von durchschnittlich 4,05 Milliarden Euro.
Deutschland erhält andererseits aber auch Milliardenbeträge aus Brüssel. Wieviel die Mehrbelastung künftig unter dem Strich ausmacht, ist daher offen. 2018 hatte Deutschland nach Angaben der Kommission rund 13,4 Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt eingezahlt, als es herausbekommen hatte. Beim EU-Gipfel handelte Bundeskanzlerin Angela Merkel jedoch eine Sonderzahlung von 650 Millionen Euro für Regionen in Ostdeutschland aus. Eine weitere Sonderzahlung in derselben Höhe wird es für den Landwirtschaftssektor geben.
Deutschland erhält andererseits aber auch Milliardenbeträge aus Brüssel. Wieviel die Mehrbelastung künftig unter dem Strich ausmacht, ist daher offen. 2018 hatte Deutschland nach Angaben der Kommission rund 13,4 Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt eingezahlt, als es herausbekommen hatte. Beim EU-Gipfel handelte Bundeskanzlerin Angela Merkel jedoch eine Sonderzahlung von 650 Millionen Euro für Regionen in Ostdeutschland aus. Eine weitere Sonderzahlung in derselben Höhe wird es für den Landwirtschaftssektor geben.
Trotz der Mehrbelastung nütze das Kompromisspaket besonders Deutschland, betonte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Tatsächlich ist Europa für die Exportnation Deutschland auch der wichtigste Handelspartner. Wenn die europäischen Partnerländer wirtschaftlich nicht wieder auf die Beine kommen, würde das deutschen Unternehmen massiv schaden.
Wie sehr sich in der Coronakrise die wirtschaftliche Schieflage in Europa verstärkt hat, wird auch an den nationalen Krisenhilfen deutlich: Das finanziell starke Deutschland hat mehr Geld in die eigene Wirtschaft gepumpt als alle anderen EU-Staaten zusammen. Viele andere Länder der Union können sich die Finanzspritzen schlicht nicht leisten. Ihnen soll über das europäische Programm geholfen werden
Die Nettozahler Österreich, Dänemark, Niederlande und Schweden hatten im Vorfeld vor allem kritisiert, dass ein Großteil der Corona-Gelder als Zuschüsse fließen soll, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Eine solche "Vergemeinschaftung von Schulden" lehnten sie ab. Man wolle keine "Schuldenunion durch die Hintertür", sagte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz von der konservativen ÖVP im Deutschlandfunk.
Mit dem verabschiedeten Finanzpaket zeigten sich die "sparsamen Vier" zufrieden. Österreichs Kanzler Kurz sprach von einem "guten Resultat für die EU und Österreich". Er lobte das Bündnis, das sein Land mit Schweden, Dänemark und den Niederlanden eingegangen war. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sprach von einem "umfangreichen und guten Paket, durch das die niederländischen Interessen gewahrt bleiben". Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sagte, aus dänischer Sicht sei wichtig, einen großen Beitragsrabatt erhalten zu haben.
Bundeskanzerlin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron, auf deren Initiative der beschlossene Corona-Wiederaufbaufonds maßgeblich zurückgeht, feierten die Einigung als Erfolg. Die EU-Staaten hätten sich zusammengerauft, sagte Merkel. Macron sprach von einem historischen Tag. Auch andere Staats- und Regierunschefs begrüßten das Kompromisspaket.
Die am stärksten von der Coronakrise betroffenen Staaten wie Italien und Spanien zeigten sich erleichtert. Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez sagte, er sei "zu 95 Prozent zufrieden". Für sein Land stünden "in etwa" 140 Milliarden zur Verfügung, davon 72,7 Milliarden nicht rückzahlbare Subventionen. Italiens Regierungschef Giuseppe Conte betonte, das Finanzpaket sei ein historischer Moment für Europa und Italien. Der Wiederaufbauplan entspreche den enormen Herausforderungen der Krise. Für Italien seien etwa 209 Milliarden Euro vorgesehen.
Nach der Verständigung auf das EU-Finanzpaket fehlt noch die Zustimmung der nationalen Parlamente und des Europaparlaments – und von dieser Seite gibt es bereits eine lange Forderungsliste. Dabei geht es unter anderem um mehr Geld für die gemeinsame Gesundheits- und Klimaschutzpolitik und für das Austauschprogramm Erasmus plus. Da hatten die Staats- und Regierungschefs gemessen am ursprünglichen Haushaltsentwurf der EU-Kommission den Rotstift angesetzt.
Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber kritisierte im Dlf, dass im Haushalt Kürzungen vorgenommen worden seien, "die sich langfristig sehr, sehr negativ auf Europa auswirken werden". Die Zukunftsfähigkeit der EU werde dadurch beeinträchtigt. Das Corona-Aufbauprogramm bezeichnete der langjährige Chef der CSU-Gruppe im Europaparlament und aktuelle Koordinator der EVP-Fraktion im Ausschuss für Wirtschaft und Währung als unambitioniert und unzureichend.
Ähnlich kritisch äußerte sich Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold. Nationale Interessen hätten einmal mehr die Oberhand gewonnen und Mittel für die wichtigen Zukunftsprojekte der EU seien zusammengestrichen worden, sagte er im Dlf. Die niederländische EU-Abgeordnete Sophie in ´t Veld wiederum kritisierte, dass die Zuschüsse aus dem Corona-Hilfspaket nicht an Rechtsstaats-Prinzipien geknüpft seien. Dies sei mit Blick auf Polen und Ungarn problematisch, sagte sie im Dlf. Deshalb fordert das Europaparlament eine Rückkehr zum ursprünglichen Kommissionsvorschlag. Der würde es den Mitgliedstaaten viel schwieriger machen, einen Kommissionsbeschluss für die Kürzung von EU-Subventionen aufzuhalten.
Die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD), sagte dem Rat "harte Haushaltsverhandlungen mit uns im Europaparlament" voraus und forderte in der "Welt" Nachbesserungen bei Rechtsstaatlichkeit und Zukunftsinvestitionen etwa in Bildung und Forschung. Diese verlangte auch die FDP-Vizevorsitzende Nicola Beer, ebenfalls Vizepräsidentin des Parlaments ist: "Es muss mehr Zukunft in das Paket." Zu den beanstandeten Punkten gehören teure Zugeständnisse an die "Sparsamen Vier".
Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage nach dem Einfluss der Europaabgeordneten auf die Vergabe der Gelder aus dem Corona-Hilfsprogramm. Bislang sollen allein Kommission und Mitgliedstaaten über die Vergabe der Gelder bestimmen. Das wollen sich die Europaabgeordneten nicht gefallen lassen. Der CDU-Europaabgeordnete Niclas Herbst meint, dass auch das Parlament "das von über 200 Millionen Europäern gewählt worden ist", die Kontrolle über die Ausgaben haben müsse.