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"Geste der Entschlossenheit" von US-Präsident Obama

Die Reaktion auf den Anschlag während des Boston-Marathons und der Suche nach den mutmaßlichen Tätern sei wesentlich zurückhaltender, beruhigender und gefasster als in der Zeit nach 9/11, sagt Karsten Voigt (SPD). Obama habe gezeigt, dass man nach terroristischen Attentaten entschlossen reagieren müsse.

Karsten Voigt im Gespräch mit Sandra Schulz | 20.04.2013
    Sandra Schulz: Über Tage war die Stadt jetzt im Ausnahmezustand, gestern überschlugen sich in Boston die Ereignisse etwa 24 Stunden lang. Nach dem Anschlag auf den Marathon von Montag mit drei Toten und vielen Verletzten brachte gestern die Verfolgungsjagd auf einen Verdächtigen das öffentliche Leben in Boston, im Bostoner Vorort Watertown, nahezu zum Erliegen. Einer der beiden mutmaßlichen Bombenleger wurde getötet, über lange Stunden die Fahndung, die Suche nach dem Zweiten. Gegen viertel vor drei deutscher Zeit in dieser Nacht wurde er gefasst.

    Beitrag: Jagd von Boston zu Ende - zweiter mutmaßlicher Attentäter gefasst (MP3-Audio) Jagd von Boston zu Ende - zweiter mutmaßlicher Attentäter gefasst

    Und am Telefon begrüße ich Karsten Voigt, SPD, den früheren Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Guten Morgen!

    Karsten Voigt: Schönen guten Morgen, Frau Schulz!

    Schulz: Diese gigantisch dimensionierte Polizeiaktion, Boston im Ausnahmezustand für annähernd 24 Stunden, die Empfehlung an die Menschen zum Beispiel, auch zu Hause zu bleiben, keine Verkehrsmittel zu benutzen: Wie wird das kollektiv zu verkraften sein?

    Voigt: Ich glaube, in diesem Fall sehr gut, weil man erfolgreich war. Man hat den einen tot, den anderen lebendig bekommen und kann jetzt die Hintergründe erfragen und erstellen. Und ich glaube, dass insgesamt, obwohl uns diese Reaktion ja überdimensioniert erscheint, durch ihren Erfolg es dem amerikanischen Präsidenten gelungen ist zu zeigen, dass er in dieser Situation ein erfolgreicher Präsident war, der die Situation ruhig, entschlossen und mit Erfolg sozusagen zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hat.

    Schulz: Aber in der Sache setzt sich die Unsicherheit ja fort. Über die Motive, über die Motivation ist noch nicht allzu viel bekannt und es ist auch vollkommen offen, ob sich dazu mehr wird feststellen lassen!

    Voigt: Ich hatte gestern mit Amerikanern hier in Deutschland gesprochen und sie haben gesagt, wir glauben nach zehn Jahren, dass dieses Thema Terrorismus, soweit es die USA betrifft, jetzt überwunden ist, aber jetzt kommen die ganzen Erinnerungen wieder hoch von 9/11, auch wenn das anders ist in Boston, und die Angst ist wieder da. Aber gleichzeitig ist ja ein Erfolg damit verbunden, wie ich schon gesagt habe, dass man die Terroristen bekommen hat, und es ist eine große Frage. Denn diesmal ist es anders als bei den Terroristen von 9/11, es ist so, dass es zwei Leute tschetschenischer Herkunft sind zwar, aber sie sind in den USA aufgewachsen. Das heißt, es ist eine Frage, die man sich stellen wird, wieweit diese Personen in die amerikanische Gesellschaft integriert waren und ob man auch in der amerikanischen Gesellschaft ein Integrationsproblem hat.

    Schulz: Und es gibt die Meldungen darüber, dass die Brüder im Internet islamistische Inhalte gepostet haben sollen. Ist damit die Richtung der Diskussion schon wieder vorgegeben?

    Voigt: Das ist durchaus möglich. Ich habe bisher glücklicherweise sowohl von den Sicherheitsbehörden wie von den führenden Politikern wie vor allen Dingen auch vom amerikanischen Präsidenten nicht solche Töne gehört, aber es steht zu befürchten, dass man natürlich primär wieder auf den islamistischen Hintergrund blicken wird. Das tun übrigens nicht nur Leute in den USA, ich habe heute Morgen mir mal noch die Zeit genommen, das russische Fernsehen anzugucken, und dort wird gehofft, richtig gesagt, dass man jetzt darauf setzt, dass die Amerikaner, die bisher die Tschetschenen vor allen Dingen als Freiheitskämpfer gesehen haben, dass die jetzt mehr Verständnis dafür haben, dass die Russen sie als Terroristen betrachten. Also, es gibt nicht nur die inneramerikanische Diskussion, es gibt da auch einen kleinen, aber doch immerhin relevanten internationalen Aspekt.

    Schulz: Und wenn wir noch mal schauen auf diese islamistischen Inhalte: Es gibt nach allem, was wir bisher wissen, keinerlei Hinweise auf eine Einbettung in ein internationales Terrornetzwerk. Ist das eine gute oder gerade sozusagen wegen der fehlenden Vernetztheit, vielleicht auch wegen der fehlenden Auffindbarkeit eine schlechte Nachricht?

    Voigt: Wir müssen ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass es solche international vernetzten terroristischen Organisationen gibt. Dann gibt es, wie wir ja in Deutschland mit dem NSU-Prozess jetzt ja sehen, auch lokale, deutsche, rechtsradikale terroristische Gruppen. Und dann gibt es auch lokale, in der eigenen Gesellschaft groß gewordene terroristische Gruppen mit islamistischem Hintergrund. Das heißt, die Terrorgefahr ist nicht beseitigt. Sie besteht. Sie besteht nicht nur in den USA, sie besteht auch bei uns. Aber was sich auch zeigt, dass man, so wie die Norweger es uns ja beispielhaft vorgemacht haben und wie jetzt der amerikanische Präsident es ja auch versucht hat, dass man auf solche Bedrohungen und auch Selbstmord… terroristische Attentate entschlossen reagieren muss, dass man die eigenen Werte nicht infrage stellen darf und dass man vor allen Dingen die Freiheitsrechte nicht einschränken darf. Sondern in Norwegen hat man ja sogar gesagt, man muss die Freiheit ausdehnen. Ob das in Amerika die Reaktion sein wird, da bin ich allerdings noch nicht sicher.

    Schulz: Wollte ich Sie gerade fragen: Was heißt das denn genau? Barack Obama fordert die Menschen auf, die Amerikaner, dem Terror zu trotzen. Was ist damit gemeint?

    Voigt: Das ist einerseits eine Geste der Entschlossenheit, es ist andererseits natürlich nicht so eine Stellungnahme – da unterscheidet sich selbst Obama von der norwegischen politischen Kultur –, es ist nicht eine Stellungnahme wie in Norwegen, wo man sagt, und jetzt stehen wir umso mehr für unsere Freiheitsrechte und wir stehen zusammen, aber für Freiheit, für Integration, für Offenheit. So eindeutig in diese Richtung gehen leider die Äußerungen in den USA nicht. Aber wenn ich die Äußerungen von Bush und von anderen Politikern vergleiche mit dem, was Obama gesagt hat, dann ist diese Äußerung doch wesentlich mehr auf Beruhigung ausgerichtet, nicht auf Verdächtigung bestimmter Gruppen, nicht darauf gerichtet, dass man jetzt den Muslimen misstrauen sollte, nicht darauf gerichtet, dass man einen Krieg gegen den Terror führt oder sogar einen Krieg gegen andere Staaten vorbereitet. Insofern ist die Reaktion in Washington vielleicht nicht so schön und so gut, wie ich sie mir in Norwegen habe anschauen können und wie wir sie bewundert haben, aber sie ist doch wesentlich zurückhaltender und beruhigender und auch gefasster als in der Zeit nach 9/11.

    Schulz: Heißt das, dass das Attentat auch ohne Konsequenzen bleiben könnte?

    Voigt: Nein, das glaube ich nicht. Solche Attentate haben immer eine Konsequenz in der Diskussion, hätten sie übrigens auch in Deutschland. Ich erinnere mich sehr genau an den Deutschen Herbst, wo ja auch Panzerspähwagen durch Bonn fuhren, wo wir damals als Abgeordnete gesessen haben. Also, man soll da nicht nur gucken in Richtung USA, wir haben da auch eine eigene Geschichte. Aber ich glaube, dass infolge dieses Attentates es eine Diskussion geben wird, natürlich ob man noch mehr gegen Terroristen tun kann, ob man mehr Sicherheitsvorkehrungen treffen kann, es wird eine Diskussion geben über den Islam in der amerikanischen Gesellschaft, es wird eine Diskussion geben über die Integration von Einwanderern, aber es … Wie genau diese Diskussion aussehen wird und welche Schlussfolgerungen dann kommen werden, das weiß ich nicht. Sie werden bestimmt auch zwischen verschiedenen politischen Gruppen unterschiedlich sein.

    Schulz: Es war ja jetzt der erste Bombenanschlag mit tödlichem Ausgang seit dem 11. September in den USA. Das ist natürlich auch der Erfahrungshorizont, vor dem wir dieses Attentat jetzt erleben. Gibt es eine Basis für einen Vergleich beider Attentate?

    Voigt: Eigentlich nicht. Denn bei den Attentaten in Washington und in New York war das ein gezielter Angriff eines internationalen Netzwerkes, ausgeführt durch Leute, die sich mühsam und langfristig darauf vorbereitet hatten, gegen die Zentren der amerikanischen ökonomischen und politischen Macht. Also, dort war der politische Hintergrund offensichtlich, der internationale Hintergrund offensichtlich und der organisatorische Kontext einer größeren Gruppe, die so etwas geplant hat, auch offensichtlich. Das alles ist in Boston anders.

    Schulz: Der SPD-Politiker und USA-Kenner Karsten Voigt heute hier in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Vielen Dank Ihnen!

    Voigt: Schönen guten Morgen!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.