Die Interviewpartner sind der Redaktion bekannt. Wir haben Namen und Originalstimmen der Frauen verändert.
Ein langer Flur. Der Linoleumboden wellt sich. Gelbe Ölfarbe an den Wänden. Künstliches Licht. Die Türen auf den Fluren sind geschlossen. Davor liegen Plastiklatschen und Kinderschuhe. In der oberen Etage noch einmal das gleiche.
Rund hundert Geflüchtete leben hier, ausschließlich Frauen mit ihren Kindern, je eine Familie in einem Zimmer. Fast alle kommen aus Tschetschenien.
Madina sitzt auf der unteren Etage eines Doppelstockbetts, darauf liegt ihr fast erwachsener Sohn. Er hat ein Bettlaken über den Kopf gezogen. Auf ihre Versuche, ihn zur Seite zu schieben, reagiert er nicht.
"Warum ich fortgegangen bin? Alles kann ich nicht erzählen. Wegen häuslicher Probleme. Ich hatte Probleme mit meinem Mann."
Patriarchalische und extrem konservative Gesellschaft
Sie blickt auf den Boden. Eine breite Spur Wimperntusche zieht sich über ihre Wange. Sie hat geweint.
"Als mein Mann mich zusammengeschlagen hat, haben die Nachbarn die Polizei gerufen. Alle Nachbarn haben gegen ihn ausgesagt: 'Der bringt Frau und Kinder noch um, tun Sie etwas!' Der Polizist hat alle rausgeschickt, hat sich dicht vor mich gesetzt und zu mir gesagt: 'Wer bist du überhaupt? Du bist eine Frau. Willst du diesen Mann vernichten? Ich gebe dir eine Stunde, um zu verschwinden. Länger halte ich ihn nicht fest.'"
Dieser Beitrag gehört zur Reportagereihe "Abgeschieden in Europa – Tschetschenen unter sich" in der Sendung "Gesichter Europas".
Tschetschenien ist eine patriarchalische, extrem konservative Gesellschaft. Madina erzählt, sie habe sich in ihrer Not an die Behörden in Tschetschenien gewandt, sei sogar zum Mufti gegangen.
"Im Muftiat haben sie mich angeschrien und mir sogar verboten zu weinen. Es war so erniedrigend. Ich habe in Tschetschenien alle nur erdenklichen Stellen um Hilfe gebeten. Wenn es die kleinste Möglichkeit gegeben hätte, wäre ich dort geblieben, denn jeder Mensch liebt doch seine Heimat. Jeder."
20 Quadratmeter für sechs Personen
Sie weint erneut. Ein kleines Mädchen kommt herein, eine rosa Papierkrone auf dem Kopf. Die älteren Kinder sind an diesem Vormittag in der Schule.
Die Familien im Flüchtlingsheim leben teils zu sechst auf rund 20 Quadratmetern. Es gibt zwei Gemeinschaftsküchen. Auch Toiletten und Duschräume sind auf dem Flur. Immerhin sind sie sauber. Madina hat Angst, dass sie nach Tschetschenien zurück muss. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Sie hat Widerspruch eingelegt.
"Sie haben gesagt: Bei Ihnen ist alles in Ordnung. Sie dramatisieren, was passiert ist. Jetzt warte ich auf die zweite Entscheidung."
Flucht vor der Willkür der Behörden
Sie ist sich sicher, in Tschetschenien würde sie von ihrem Mann oder seinen Verwandten zu Tode geprügelt. Auch andere Frauen möchten ihre Geschichte erzählen. Esita ist vor der Willkür der tschetschenischen Behörden geflohen. Ihr Mann sei vor vielen Jahren gestorben, erzählt sie. Sie habe die Kinder allein durchgebracht, das sei gut gegangen, bis ihr Sohn von der Polizei festgenommen worden sei.
"Ich weiß nicht, was sie ihm vorgeworfen haben. Die Polizisten waren bei mir und haben gesagt: 'Gib uns Geld, dann kriegst du deinen Sohn zurück.' Sie wollten 300.000 Rubel."
Das sind umgerechnet rund 4.000 Euro, für Esita viel Geld. Der Sohn sei dann zwar auch so freigekommen, doch die Polizisten seien wiedergekommen, nach Mitternacht.
"Sie haben mir die Tür aus der Hand geschlagen und sind zu fünft hereingestürzt. Die Kinder haben geweint: 'Was wollt ihr von uns, warum geht ihr nicht wieder?' – 'Wir gehen nicht, wir vernichten euch.' Fast eine Stunde haben sie alles durchsucht, die Betten durchgewühlt, die Kinder verschreckt."
Angst, dass die Männern ihnen auflauern
Immer wieder hört man solche Geschichten aus Tschetschenien. Sie habe keine andere Möglichkeit gesehen, als mit ihren Kindern aus Tschetschenien zu fliehen, sagt Esita.
Eine weitere Frau nimmt Platz, nickt.
"Eine Frau ist nichts bei uns in Tschetschenien. Eine Frau hat nichts zu sagen. Sie steht an letzter Stelle."
Dass eine Frau einen tschetschenischen Mann mit den Kindern verlässt, gilt dort als ehrverletzend. Dementsprechend haben die Frauen im Flüchtlingslager Angst. Angst, dass ihre Männer Verwandte, die bereits in der EU leben und reisen dürfen, nach ihnen suchen lassen, dass diese Männer sie erneut misshandeln oder die Kinder entführen. Deshalb versuchen sie, ihre Telefonnummern geheim zu halten. Trotzdem haben einige von ihnen Drohanrufe ihrer Männer bekommen.
"Ich spreche hier mit niemandem. Ich gehe nur in den Laden und zurück. Und selbst dann habe ich Angst, dass mir jemand auflauert."
Verachtung setzt sich auch in Europa fort
Das erniedrigendste, erzählen sie hier, sei, dass sich die Verachtung gegenüber Frauen auch in der Diaspora in Europa fortsetze.
"Dieses Heim gilt unter Tschetschenen als Bordell. Hier leben ja nur alleinstehende Frauen. In der tschetschenischen Community nennt man uns alle Nutten. Wenn es den Psychologen hier nicht gäbe, hätte ich mich längst vor den Zug geworfen."