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Kommentar zu "Gittersee"
Eine Mängelliste richtet Schaden an

Charlotte Gneuß wurde 1992 in Ludwigsburg geboren, ihr Debütroman „Gittersee“ spielt im Dresden der 1970er-Jahre. Nun kursiert eine Liste mit vermeintlichen Fehlern, die aber der Qualität des Buches nichts nehme, meint Christoph Schröder.

Ein Kommentar von Christoph Schröder |
Charlotte Gneuß posiert bei einem Fototermin der für die Longlist Nominierten des Deutschen Buchpreises 2023
Charlotte Gneuß (picture alliance / dpa / Christian Charisius)
Muss Literatur authentisch sein? Verliert ein Roman an literarischem Wert, wenn darin beschriebene Details nicht deckungsgleich sind mit den vermeintlichen Tatsachen? Solche Fragen und vielleicht auch die, warum in großen Kreisen des Literaturbetriebs mittlerweile nur noch ein schnöder Realismus geduldet wird, lassen sich anhand der nun aufgeflammten Debatte um Charlotte Gneuß' Debütroman „Gittersee“ wieder einmal diskutieren.
Der S. Fischer Verlag, in dem der Roman erschienen ist, hat seinem Autor Ingo Schulze das Manuskript von „Gittersee“ lange vor Erscheinen des Romans zugeschickt. Daraufhin hat Ingo Schulze, wie S. Fischer-Verleger Oliver Vogel es heute in einem Gespräch mit dem "Büchermarkt" erläuterte, eine 24 Punkte umfassende Liste mit Korrekturvorschlägen erstellt. Zehn dieser Vorschläge habe die Autorin, so Oliver Vogel, übernommen, andere hingegen ganz bewusst nicht.

Baden in der Dreckbrühe der Elbe?

Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Roman, der im Dresden der 1970er-Jahre spielt, nimmt die 16-jährige Protagonistin Karin ein Bad in der Elbe. Ingo Schulze merkt an, „in dieser Dreckbrühe“, so wörtlich, habe man 1976 nicht schwimmen können. Wäre es aber nicht denkbar, dass eine Jugendliche im Überschwang der Gefühle den Sprung in die Elbe trotzdem gewagt hat? Und vor allem: Welche Bedeutung hat diese Frage für die Bedingungen, unter denen fiktionale Werke entstehen können und dürfen?
Der Gedanke, dass ein Roman einzig am Selbsterlebten, also an identitären Linien entlang geschrieben werden darf, hat etwas Gruseliges. Doch die Debatte darüber wird schon längst geführt, Stichwort: kulturelle Aneignung.
Die Frage nach der Beglaubigung des Erzählten hat im Fall von Charlotte Gneuß einen zusätzlichen, speziell deutsch-deutschen Aspekt: Gneuß wurde im schwäbischen Ludwigsburg geboren. Ihre Eltern und Großeltern, auf deren Erzählungen sie sich im Nachwort des Romans bezieht, haben ihr Leben in der DDR verbracht. Der Gedanke, Gneuß könnte sich einen Stoff angeeignet haben, den zu erzählen ihr nicht zusteht, ist absurd.

Der fiktionale Raum weitet sich

Doch ist Charlotte Gneuß nun eine ost- oder westdeutsche Schriftstellerin? Oder beides? Oder keines von beidem? In jedem Fall ist sie die Vertreterin einer jungen Generation von Autoren, die die DDR nicht mehr aus eigener Anschauung kennen und darum eine weitaus größere Distanz zu ihrem Material haben als noch die Generation eines Ingo Schulze oder beispielsweise auch einer Katja Lange-Müller. Anders gesagt: Der fiktionale Raum im Hinblick auf die erzählte DDR weitet sich derzeit, und „Gittersee“ ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür.
Es geht also auch darum, wer die Deutungshoheit über Geschichte und Geschichten hat, und inwieweit die präzise Darstellung der äußeren Umstände automatisch auf die innere Wahrheit eines Kunstwerks ausstrahlt. Provokant gefragt: Wen interessiert es, ob Tolstois Beschreibungen der Uniformen des napoleonischen Heers in „Krieg und Frieden“ bis ins Detail korrekt sind?

Das Lob in der Mängelliste

Der Schriftsteller Ingo Schulze, obwohl er nun erscheint wie ein selbsternannter Sensitivity Reader, ist in dieser Sache über manchen Zweifel erhaben. Er hat in seiner so genannten Mängelliste den Roman seiner Verlagskollegin ausdrücklich gelobt. Seine Anmerkungen zielten nicht darauf, die Qualität des Romans oder die Integrität der Autorin zu beschädigen. Zu fragen wäre eher, wie und aus welchem Interesse diese Liste so weite Kreise ziehen konnte, bis hin zur Jury des Deutschen Buchpreises und darüber hinaus.
Ein Schaden ist damit bereits angerichtet. Doch auf der heute erschienenen Shortlist für den „aspekte“-Literaturpreis, der das beste Debüt des Jahres auszeichnet, ist „Gittersee“ vertreten. Und das ist eine gute Nachricht.