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Gleichberechtigung
"Untenrum frei": Von Sex, Macht und Feminismus

Was hat Sex mit Politik zu tun? Ziemlich viel, findet die Journalistin und Kolumnistin Margarete Stokowski. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Untenrum frei". Ihre These: Nur wer untenrum frei ist, kann es auch obenrum sein. Und damit meint sie die großen, wichtigen Dinge: Gerechtigkeit, Freiheit, Macht.

Von Anne-Kathrin Weber | 21.11.2016
    Hellgrünes Schild einer Demonstrantin mit den aus einer Zeitung ausgeschnittenen und aufgeklebten Worten: "Gleiche Rechte für ALLE !"
    Schild einer Demonstrantin mit der Aufschrift: "Gleiche Rechte für ALLE!" (imago stock&people)
    Was unter der Bettdecke passiert, das ist Privatsache. Viele von uns glauben das, denn Sexualität gilt oft als das Intimste schlechthin, das nur den einzelnen und seine Partner etwas anzugehen scheint. Dabei ist Sex durchaus mit der Welt außerhalb der Bettdecke verbunden. Wie genau - das belegt die Journalistin Margarete Stokowski in ihrem Buch "Untenrum frei". Ihre These: Um eben "untenrum" frei sein zu können, muss man es "obenrum" auch sein - und umgekehrt. Sie schreibt:
    "Untenrum frei zu sein bedeutet Freiheit im sexuellen Sinne. Es bedeutet zu wissen, was uns gefällt und was wir uns wünschen, und es bedeutet, uns das Begehren zu erlauben, das in uns ist - immer so weit, dass die Freiheit der anderen respektiert bleibt. Obenrum frei zu sein bedeutet Freiheit im politischen Sinne: frei von einengenden Rollenbildern, Normen und Mythen".
    Freiheit im Sexuellen und Politischen
    Das gilt - so Stokowski - vor allem für Frauen. Dass die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von weiblicher Sexualität und politischer Freiheit aktuell und wichtig ist, davon ist sie überzeugt:
    "Ich denke, dass heute eine relativ geläufige Sichtweise so funktioniert, dass Leute sagen, sexuelle Freiheit bezüglich Sex als Handlung ist irgendwie einigermaßen geklärt und, ja, im Politischen gibt es schon noch Probleme, aber das wird sich irgendwie noch lösen, so mit der Zeit und so. Frauen werden irgendwie gleichberechtigt sein in ein paar Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Und ich glaube, dass das so nicht funktioniert, sondern dass sozusagen Freiheit im Sexuellen und Politischen nur Nuancen derselben Freiheit sind."
    Das ist kein neuer Gedanke, sondern seit langem fester Bestandteil feministischer Debatten. Margarete Stokowski hat aber kein reines Sachbuch über diese bekannte Thematik geschrieben, sondern einen biografischen Ansatz gewählt. So beschreibt sie chronologisch in sieben Essays, wie sie von der jüngsten Kindheit bis hin zu ihrem jetzigen Leben nach und nach mit Sexualität und den gesellschaftlichen und politischen Tücken drumherum in Berührung gekommen ist. Die Autorin erzählt dabei nicht nur von der Suche und dem Finden eines freien und lustvollen Liebeslebens, sondern auch von der eigenen Vergewaltigung und sexuellen Belästigung.
    Biografische Essays
    Dass diese sexuelle Biografie kein Einzelfall ist, sondern strukturelle Herausforderungen unserer Gesellschaft offenbart, das will Stokowski in ihrem Buch deutlich machen. In jedem Kapitel verknüpft sie daher ihre eigenen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Hürden in Sachen Gleichberechtigung.
    Eine davon ist für Stokowski das, wie sie sagt, eklatante Unwissen über gleichberechtigte und freie Sexualität. Sie kritisiert vor allem, dass junge Menschen oftmals immer noch nicht wüssten, dass es beim Sex nicht darum gehe, dass nur der Mann seinen Spaß habe. Die Autorin moniert auch, dass viele junge Frauen über den eigenen Körper nur sehr wenig wüssten:
    "Bei all den sexuellen und geschlechterbezogenen Fragen sind wir weit von einer flächendeckenden Aufklärung mit Mindeststandards entfernt."
    Das Buch wirkt wie ein feministischer Rundumschlag: Neben dem Fehlen von guter Aufklärung thematisiert Stokowski unter anderem auch Rollenstereotype im Bett und im Alltag, ebenso wie philosophische Fragen von Herrschaft und Macht, den Sexismus in den Medien, den weiblichen Körper und ein bisschen auch die Frauenquote. Natürlich sind all diese Aspekte miteinander verbunden.
    Feminismus ohne Alice Schwarzer
    An manchen Stellen aber hätte mehr Fokussierung, teilweise auch etwas mehr Tiefgang ihren Ausführungen gut getan. Für Leser, die sich schon intensiv mit Fragen von Gleichberechtigung und Feminismus befasst haben, wird das Buch daher mehr Bestätigung bereits bekannter Fakten als neue Erkenntnisse bringen. Andererseits bietet "Untenrum frei" einen unterhaltsamen und persönlichen Einstieg in und einen guten Überblick über dieses breite Themenfeld.
    In ihrem Buch bezieht sich Stokowski - wenn auch oft nur mit einzelnen Zitaten - auf klassische und zeitgenössische feministische Literatur, wie beispielsweise von Simone de Beauvoir, Naomi Wolf und Emma Goldman. Bei ihr selbst habe es allerdings gedauert, bis sie sich dem Feminismus zugehörig gefühlt habe, schreibt die Autorin. Grund dafür sei unter anderem gewesen, dass sie sich nicht mit allen Positionen der Frauenrechtlerinnen aus den 1960er und 1970er Jahren habe identifizieren können - vor allem nicht mit einem Feminismus wie dem von Alice Schwarzer.
    Letztendlich hat sich Stokowski aber in einem intersektionalen Feminismus wiedergefunden, der sich mit anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus und Klassenunterdrückung verknüpft sieht. Aber es gibt auch andere gute Gründe, warum Stokowski dann doch Feministin geworden ist:
    Schminke, Männer, Barbies
    "Ich könnte mich nur noch Anarchistin nennen und den Begriff des Feminismus aufgeben, aber ich weigere mich, die Definition von Feminismus denjenigen zu überlassen, die ihn abschaffen wollen und die Frauen am liebsten mögen, wenn ihnen Sperma vom Kinn tropft."
    Man muss provokante Formulierungen wie diese schon mögen, um das Buch mit Genuss lesen zu können. Inhaltlich ist aber die Erzählung darüber, wie die Autorin selbst zum Feminismus kam, das, was das Buch auch für Kenner der Materie kraftvoll und spannend macht.
    "Es wird gar nicht so viel einfacher, sobald man sich so einem 'Ismus' anschließt, es nimmt einem halt auch trotzdem keine Entscheidung ab. Das ist, glaube ich, ein bisschen so dieser Ideologieverdacht, unter dem Feminismus für manche Leute immer steht: 'Dann ist irgendwie alles geklärt, dann entscheidet man halt immer gegen Männer und immer gegen Schminke und immer gegen Barbies und dann ist immer so ein Weg vorgegeben, den man nur noch gehen muss.' Und das stimmt halt nicht, es nimmt einem überhaupt nichts ab. Es ist halt eine Haltung, an der man sich irgendwie orientieren kann, es gibt dann bestimmte Werte, die man irgendwie gut findet und so, aber es ist nicht so, dass es ein vorgegebener Entscheidungskompass ist, der einem irgendwie die Freiheit wegnimmt. Sondern man eröffnet sich halt neue Freiheiten."
    Auch wenn Margarete Stokowski in "Untenrum frei" keine wirklich neuen Thesen für sexuelle und politische Freiheit präsentiert - ihre mutige persönliche Erzählung zeigt sehr deutlich, warum diese klassischen feministischen Anliegen auch für die heutige Generation von Aktivistinnen nichts an Aktualität verloren haben.
    Margarete Stokowski: "Untenrum frei"
    Rowohlt Verlag, Berlin 2016. 256 Seiten, 19,95 Euro.