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Gletscherschmelze
Grönland wird zum Grünland

Eine neue Auswertung von Satellitendaten zeigt, dass sich der Abbau von Grönlands Gletschern immer schneller beschleunigt. Durch dieses Abschmelzen von Eismassen könnte der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um mehr als 70 cm ansteigen. Davon wären 400 Millionen Menschen in Küstenregionen betroffen.

Von Volker Mrasek | 11.12.2019
Ein Eisberg in Süd-West-Grönland im August 2014.
Das Eis in Grönland und in der Antarktis schmilzt immer schneller (picture-alliance / dpa / Albert Nieboer)
Fast einhundert Forscher haben an der Langzeitstudie über Grönland mitgewirkt. Eingeflossen sind die Daten von elf verschiedenen Satelliten-Missionen und auch von Flugzeug-Messkampagnen. Eric Rignot, Professor für Geowissenschaften an der Universität von Kalifornien in Irvine, zur Motivation des Projektes:
"Es ist ein Konsortium aller Wissenschaftler weltweit, die auf diesem Gebiet arbeiten. Wir wollten alle verfügbaren Daten auswerten und daraus ableiten, was in Grönland geschieht."
Das Ergebnis ist beunruhigend. Seit 1992 hat Grönland demnach fast 4 Billionen Tonnen Eis an den Ozean verloren – genug, um den globalen Meeresspiegel um mehr als einen Zentimeter ansteigen zu lassen. Die Gletscherschmelze hat sich zudem stark beschleunigt. Nach den Daten taut das Eis heute siebenmal so schnell wie noch vor 27 Jahren.
Die Gletscher werden von zwei Seiten angegriffen
Grönland wird dabei gleich von zwei Seiten attackiert: Ein wärmerer Ozean nagt von unten immer stärker an seinen Gletschern, eine wärmere Atmosphäre lässt sie auch an der Oberfläche tauen:
"Mit seinem wachsenden Beitrag zum Meeresspiegel-Anstieg, wie wir ihn jetzt sehen, folgt Grönland dem Worst-Case-Szenario des Weltklimarates. Gletscher in allen Sektoren der Insel schmelzen. Das Bedenklichste ist die Entwicklung im Norden. Das ist der kälteste Teil Grönlands, wo die Gletscher am langsamsten Richtung Ozean fließen. Auch sie schmelzen inzwischen merklich. Hier lauert die größte Gefahr für die Zukunft, was Grönlands Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels betrifft."
Das bisher kritischste Jahr war 2011. Damals verlor Grönland schätzungsweise 335 Milliarden Tonnen Eis. Der Mittelwert der vergangenen Jahre lag deutlich darunter und betrug 217 Milliarden Tonnen.
Die Forscher machen dafür kühlere Bedingungen verantwortlich, sowohl in der Atmosphäre wie auch im Nordatlantik. Deshalb sei auch der Jakobshavn-Gletscher zuletzt nicht mehr geschrumpft, wie Eric Rignot sagt – einer der gewaltigsten Eisströme auf Grönland. Er liegt im Südwesten:
"Jacobshavn ist zuletzt wieder gewachsen, aber das ist eine Ausnahme. Insgesamt hat sich der Abfluss der Gletscher weiter beschleunigt, auch wenn die vergangenen Jahre für Grönland etwas kühler waren. Das sollte man beachten, wenn man an langfristige Veränderungen denkt."
Das Abschmelzen beschleunigt sich immer mehr
2012 hatten dieselben Forschungsteams schon einmal Bilanz gezogen. Damals berichteten sie, die Eis-Schmelzrate habe sich seit Beginn der Satellitenbeobachtungen über Grönland verfünffacht. Nur sieben Jahre später schwinden die Gletscher schon siebenmal so schnell.
Andrew Shepherd rechnet fest mit einer weiteren Beschleunigung. Der britische Physiker ist Professor für Erdbeobachtung an der Universität Leeds und einer der Projektleiter:
"Mindestens die Hälfte der gesamten bisherigen Eisverluste trat erst in den letzten fünf Jahren auf. Und das nicht nur auf Grönland, sondern auch in der Antarktis. Die Veränderungen gehen jetzt erst richtig los! Wir erwärmen das Klima vielleicht schon seit 50, 60 Jahren. Die Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis haben erst nach Jahrzehnten darauf reagiert und auch nur sehr langsam. Aber irgendwann nimmt das Ganze Fahrt auf und lässt sich nicht mehr umkehren. Die Eisschmelze beschleunigt sich immer mehr. In diesem Zustand ist das System im Moment in der Antarktis und auf Grönland."
Meeresspiegel wird deutlich steigen
Die Konsequenzen sind klar: Das Schmelzwasser der beiden Polkappen wird in Zukunft immer stärker zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Und der Weltklimarat seine Prognosen bald wieder nach oben korrigieren müssen, wie Shepherd fürchtet:
"Wir werden es mit einem Anstieg von 70, 80 oder 90 Zentimetern bis zum Ende des Jahrhunderts zu tun bekommen. Dessen sollten sich die Leute bewusst sein."
Laut Shepherd könnten dann 400 Millionen Menschen mehr als heute in Küstenregionen leben, die jedes Jahr überschwemmt werden.