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Global Prayers

Ob Christen, Hindus oder Muslime. In immer mehr Ländern prägen religiöse Bewegungen nicht nur den Alltag und die Kultur, sondern auch das politische Geschehen. Auf einer Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin debattierten Wissenschaftler über religiöse Heilslehren und Fortschrittsversprechen.

Von Andreas Beckmann | 01.03.2012
    Für westliche Ohren fast unvorstellbar, für afrikanische geradezu alltäglich: Das Klangbild einer Millionen-Stadt wird dominiert von religiösen Feiern, die in zahllosen Gotteshäusern stattfinden und wegen des massenhaften Andrangs nach draußen übertragen werden.

    So wie im nigerianischen Lagos prägt die christliche Pfingstkirche in vielen Metropolen Schwarzafrikas den Alltag. In der arabischen Welt beherrschen oft islamistische Gruppen wie die Muslimbrüder die Straßen. Und in Mumbai sitzen Vertreter radikaler Hindus längst in den obersten Rängen der kommunalen Verwaltung. Für den Anthropologen Werner Schiffauer von der Viadrina Universität in Frankfurt an der Oder kommen diese Entwicklungen nicht überraschend.

    "Bei allen drei Phänomen geht es darum, dass sie in den 70er, 80er-Jahren ihren Aufschwung erlebt haben mit ... dem Scheitern unseres Fortschrittsgedanken. Bis in die 70er-Jahren herrschte ja der Nachkriegsgedanke, dass es aufwärts geht, dass der Mensch sich innerhalb von ein paar Jahren von der selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien wird. Dass er mit der Atomenergie eine Energieform hat, die sauber ist, dass mit der grünen Revolution die Ernährung aller gewährleistet ist, dass mit der Dekolonisierung das Aufholen der Dritten Welt verknüpft ist. ... Keine dieser Sachen hat sich bewahrheitet, wir haben zwar eine wahnsinnige Beschleunigung, aber wir haben keine Richtung mehr, in der wir wissen, wo es hingeht."

    Religiöse Heilslehren ersetzen das Fortschrittsversprechen der Moderne – diese These hatte schon Jürgen Habermas mit seiner Diagnose vertreten, wir lebten in einer postsäkularen Gesellschaft. Aber wird man dem global wachsenden Bedürfnis nach religiöser Welterklärung und spirituellen Gemeinschaftserlebnissen damit wirklich gerecht?

    "Es geht um Gott! ... Und ich glaube, das muss man, wenn man sich mit diesen Bewegungen beschäftigt, auch ernst nehmen."

    Was der Göttinger Religionsethnologe Boris Nieswand fordert, klingt fast selbstverständlich, ist aber offenbar nur schwer zu erfüllen.

    "Das merkt man immer wieder in den Diskussionen beim Kaffee mit den Kollegen. Dass es eben Schwierigkeiten gibt, die damit zusammen hängen, dass viele Wissenschaftler Distanzierungsprozesse von Religionen hinter sich haben und auf einmal wieder Menschen begegnen, die Religiosität in einer Weise leben, die nicht in dieses akademisch reflektierte ... Weltbild reinpasst."

    Das Weltbild der Sozialwissenschaften lasse nur rationale Erklärungen zu, meint Boris Nieswand. Deshalb werde einem nicht-rationalen Phänomen wie religiösen Bewegungen schnell eine Rolle zugeschrieben, die mit ihrem Selbstbild gar nichts zu tun habe. Etwa, dass das Gemeinschaftsgefühl im Gottesdienst die soziale Kälte im Alltag kompensieren solle. Boris Nieswand will solche Thesen gar nicht grundsätzlich zurückweisen. Aber er bezweifelt, dass sie den Erfolg der neuen religiösen Bewegungen umfassend erklären können.

    "Die Frage, was sind jetzt die eigentlichen Gründe ..., da steckt ja die Frage hinter, dass es Erklärungsgründe außerhalb der Religion geben müsste, mit denen man diese religiösen Bewegungen erklären könnte. Die Gefahr ... ist, dass wir ... letztlich immer schon erklärt haben, was da eigentlich passiert, ohne dass wir uns damit beschäftigt haben, was dort passiert. "

    Religiöse Erfahrungen, meint Boris Nieswand, bleiben immer etwas Mystisches, das die Wissenschaft kaum ergründen werde. Sie könne allenfalls beschreiben, wie religiöse Bewegungen die Welt um sie herum verändern.

    Weil Mystik und Ausdrucksformen der hiesigen christlichen Kirchen größtenteils aus voraufgeklärten Zeiten stammen, werden religiöse Bewegungen in der europäischen Wissenschaft oft als konservativ und rückwärtsgewandt eingeschätzt. Anderswo gelten sie dagegen als ein Motor des sozialen Fortschritts.

    "Die Kirchen in den USA waren nie Teil der Regierung, anders als in Europa, wo sich die Aufklärung gegen ein Bündnis von Feudalherrschern und Klerus durchsetzen musste. Deshalb standen Linke und Kirchen in Europa oft gegeneinander. In den USA aber kämpften sie häufig auf der gleichen Seite, im Unabhängigkeitskrieg, bei der Sklavenbefreiung, in der Bürgerrechtsbewegung oder beim Protest gegen Banken, stets ging es gegen die Mächtigen."

    Für die Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally von der New York University sind die letzten 35 Jahre eine Ausnahme in der amerikanischen Geschichte. Denn derzeit beherrschen konservative evangelikale Prediger die Szene. Ihre Kirchen unterstützen die Republikanische Partei. Inzwischen sieht Marcia Pally aber eine Gegenbewegung heranwachsen: die Neuen Evangelikalen.

    "Sie richten Suppenküche ein und Kliniken, in denen Arme kostenlos behandelt werden. Sie eröffnen Obdachlosenasyle und Anlaufstellen für entlassene Strafgefangene. Sie bieten Jobtrainings an. Sie wollen wie Jesus den Menschen dienen und ihnen helfen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen."

    Nach Schätzungen von Marcia Pally ist etwa ein Fünftel der amerikanischen Christen in Gemeinden der Neuen Evangelikalen organisiert. Bei den letzten Wahlen haben sie fast geschlossen für Barack Obama gestimmt. Auch in diesem Jahr wollen sie ihn wieder unterstützen. Weniger, indem sie explizit für ihn werben. Stattdessen wollen sie Arme und Minderheiten ermutigen, überhaupt wählen zu gehen. Das würde das Stimmenreservoir für Obama deutlich erweitern.

    Sozialprojekte betreiben auch die meisten islamistischen Gruppen. Gleichzeitig propagieren viele einen Gottesstaat als Gegenmodell zum säkularen Gemeinwesen. In der muslimischen Welt, aber auch in den Einwanderervierteln Europas machten sie die Idee einer politischen und sozialen Ordnung populär, die sich an den Gesetzen der Scharia orientiert. Inzwischen aber verblasst dieses Leitbild, konstatiert Werner Schiffauer von der Viadrina Universität.

    "Es ist ein völlig rückläufiges Phänomen und es wäre schon in den 90er-Jahren abgeebbt, wenn nicht am 11. September sozusagen durch einen radikalen Flügel der Islamismus auf die Tagesordnung zurückgebombt worden wäre."

    Inzwischen lehne die überwältigende Mehrheit der Muslime weltweit einen säkular-demokratischen Staat nicht mehr als Erfindung von Christen oder Ungläubigen ab. Dazu habe nicht zuletzt der arabische Frühling beigetragen.

    "In den islamischen Ländern wurde die säkulare Ordnung immer in der Gestalt der Tyrannis erfahren. Sie hatten die ganzen Diktatoren des Nahen Ostens, die die säkularen Regime verkörpert haben. Hier hat der arabische Frühling eine ganz andere Dimension eingebracht, wo eine säkulare Ordnung und Demokratie nun auf einmal als etwas Eigenes empfunden wurden."

    Wenn die neuen Regierungen eine Antwort auf die sozialen Probleme ihrer Länder fänden, dann werde sich bald eine islamische Demokratie entwickeln, in der auch Platz für Andersdenkende sei, hofft Werner Schiffauer.

    Der ägyptische Stadtforscher Nezar Alsayyad, der in Berkeley lehrt, sieht dagegen seit seinem letzten Besuch in seiner Heimatstadt Kairo einen arabischen Winter heraufziehen.

    "Alle Straßen sind jeden Freitag voll von betenden Muslimen, die alles blockieren, indem sie überall ihre Teppiche ausrollen. Das ist nicht feindselig gemeint gegenüber Andersgläubigen, aber man kann sich dann in Kairo nicht mehr bewegen, weil man auf keinen Fall auf einen dieser Teppiche treten darf. Da wurde mir klar, wie sehr die Freiheiten von Minderheiten wie den Kopten in dieser Stadt schon beschränkt sind."

    Nezar Alsayyad hat vor zwei Jahren eine Studie veröffentlicht über radikale religiöse Bewegungen, die in vielen Teilen der Welt ganze Städte unter ihre Kontrolle bringen wollen. "Fundamentalist City?" heißt das Buch, mit einem Fragezeichen im Titel. Denn es sei schwer zu bestimmen, ab wann eine Stadt von Fundamentalisten beherrscht werde.

    "Ist eine Stadt fundamentalistisch, wenn einzelne Straßen nur von Männern betreten werden dürfen wie in Vierteln der orthodoxen Juden in Israel? Oder wenn Frauen nur verschleiert aus dem Haus dürfen wie in Kabul? Oder schon dann, wenn Raucher aus allen öffentlichen Gebäuden verbannt werden wie in Berkeley? Wann wird die Grenze überschritten?"

    Nezar Alsayyad versucht eine vorläufige Antwort: Überall dort, wo Minderheiten von öffentlichen Plätzen ausgeschlossen oder ihnen Bürgerrechte verweigert werden, mache sich fundamentalistische Herrschaft breit.

    "Die Stadt wird zum Schlachtfeld, wenn eine Gruppe der anderen ihre Wertvorstellungen aufzwingen will. Und weil schon mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt, könnten die fundamentalistischen Städte von heute zum Vorbild werden für fundamentalistische Gesellschaften der Zukunft."