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Glosse
Der größte Fehler der WM-Fernseh-Boykotteure

Mit "Das wunde Leder" ist das ultimativ freudloseste Buch zur Fußball-WM erschienen, meint Arno Orzessek. Mit sportlicher Moralkeule würden die Autoren an die Vernunft der Fußballfans appellieren - und voll daneben treffen. Statt Adornos Kasteiungslust zu befriedigen, rät er zu Spaß vor der Glotze.

Von Arno Orzessek | 13.06.2018
    Fußballfans verfolgen am 04.07.2014 in Berlin beim "Public Viewing" am Brandenburger Tor während das WM-Viertelfinalspiel Deutschland - Frankreich.
    Hat denn schon mal jemand Fußball aufs Vernunftgründen konsumiert, fragt sich Arno Orzessek (dpa / Daniel Bockwoldt)
    Der Suhrkamp Verlag also! Der Verlag, zu dessen DNA - so sagt man ja heute - die Werke der kritischen Theorie gehören. Vielleicht haben sie gerüchteweise davon gehört. Etwa von Adornos spaßbefreiter Runtermache der Kulturindustrie und so. Ist 'ne Weile her, klar. Aber jetzt erklimmt Suhrkamp mal wieder den Gipfel der Entsagung und verlegt das ultimativ freudloseste Buch zur Fußball-WM.
    Der Titel "Das wunde Leder" klingt in der Ära der Vollplastik-Pille zwar melodramatisch und riecht irgendwie nach WM '54, "Rahn müsste aus dem Hintergrund schießen". Für die Jüngeren: Abseits gab's damals schon längst, das Fernsehen sendete aber noch in neolithischem Schwarz-Weiß.
    Die sportliche Moralkeule
    Was die Autoren Klaus Zeyringer und Stefan Gmünder wollen, würde indessen Adornos Kasteiungslust befriedigen: Wir, die Fans, sollen uns kein einziges WM-Spiel an der Glotze noch sonstigen Bildschirmen reinziehen. Weil nämlich - Achtung, es folgt eine Kausalkette so dicht wie die Viererkette Frankreichs - die Fernseh-Gelder den Großteil der irrwitzigen Penunze in den globalen Betrieb pumpen, der darüber mordskorrupt geworden ist, die Kicker unter Millionen begräbt und unser schönes Ballspiel als solches - schnief - kaputt macht.
    Zugegeben - das ist 'ne sportliche Moralkeule, und durchaus mit Schmackes geschwungen. Doch, gemach. Sie trifft voll daneben, und wieder mal werden alle auf der Fernseh-Couch sitzen bleiben. Zeyringer kassiert seine Attacke auf unser schlechtes Fußball-Gewissen nämlich selbst, indem er lebensklug einräumt: "Kommerz und Gaunerei gehören insgesamt zusammen. Und wo viel Geld ist, ist viel Korruption im Spiel." Heißt für unseren Fall: Wer trotz Diesel-Skandal weiter VW, Audi oder Mercedes kauft, sollte vom WM-Boykott nun wirklich schweigen.
    Danke, Herr Draxler!
    Und verdienen Fußballer wirklich so irre - ja? Dann nehmen Sie mal die neue Ausgabe der russischen Vogue zur Hand. Auf dem Titel prangt neben zwei anderen halbnackten Kickern der deutsche Nationalspieler Julian Draxler. Und zwar in der Gesellschaft von Natalja Wodjanowa, die ihr Oberteil als einzige nicht abgelegt hat und im Übrigen als Model rund 5,5 Millionen Euro jährlich verdient. Weiß man das, lässt sich der Hintersinn des Vogue-Titels leicht entschlüsselt: Er dekonstruiert die Mär, dass Fußballer überbezahlt sind.
    Bitte, Draxler läuft auf der linken Außenbahn objektiv längere Strecken als die Wodjanowa im Fotostudio und auf dem Laufsteg. Und was hat er von der Plackerei? Per anno gerade zwei Millionen Euro mehr als sie. In diesem Sinne: Danke, Herr Draxler, für Ihren Beitrag zur Frage der Lohngerechtigkeit.
    Überhaupt kümmern sich unsere Nationalspieler um gesellschaftliche relevante Themen, der Filigranfüßler Mesut Özil zum Beispiel um Mode und Benehmen. Jüngst empfing Özil die FAZ in seinem Haus im London-Hampstead, wo er sich im Anzug von Zegna Couture und in Klamotten von Emporio Armani ablichten ließ.
    Die Fußball-Fans und ihre Vernunft
    Aber woran dachte der Mann, der sich für mehr als 71 Millionen Follower in den sozialen Medien verantwortlich fühlt? An seine Vorbildfunktion. Und ließ die jungen Leuten deshalb via FAZ wissen: "Man kann nicht im Hoodie in ein Business-Meeting gehen." Was darauf hindeutet, dass Özils Treffen mit Erdogan etwas später missverstanden worden ist. Er hat dem türkischen Präsidenten nicht gehuldigt, nein, er hat ihm erklärt, wann man so ein Trikot von Arsenal London trägt und wann lieber nicht. Und solche Charaktertypen sollen wir nun bestreiken, wenn sie auf dem grünen Rasen ihrer Arbeit für Deutschland nachgehen?
    So oder so: Der größte Fehler der WM-Fernseh-Boykotteure ist ihr Appell an die Vernunft. Hat denn schon mal jemand Fußball aufs Vernunftgründen konsumiert? Da sei Daniel Cohn-Bendit vor: "Wir denken vor dem Spiel und nachher können wir wieder denken, aber wenn der Ball rollt, dann fühlen wir nur noch. Dann fühlen wir mit dem Spiel."
    Allen viel Spaß mit dieser korrupten, dreckigen und verlogenen WM!