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Golnaz Hashemzadeh Bonde: "Was bleibt von uns"
Vom Leiden am Exil

Was bedeutet Heimat? Und kann man eine neue finden, wenn man die alte verlässt? Diesen Fragen geht die in Schweden lebende, im Iran geborene Schriftstellerin Golnaz Hashemzadeh Bonde in ihrem beeindruckenden Debütroman "Was bleibt von uns" nach.

Von Claudia Kramatschek | 20.02.2019
Die Schriftstellerin Golnaz Hashemzadeh Bonde und ihr Roman „Was bleibt von uns“
Die Schriftstellerin Golnaz Hashemzadeh Bonde gewinnt dem Thema "Heimatverlust" neue Facetten ab (Buchcover Nagel&Kimche Verlag, Autorenportrait: copyright Helén Karlsson)
Um es gleich vorweg zu sagen: Dies ist ein Buch, das einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Und das man liest wie im Rausch – obwohl es von Dingen handelt, die man meint schon oft und vor allem zur Genüge gelesen zu haben meint. Krankheit etwa, in diesem Fall: Krebs. Wen die Diagnose trifft, den trifft sie meist unvermittelt und hart. Das gilt auch für Nahid, die 60-jährige Ich-Erzählerin in Golnaz Hashemzadeh Bondes Debütroman.
"Ich versuche zu lächeln. Aber es überfällt mich kalt. All das, wovon sie keine Ahnung haben. All das, was keiner in diesem verdammten Land versteht, trotz all ihrem Wissen. All das, was mit Schmerz und Verlust und Kampf zu tun hat."
"In diesem Land" - das ist Schweden. Dort lebt Nahid, seit sie knapp 40 Jahre zuvor mit Mann und Kind aus dem Iran geflohen ist. Ihr Mann, Masood, ist vor kurzem gestorben. Ihre Tochter Aram ist inzwischen eine junge erwachsene Frau. Das Verhältnis der beiden gestaltet sich allerdings schwierig. Denn Nahid liebt ihre Tochter zwar, doch ihre Liebe kann sie nicht zeigen. Nun aber, mit dem Wissen, dass womöglich nicht mehr viel Zeit bleibt, rekapituliert sie für Aram ihr eigenes Leben: ein Leben, das - so empfindet es Nahid - durch und durch im Zeichen des Verlusts stand.
"Manchmal möchte ich allen sagen, die uns anklagen, hierhergekommen zu sein, um uns zu bereichern: Nehmt, was uns nicht gehört. Ich möchte ihnen sagen, glaubt ihr denn, ich hätte etwas gewonnen? Glaubt ihr, ich hätte mehr gewonnen, als ich verloren habe?"
Rückschau einer Zweifelnden
Dieser hadernde Ton ist die Grundmelodie des Romans. Denn ja, Nahid ist eine Frau, die an allem zweifelt. Und doch kippt ihre Rückschau nie ins Klagende. Schon als junges Mädchen, so begreift man bald, war Nahid eine von Träumen und Idealen beseelte Kämpferin. Als sie Anfang zwanzig ist, bricht im Iran die Revolution aus. Und sie verliebt sich in Masood.
"Ich spürte, dass er sah, wer ich war. Dass er sah, was ich haben wollte, dass er mir helfen würde, es zu bekommen. Ich spürte, dass er meine Freiheit und meine Kraft wollte, dass er sie vielleicht noch mehr wollte als ich selbst."
Voller Hoffnung engagieren sich beide für ein Leben in Freiheit. Doch bei einer Demonstration von Studenten stirbt erst Masoods bester Freund, dann verschwindet Nahids kleine Schwester spurlos, und das für immer.
"Was ich damals nicht begriff, war, dass auch wir an diesem Tag starben. Wir waren zwanzig Jahre alt, und in mancher Hinsicht endete da unser Leben. Alles, was später geschah, waren unbeholfene Versuche, das zu ersetzen, was wir an diesem Tag verloren hatten."
Masood verwandelt sich - kaum ist das gemeinsame Kind geboren - in einen gewalttätigen Ehemann.
"Meistens fing es mit einer erhobenen Hand und einem Schlag ins Gesicht an. Manchmal war es eine Ohrfeige, aber meistens eine geballte Faust. Eine geballte Faust auf meinen Mund. Auf meine Wange. Auf die Stirn. Unter das Kinn. Es variierte. Eigentlich reichte der erste Schlag, meistens stürzte ich dann hin. Damit hätte er fertig sein können, aber so funktionierte es nicht. Wenn ich dalag, fing er an zu treten."
Erhoffter Neuanfang
Und doch erhofft Nahid sich gemeinsam mit ihm einen Neuanfang durch die Flucht aus dem Iran.
"Wir redeten uns ein, dass wir eine Verantwortung hätten, dass wir um ihretwillen fliehen müssten. Damit sie nicht ihre Eltern verlieren würde, ihr eigenes Leben. Damit sie eine Zukunft haben konnte. Wir verließen deshalb den Kampf, unsere Familien, unser Land."
Das Leben aber, das sie in Schweden erwartet, erweist sich als neuerliche Illusion. Für den Wunsch nach Freiheit bezahlen Masood und Nahid einen hohen Preis. Die erste Wohnung etwa, die sie erhalten, ist wenig mehr als ein Rattenloch.
"Das war Asphalt und Beton und Blech und lange Reihen schmutzig grüner Balkons mit mehreren Wohnungstüren. Es war hässlich, es stank nach Urin, zwischen den Häusern torkelten Betrunkene. In den Wohnungen wurde geschrien."
Vor allem vermisst Nahid ihre eigene Mutter, die sie mit der Flucht zugleich im Stich gelassen hat. Mehr und mehr begreift man, welche Last auf Nahids Tochter Aram liegt – deren Leben erfüllen soll, was Nahid selbst nunmehr verwehrt ist: eine Heimat zu haben und verwurzelt zu sein, verwurzelt wie die Bäume, die Nahid im schwedischen Wald bestaunt:
"Ich wundere mich über so etwas, das einfach so sein darf. Geht man auf den Pfaden weiter, krümmen sich unter den Füßen Wurzeln. Ich berühre sie. Die kann man nicht hochheben, nicht einfach an einen anderen Ort umsetzen."
"Was bleibt von uns" entpuppt sich insofern als Roman mit mehr als nur doppeltem Boden. Denn was als Geschichte einer Krankheit beginnt, weitet sich, Seite für Seite, zu einem Roman über den Segen und den Fluch von Flucht und Exil. Eines Tages etwa schaut Nahid auf die syrischen Flüchtlinge, die plötzlich tagtäglich in den Nachrichten sind. Und will ihnen sagen:
"Es hat gerade erst angefangen. Das, wovor ihr geflohen seid, ist bei euch, ist noch so lebhaft präsent wie das merkwürdige Leben, an das ihr euch anzupassen versucht. Das wird nicht verschwinden! Ihr seid Verurteilte und eure Kinder ebenfalls. Alles ist noch da, und alles vererbt sich."
Krankheit als Metapher
"Was bleibt, wenn man die Heimat verlässt?" lautet insofern die zentrale Frage des Romans. Golnaz Hashemzadeh Bonde gibt darauf bewusst keine Antwort - außer der unaufhebbaren emotionalen Ambivalenz zwischen alter und neuer Heimat, von der auch Nahid getrieben ist. Der Autorin gelingt dabei Erstaunliches. Immerhin könnte viel schief gehen in einem Roman, der die Krankheit zugleich zur Metapher erhebt. Doch Bonde schafft das Kunststück, beide Stränge - die reale Erkrankung und das Leiden am Exil - gleichberechtigt ineinander zu verschränken. Und davon in Sätzen zu erzählen, die messerscharf geschliffen sind, jeder von ihnen ein Hieb in das Herz der Leser.
Zugleich springt die Erzählung gekonnt hin und her zwischen Nahids Notaten über den fortschreitenden körperlichen Verfall und den Erinnerungen an die zerbröckelnden Träume. Sprich, immer tiefer fräst Nahid sich in ihre Geschichte, vorwärts und rückwärts zugleich. Der ganze Roman ist insofern bis in die Struktur hinein geformt von der inneren Zerrissenheit dieser Heldin. Denn ja, sie ist eine Heldin. Eine Heldin des Überlebens, die dem eigenen Schicksal am Ende übrigens doch einen Neuanfang abtrotzen kann. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Stattdessen erfolgt nur eins: der dringende Rat, diesen so stillen und doch wuchtvollen Roman unbedingt zu lesen.
Golnaz Hashemzadeh Bonde: "Was bleibt von uns"
aus dem Schwedischen von Sigrid Engeler
Verlag Nagel & Kimche, Zürich. 219 Seiten, 20 Euro.