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Goodbye Europa

Drei von vier Briten wollen laut einer Umfrage ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft und mehr als jeder Zweite würde sogar für einen Austritt stimmen. Diese EU-Skepsis ist aber nicht nur Folge der aktuellen Eurokrise.

Von Jochen Spengler | 12.12.2012
    EU-Begeisterung herrschte noch nie, doch so nah war Großbritannien dem "Brexit" - einem british exit selten. Auslöser war die Eurokrise; ohne sie wäre es der überwiegend europafeindlichen Presse wohl kaum gelungen, die latente EU-Skepsis der Briten so weit zu schüren, dass viele in einer Volksabstimmung über Rein oder Raus entscheiden wollen. Ohne die Krise wäre UKIP, die rechtspopulistische Unabhängigkeitspartei, von einer Splittergruppe kaum zu einer ernst zu nehmenden Kraft aufgestiegen; ohne Eurokrise hätten die EU-Gegner innerhalb der konservativen Partei schwerlich Oberwasser bekommen. Der EU wohl gesonnene Kräfte, wie die in London mitregierenden Liberaldemokraten, wurden völlig in die Defensive gedrängt. Vor 15 Monaten ging deren Parteichef, Vizepremier Nick Clegg, ein überzeugter Europäer mit Brüsselerfahrung, erstmals auf Distanz zum Euro, für dessen Einführung in Großbritannien die Liberalen lange Jahre geworben hatten. Nun aber sagte er, ein Beitritt wäre ein Fehler gewesen. Und:

    "Ich bezweifle es wirklich sehr, dass wir es während meiner politischen Laufbahn als Vorsitzender der Liberaldemokraten erleben werden, dass Großbritannien den Euro einführt."

    Nun sollte man zwar auf Cleggs politische Zukunft keine allzu hohen Wetten abschließen, aber tatsächlich gehört es in Großbritannien heute zum guten Ton, den Euro als Fehlkonstruktion abzutun, der nicht funktionieren werde. Man ist froh, dass man das Pfund Sterling behalten hat. Und seit die EU nicht mehr als Wohlstandsmodell anzieht, sondern für Krise und Kosten steht, für Überregulierung, Bürokratie und fehlende demokratische Legitimität, wird eben auch die Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union selbst infrage gestellt.

    Vor einem Jahr wehrte Premierminister Cameron erste Forderungen aus seiner konservativen Partei nach einer Volksbefragung zur EU noch konsequent ab:

    "''Ich möchte, dass wir in Europa einflussreich bleiben in unserem nationalen Interesse, indem wir den Binnenmarkt fördern, für Wachstum sorgen. Ich sehe keine Notwendigkeit für eine Rein oder Raus-Volksbefragung, weil wir zu Europa gehören und dafür sorgen sollten, dass es in unserem Sinn funktioniert.""

    Doch dafür fehlte Cameron von Beginn an eine durchdachte, konzeptionelle Europastrategie. In der Opposition versprach er dem britischen Volk im Falle eines Wahlsiegs ein Referendum über den EU-Vertrag von Lissabon, ein Versprechen, das er dann zurückzog. Nach seiner Wahl zum Premierminister brachte Cameron stattdessen ein Gesetz auf den Weg, dass eine Volksbefragung für den Fall vorschreibt, wenn durch Vertragsänderung weitere Kompetenzen von London nach Brüssel verlagert werden sollten. Damit, so nahm Cameron an, habe er die Bombe entschärft. Doch er wurde die Anti-EU und Pro-Referendum-Geister, die er gerufen hatte, nicht los. Im Oktober 2011 widersetzte sich ein knappes Drittel der Konservativen im Parlament der Fraktionsdisziplin. 81 stimmten für ein von Cameron abgelehntes EU-Referendum, und der Parteichef konnte eine Niederlage nur mit den Stimmen der Labour-Opposition abwehren. Einen Monat später hielt der Premierminister eine erste Grundsatzrede zu Europa.

    "Die EU zu verlassen, liegt nicht in unserem nationalen Interesse. Ohne eine EU-Mitgliedschaft würden wir wie Norwegen enden: abhängig von jeder einzelnen Regel des Binnenmarktes, gemacht in Brüssel, aber unfähig die Regeln mitzugestalten."

    Ein Freund der EU ist Cameron deswegen noch lange nicht. Mit Europa assoziiert er vorwiegend Negatives und sich selbst bezeichnet er als EU-Skeptiker. Während Angela Merkel am selben Tag in Leipzig für mehr Europa plädierte, warb Cameron in London um weniger Europa.

    "Eines mit der Flexibilität eines Netzwerks, nicht mit der Starrheit eines Blocks. Ein Europa, das die Unterschiedlichkeit der europäischen Nationen als Quelle der Stärke begreift. Die Krise bietet Gelegenheit, die EU neu auszurichten, dass sie besser den Interessen ihrer 27 Nationen dient; und sie bietet Großbritannien Gelegenheit, Kompetenzen zurückzuholen, statt wegzugeben. Das ist die Art fundamentaler Reform, nach der ich verlange und ich bin entschlossen, alles zu tun, um sie zu liefern."

    Das Ja zu EU-Vertragsänderungen also nur bei Zugeständnissen für Großbritannien – so lautete Camerons Taktik. Und schon drei Wochen später setzte er sie um bei der Abstimmung über den Fiskalpakt – zuvor kräftig von Parlament und Medien angefeuert.

    "Steh auf für Britanniens Recht", titelte die "Daily Mail", das konservative Kampfblatt von Millionen britischer Hausfrauen, und es waren wahrlich keine guten Wünsche, sondern ein Feuerwerk von Forderungen, das ihm die eigenen Parteifreunde mit auf den Weg zum Dezembergipfel 2011 gaben.

    "Wird der Premierminister Großbritannien stolz machen, und in Brüssel den Kampfesmut einer Bulldogge zeigen?"
    "Stimmt er mir zu, dass es Zeit für dieses Land ist, Europa zu verlassen?"
    "Darf ich eine grundsätzliche Neuverhandlung unserer Beziehungen mit der EU vorschlagen, die auf freiem Handel, Wachstums und Wettbewerb basieren und nicht auf einer politischen Union und Schulden machender Regulierung?"

    Tatsächlich verlangte Cameron für sein Ja zum Fiskalpakt, ein britisches Vetorecht bei allen Finanzmarktregulierungen, über die im Binnenmarkt mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt wird. Darauf konnten die anderen EU-Regierungschefs nicht eingehen. Sie ließen Cameron auflaufen und einigten sich darauf, den Pakt außerhalb des EU-Vertragswerks zu schließen. Zuhause aber wurde der Premierminister, dessen Veto in Europa niemand verstand, von seinen konservativen Parteifreunden als Held gefeiert.
    Doch lange blieb er es nicht. In einer Zeit der Sparprogramme und eiserner Haushaltsdisziplin versprach die Regierung Cameron dem Parlament, in Brüssel mindestens für ein Einfrieren des EU-Haushalts einzutreten.

    "Diese Regierung verfolgt in den EU-Haushaltsverhandlungen die härteste Linie aller Regierungen, seit wir der EU beigetreten sind. Am besten wäre eine Kürzung des Budgets, am schlechtesten ein Einfrieren. Und ich bin bereit, mein Veto einzulegen, wenn wir keine Einigung erzielen, die gut ist für Großbritannien."

    Doch einer Unterhausmehrheit reichte das Einfrieren der EU-Ausgaben nicht, es verlangte von Cameron sogar, eine reale Kürzung durchzusetzen. Vergeblich warb der Premierminister dafür, ihm Verhandlungsspielraum zu geben. Am Ende stimmten 53 seiner Tories mit einer Europa im Normalfall gewogenen Labour-Opposition, die aber der opportunistischen Versuchung nicht widerstehen mochte, Cameron eine blamable Abstimmungsniederlage zuzufügen. Der Labour-Vorsitzende Ed Miliband ging Cameron genüsslich an:

    "Er kann niemanden beim Thema EU überzeugen. Er kann seine europäischen Partner nicht überzeugen und noch nicht einmal seine eigenen Hinterbänkler. Er ist im Ausland schwach und er ist zuhause schwach. Er ist ein zweiter John Major."

    Eine Anspielung auf den früheren konservativen Premier, der an der eigenen Partei und ihrer Europafeindlichkeit gescheitert war.

    Tatsächlich ist das Thema Europa spätestens seit Margret Thatcher ein ewiger Spaltpilz in der Konservativen Partei. Peter Kellner, politischer Analyst und Präsident des Meinungsforschungsinstituts yougov, erinnert daran, dass sich die Tories schon immer aus zwei Richtungen zusammensetzten:

    "Eine ist die Richtung der Nation, des Patriotismus, der Fahne. Die andere ist die des Geschäfts, des Unternehmertums, des Handels, der Märkte. Wenn beide Lager ihre Kräfte vereinten, war die Partei unbezwingbar und hat fast immer gewonnen. Wenn sie sich aber bekämpft haben, war sie sehr angreifbar und hat verloren. Margret Thatcher war in den ersten Jahren ihrer Führung brillant darin, beide Flügel zusammenzubringen und sie hat ja sogar die Einheitliche Europäische Akte unterschrieben. Doch in der letzten Phase begannen beide Richtungen sich zu bekriegen. Und dann haben die Konservativen drei Wahlen hintereinander verloren. David Cameron hat versucht, beide wieder zusammenzubringen."

    Doch der Wettstreit zwischen beiden sei nicht gelöst, sondern nur unterdrückt und breche nun am Thema EU neu auf, befeuert vom Aufstieg der UKIP und von Umfragen, nach denen derzeit drei von vier Briten ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft wollen und mehr als jeder Zweite für einen Austritt stimmen würde. Diese EU-Skepsis ist nicht nur Folge der aktuellen Eurokrise, sondern hat nach Ansicht der deutschstämmigen Labour-Abgeordneten Gisela Stuart tiefer liegende Ursachen.

    "Man ist hier auf einer Insel; man hat keine Probleme mit dem Nationalstaat im Vergleich zu den Ländern auf dem Kontinent, die in den letzten hundert Jahren so gut wie jedes Land erlebt hat, dass der Nationalstaat irgendwie gescheitert ist. Für die Briten ist das nicht der Fall. Und deshalb sucht man keine höhere Einheit, die einem irgendwie Legitimation gibt. Wir brauchen keinen Vater, Gott oder was weiß ich, der in Brüssel sitzt und uns sagt: Kinder jetzt benehmt euch mal. Für Deutschland ist das ja so schwierig, weil das Nachkriegsverstehen "Deutsch zu sein", dermaßen mit "Europäisch zu sein" verbunden ist, dass die jüngere Generation vor allem sich ein Deutschlandbild ohne Europa so gut wie nicht vorstellen kann."

    Das ist in Großbritannien völlig anders, insbesondere in einem Jahr, in dem die Nation neues Selbstbewusstsein getankt hat, nach einem glanzvollen diamantenen Kronjubiläum der Königin und überaus gelungenen und erfolgreichen Olympischen Sommerspielen.

    Peter Norman, der EU wohl gesonnen und langjähriger Leiter der "Financial Times" in Brüssel, nennt einen weiteren Grund für die britische EU-Skepsis. Anders als die Deutschen hätten die Briten die Europäische Union nie als wirtschaftliches Erfolgsmodell erfahren - dazu sei man 1973 zu spät beigetreten. Briten betrachteten die EU nüchtern-pragmatisch unter der Kosten-Nutzen-Analyse. Hinzu komme, dass britische Politiker die eigene Öffentlichkeit nie darüber aufgeklärt hätten, dass die Gemeinschaft sich von Beginn an auch zu einer politischen Union entwickeln und mehr sein wollte als bloß ein großer Binnenmarkt.

    "Das Problem ist auch, dass Politiker von allen Parteien, vielleicht mit Ausnahme der Liberaldemokraten, die EU immer als Buhmann verkauft haben. Und man hat auch das Problem - mit Ausnahme der Financial Times - dass es kaum eine große Zeitung gibt, die sich für die Europäische Union positiv ausspricht."

    Vor allem die Boulevardzeitungen hetzen gegen die EU und erst vor wenigen Monaten enthüllte Ex-Premier John Major, dass Medienmogul Rupert Murdoch in den 90er-Jahren unumwunden versucht habe, ihn zu einem EU-feindlichen Kurs zu drängen. Peter Normans Fazit fällt pessimistisch aus:

    "Ich bin mir nicht sicher, ob die britische politische Klasse die richtige Einstellung zur EU hat. Ich glaube, dass dieses Land zu egoistisch, zu britisch, zu insular ist, um wirklich ein voller Partner in der EU zu werden."

    Erst seit wenigen Wochen wagen sich EU-freundliche Politiker aus der Deckung. Der Chef der Labour Party Ed Miliband etwa ruderte nach seinem peinlichen Abstimmungsverhalten öffentlich zurück und bekannte sich vor dem Unternehmerverband zur Europäischen Union:

    "Wir sehen unsere Partner in der EU tief besorgt, weil sie glauben, Großbritannien mache sich auf den Weg in die Abflughalle. Ich werde Großbritannien nicht in Richtung Ausgang aus der EU schlafwandeln lassen. Denn das wäre schlecht für den Wohlstand unseres Landes und ein Betrug an unserem Nationalinteresse."

    Auch Tony Blair meldete sich mahnend zu Wort. Und in der Wochenschrift "Economist" erschien ein mehrseitiger Artikel, der die wirtschaftlichen Nachteile eines Austritts auflistete. Das überzeugendste Plädoyer für eine aktive Rolle Großbritanniens innerhalb der Union hielt Vizepremier Nick Clegg in einer Grundsatzrede Anfang November:

    "Die beste und realistischste Wahl für das Vereinte Königreich ist es, mit aufrechtem Gang in unserem europäischen Hinterland zu bleiben. Auf den Ausgang zuzusteuern, wäre der sicherste Weg unser großartiges Land zu schwächen; es wäre ein katastrophaler Verlust an Souveränität für dieses Land."

    Zwar betont auch Cleggs Koalitionspartner, Premierminister David Cameron, immer wieder, er wolle in der EU bleiben, aber das Bekenntnis überzeugt nur wenige, da er zugleich mit seiner Anti-EU-Rhetorik immer mehr Wasser auf die Mühlen der EU-Gegner lenkt. Unter ihrem Druck mag Cameron inzwischen ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft auch nicht mehr ausschließen.

    "Das ist sehr einfach, was ich will. Europa verändert sich, weil der Euro zu einer raschen Integration führt. Das gibt Großbritannien eine großartige Gelegenheit, das zu erreichen, was wir immer wollten: Im Herzen eines Europa zu sein mit freiem Handel und offenem Markt, aber nicht diese endlose politische Integration. Deswegen gibt es im Lauf der Zeit die Möglichkeit, ein neues Abkommen zu erreichen. Und wenn wir das nach der nächsten Wahl erreichen, brauchen wir dafür neue Zustimmung."

    Derzeit macht das britische Außenministerium eine Art Bestandsaufnahme und prüft, welche europäischen Vereinbarungen London angeblich schaden und welche nicht. In einem Jahr will man eine Wunschliste präsentieren. Finanztransaktionssteuer und Bankenunion sind mit Cameron ohnehin nicht zu machen. Und der Premierminister hat schon angekündigt, aus der gemeinsamen Innen- und Rechtspolitik aussteigen zu wollen und etliche Minister sind für den völligen Abschied aus der EU. Als seine Innenministerin einen Grundpfeiler des angeblich so geschätzten Binnenmarkts - den des freien Personenverkehrs - infrage stellte, da erklärte Cameron sogar:

    "Ja, da stimme ich zu. Deswegen haben wir die Überprüfung der Machtbalance; wir stellen alles auf den Prüfstand, was uns und die EU betrifft, und wir werden herausarbeiten, was gut ist für Großbritannien, wo etwas verbesserungswürdig ist und was wir auf jeden Fall ändern wollen."

    Camerons Szenario ist äußert unwahrscheinlich. Denn eine solche Rosinenpickerei werden die EU-Partner Großbritannien nicht durchgehen lassen, nicht nur weil das Land schon viele Extrawürste hat und sie Cameron nervt, sondern auch, weil europäische Vereinbarungen immer ein Geschäft auf Gegenseitigkeit sind. Dass die britische Diplomatie das Prinzip des Nehmens und Gebens offenkundig ausblendet, zeigt den völligen Mangel eines schlüssigen europapolitischen Konzepts der Regierung Cameron. Und es ist kein Zufall, dass es der eigene Koalitionspartner war, der Camerons Argument zerpflückte: Vizepremier Nick Clegg gab zu, dass das gut klinge, Großbritanniens EU-Mitgliedschaft neu auszuhandeln:

    "Dass wir uns also von den schlechten Teilen verabschieden und bei den guten bleiben sollten, indem wir Zuständigkeiten nach Britannien zurückholen, das erscheint sehr vernünftig. Aber schauen wir genauer hin! Weil eine große, einseitige Rückverlagerung von Kompetenzen gut klingen mag, aber in Wahrheit ein falsches Versprechen ist, eingewickelt in der Nationalflagge. Man wird es niemals erreichen, indem man mit dem Fuß aufstampft und fordert, Teil des Klubs zu sein, aber einseitig die Spielregeln ändern will, um einseitig auszuwählen, was man unterschreibt."

    Unklar ist, ob die Offensive der Europafreunde die Eigendynamik Richtung Brexit noch stoppen kann. Denn wenn Cameron erwartungsgemäß mit seiner Absicht scheitert, in Brüssel Zugeständnisse auszuhandeln, dürfte er tatsächlich zu einem In- oder Out-Referendum gezwungen sein. Ein Austritt aber wäre vermutlich nicht nur für Großbritannien von Nachteil, sondern auch ein Verlust für die EU. Auch sie hätte längst schon ein Konzept entwickeln müssen, für eine Union der zwei Geschwindigkeiten. Denn es ist absehbar, dass es künftig einen Kern von Staaten mit Euro und politisch enger Integration geben wird, und anderen EU-Mitgliedern, die zwar zur EU, nicht aber zum Kern gehören können oder wollen.