Silvia Engels: Das britische Mehrheitswahlrecht führt traditionell dazu, dass viele Stimmen unter den Tisch fallen. Da einem Kandidaten im Wahlkreis schon die relative Mehrheit genügt, um ins Parlament zu kommen, hat das auch dieses Mal dazu geführt, dass in einigen Wahlkreisen ein Stimmenanteil von nur rund 35 Prozent ausreichte. Diese Benachteiligung kleiner Parteien haben die Befürworter des Wahlsystems immer auch damit gerechtfertigt, dass wenigstens die Wahlen in Großbritannien immer zu klaren Mehrheiten und zu entscheidungsfähigen Regierungen führen. Seit gestern ist das nicht mehr so.
Professor Thomas Noetzel hat ein Standardwerk über das britische Regierungssystem geschrieben und er lehrt Politikwissenschaften an der Universität Marburg. Er ist uns zugeschaltet. Guten Tag, Herr Professor Noetzel.
Thomas Noetzel: Guten Tag, Frau Engels.
Engels: Wie schätzen Sie es denn nun ein? Wer darf denn nun in Großbritannien die Regierung bilden?
Noetzel: Wenn ich das wüsste, wäre ich ein reicher Mann. Und Sie wissen ja: Prognosen sind riskant, weil sie auf die Zukunft gehen. So aus dem Bauch heraus und nach den Eindrücken der letzten Wahlnacht glaube ich, dass die Konservativen in absehbarer Zeit in Großbritannien die Regierung stellen werden.
Engels: Wie wird das dann funktionieren, denn Gordon Brown als noch amtierender Premierminister – wir haben es gerade gehört – hat laut ungeschriebener Verfassung das Recht, eigentlich zu versuchen, eine Regierung zu bilden. Denken Sie, er wird verzichten?
Noetzel: Sein Zitat, das Sie gerade auch gesendet haben, macht ja schon deutlich, dass Gordon Brown so ein bisschen angeschlagen ist. Er gehört zu den großen Verlierern des gestrigen Wahlabends und er wird seinen Platz räumen.
Engels: Wenn es so kommt wie Sie sagen, dann steht ja Großbritannien wahrscheinlich vor einer Minderheitsregierung. Welche historischen Beispiele gibt es denn dafür?
Noetzel: Es gab ja schon in den 70er-Jahren hung parliaments mit ganz prekären Mehrheitsverhältnissen. Es gab auch in der Zwischenkriegszeit unklare Mehrheitsverhältnisse und Minderheitsregierungen. Also historische Beispiele dafür gibt es. Minderheitsregierung heißt aber auch immer, der jeweilige Premierminister wird die erstbeste Gelegenheit suchen, um Neuwahlen auszuschreiben, um dann eine Mehrheit im Unterhaus zu finden.
Engels: Denken Sie, es wird auch diesmal dahin kommen?
Noetzel: Das halte ich für sehr wahrscheinlich, weil ich eine fest gefügte Koalition zwischen Konservativen und Liberalen für relativ unwahrscheinlich halte. Die ideologischen Profile beider Parteien passen nicht so recht zusammen und außerdem werden die Konservativen kaum die Hauptforderung der Liberalen erfüllen, vom relativen Mehrheitswahlrecht abzugehen.
Engels: Nun hat der Führer der Liberaldemokraten, Nick Clegg – jetzt dritte Kraft im Parlament, aber längst nicht so stark geworden wie gedacht -, erklärt, die Konservativen sollten versuchen, eine Regierung zu bilden. Wie interpretieren Sie diesen Satz? Heißt das, dass er möglicherweise doch für mögliche Versuche, eine Koalition mit den Konservativen zu bilden, bereit stünde?
Noetzel: Die Aufforderung von Clegg heißt ja noch nicht, er tritt in eine Regierung ein, sondern man kann ja auch das praktizieren, was in Großbritannien auch schon versucht worden ist, nämlich eine Minderheitsregierung zu tolerieren.
Engels: Am Ende schnitt ja nun der Shooting Star des Wahlkampfes, Nick Clegg von den Liberal Democrats, schwächer ab, als viele das nach den letzten Umfragen erwartet hatten. Ist das, wie unser Korrespondent es ja einschätzte, doch ein Bekenntnis der Briten, dass sie klare Verhältnisse wollen und kein Drei-Parteien-System?
Noetzel: Nein. Das halte ich für das Ergebnis einer spezifischen problematischen Wahlarithmetik in Großbritannien. Das britische Wahlrecht bevorteilt Parteien mit starken regionalen Hochburgen, und die Liberaldemokraten sind eigentlich relativ gut übers ganze Land verteilt, haben aber keine regionalen Zentren. Deswegen setzen sie auf ein Wahlsystem, das dieses Ungleichgewicht beseitigt, und damit stehen sie aber relativ allein, weil sowohl die beiden großen Parteien, Labour als auch Konservative, aber auch die weiteren Kleinparteien, die es gibt und die wir auch nicht vergessen dürfen, Nationalisten in Schottland, Wales und Nordirland, gerade daran interessiert sind, ihre regionalen Hochburgen politisch relevant zu halten.
Engels: Sie sprechen es an. Für deutsche Beobachter ist es eigentlich ungewöhnlich, es wird selten in den Blick genommen, aber es gibt relativ viele Parteien im Unterhaus. Trotzdem gab es bislang immer klare Verhältnisse. War das also eher Zufall?
Noetzel: Nein, aber die beiden großen Parteien haben es verstanden, bis in die jüngste Zeit hinein relative Mehrheiten im Unterhaus zu mobilisieren, aber sie haben in Großbritannien ähnlich wie in der Bundesrepublik schon seit vielleicht drei Jahrzehnten die Tendenz, dass diese beiden großen Parteien, Konservative und Labour, immer weniger Wähler binden. Das ist das Problem, warum das relative Mehrheitswahlrecht vor Ort nicht mehr funktioniert.
Engels: Das würde aber heißen, selbst wenn es Neuwahlen gäbe, könnten ähnliche Verhältnisse wie jetzt herauskommen?
Noetzel: Das könnte so sein. Nun darf man natürlich nicht daran vorbeigehen, dass Wahlen heute auch Stimmungsangelegenheiten sind, und die Stimmung kann sich natürlich unter medialer Beihilfe auch sehr stark schnell ändern. Wenn David Cameron etwa als Premierminister inthronisiert worden ist, er medial auch noch mal sozusagen diesen Horizont nutzen kann, dann könnte er vielleicht auch mal auf eine Mehrheit im jetzigen Wahlsystem hoffen. Sicher ist das nicht!
Engels: Auf der anderen Seite ist es ja auch so, dass auch auf dem Kontinent die klassischen Volksparteien – in Deutschland ist das auch so – in den letzten Jahren an Boden tendenziell verloren haben. Steht Großbritannien vor einer ähnlichen Entwicklung und würde das auch das Mehrheitswahlsystem irgendwann in Frage stellen?
Noetzel: Das sehe ich auch so. Das Parteiensystem, das wir aus der Nachkriegszeit kennen, erodiert überall, im Kontinent und auch in Großbritannien. Ob das das Wahlsystem gleich auf die Probe stellt, weiß ich nicht, aber es stellt die Neuorientierung der politischen Elite auf die Probe. Die Briten müssen sich damit abfinden, dass sie Koalitionen bilden müssen. Ob als Resultat von einem relativen Mehrheitswahlsystem, oder von einem Verhältniswahlsystem, etwa nach deutschem Muster, ist dabei unerheblich. In Zukunft wird Großbritannien stärker von Koalitionsregierungen bestimmt werden.
Engels: Wie sehen Sie jetzt die nächsten Wochen? Wird Großbritannien wochenlang streiten, oder wird man relativ schnell zu stabilen Verhältnissen kommen?
Noetzel: Nun ja, es gibt ja im Verfassungssystem Daten, die man nicht überspringen kann. Das neue Parlament wird zusammentreten müssen mit einer Thronrede der Monarchin. Das ist quasi die Regierungserklärung der dann im Amt befindlichen Regierung. Da muss also schon deutlich sein, in welche Richtung es eigentlich geht. Also so viel Zeit hat die politische Elite in Großbritannien nicht.
Engels: Andererseits, wenn Sie sagen, dass möglicherweise dann auch der potenzielle Premierminister Cameron perspektivisch wieder Neuwahlen anstrebt, erlebt doch Großbritannien möglicherweise ein sehr unsicheres Jahr und das in wirtschaftlich so instabilen Zeiten.
Noetzel: Das ist ein ganz großes Problem, da haben Sie völlig Recht. Großbritannien hat ähnlich gravierende Probleme wie etwa Griechenland, wenn auch natürlich auf einem besseren ökonomischen Fundament. Deshalb braucht es auch dringend eine stabile Regierung, und die Stimmen, die wir heute von allen Vertretern der großen Parteien gehört haben, zeigen ja, dass die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Es wird jetzt eine gewisse Periode der Unsicherheit geben. Meiner Meinung nach wird die relativ schnell vorbei sein.
Engels: Professor Thomas Noetzel, Politikwissenschaftler und Großbritannien-Experte. Er lehrt an der Universität Marburg. Ich bedanke mich für das Gespräch.
Professor Thomas Noetzel hat ein Standardwerk über das britische Regierungssystem geschrieben und er lehrt Politikwissenschaften an der Universität Marburg. Er ist uns zugeschaltet. Guten Tag, Herr Professor Noetzel.
Thomas Noetzel: Guten Tag, Frau Engels.
Engels: Wie schätzen Sie es denn nun ein? Wer darf denn nun in Großbritannien die Regierung bilden?
Noetzel: Wenn ich das wüsste, wäre ich ein reicher Mann. Und Sie wissen ja: Prognosen sind riskant, weil sie auf die Zukunft gehen. So aus dem Bauch heraus und nach den Eindrücken der letzten Wahlnacht glaube ich, dass die Konservativen in absehbarer Zeit in Großbritannien die Regierung stellen werden.
Engels: Wie wird das dann funktionieren, denn Gordon Brown als noch amtierender Premierminister – wir haben es gerade gehört – hat laut ungeschriebener Verfassung das Recht, eigentlich zu versuchen, eine Regierung zu bilden. Denken Sie, er wird verzichten?
Noetzel: Sein Zitat, das Sie gerade auch gesendet haben, macht ja schon deutlich, dass Gordon Brown so ein bisschen angeschlagen ist. Er gehört zu den großen Verlierern des gestrigen Wahlabends und er wird seinen Platz räumen.
Engels: Wenn es so kommt wie Sie sagen, dann steht ja Großbritannien wahrscheinlich vor einer Minderheitsregierung. Welche historischen Beispiele gibt es denn dafür?
Noetzel: Es gab ja schon in den 70er-Jahren hung parliaments mit ganz prekären Mehrheitsverhältnissen. Es gab auch in der Zwischenkriegszeit unklare Mehrheitsverhältnisse und Minderheitsregierungen. Also historische Beispiele dafür gibt es. Minderheitsregierung heißt aber auch immer, der jeweilige Premierminister wird die erstbeste Gelegenheit suchen, um Neuwahlen auszuschreiben, um dann eine Mehrheit im Unterhaus zu finden.
Engels: Denken Sie, es wird auch diesmal dahin kommen?
Noetzel: Das halte ich für sehr wahrscheinlich, weil ich eine fest gefügte Koalition zwischen Konservativen und Liberalen für relativ unwahrscheinlich halte. Die ideologischen Profile beider Parteien passen nicht so recht zusammen und außerdem werden die Konservativen kaum die Hauptforderung der Liberalen erfüllen, vom relativen Mehrheitswahlrecht abzugehen.
Engels: Nun hat der Führer der Liberaldemokraten, Nick Clegg – jetzt dritte Kraft im Parlament, aber längst nicht so stark geworden wie gedacht -, erklärt, die Konservativen sollten versuchen, eine Regierung zu bilden. Wie interpretieren Sie diesen Satz? Heißt das, dass er möglicherweise doch für mögliche Versuche, eine Koalition mit den Konservativen zu bilden, bereit stünde?
Noetzel: Die Aufforderung von Clegg heißt ja noch nicht, er tritt in eine Regierung ein, sondern man kann ja auch das praktizieren, was in Großbritannien auch schon versucht worden ist, nämlich eine Minderheitsregierung zu tolerieren.
Engels: Am Ende schnitt ja nun der Shooting Star des Wahlkampfes, Nick Clegg von den Liberal Democrats, schwächer ab, als viele das nach den letzten Umfragen erwartet hatten. Ist das, wie unser Korrespondent es ja einschätzte, doch ein Bekenntnis der Briten, dass sie klare Verhältnisse wollen und kein Drei-Parteien-System?
Noetzel: Nein. Das halte ich für das Ergebnis einer spezifischen problematischen Wahlarithmetik in Großbritannien. Das britische Wahlrecht bevorteilt Parteien mit starken regionalen Hochburgen, und die Liberaldemokraten sind eigentlich relativ gut übers ganze Land verteilt, haben aber keine regionalen Zentren. Deswegen setzen sie auf ein Wahlsystem, das dieses Ungleichgewicht beseitigt, und damit stehen sie aber relativ allein, weil sowohl die beiden großen Parteien, Labour als auch Konservative, aber auch die weiteren Kleinparteien, die es gibt und die wir auch nicht vergessen dürfen, Nationalisten in Schottland, Wales und Nordirland, gerade daran interessiert sind, ihre regionalen Hochburgen politisch relevant zu halten.
Engels: Sie sprechen es an. Für deutsche Beobachter ist es eigentlich ungewöhnlich, es wird selten in den Blick genommen, aber es gibt relativ viele Parteien im Unterhaus. Trotzdem gab es bislang immer klare Verhältnisse. War das also eher Zufall?
Noetzel: Nein, aber die beiden großen Parteien haben es verstanden, bis in die jüngste Zeit hinein relative Mehrheiten im Unterhaus zu mobilisieren, aber sie haben in Großbritannien ähnlich wie in der Bundesrepublik schon seit vielleicht drei Jahrzehnten die Tendenz, dass diese beiden großen Parteien, Konservative und Labour, immer weniger Wähler binden. Das ist das Problem, warum das relative Mehrheitswahlrecht vor Ort nicht mehr funktioniert.
Engels: Das würde aber heißen, selbst wenn es Neuwahlen gäbe, könnten ähnliche Verhältnisse wie jetzt herauskommen?
Noetzel: Das könnte so sein. Nun darf man natürlich nicht daran vorbeigehen, dass Wahlen heute auch Stimmungsangelegenheiten sind, und die Stimmung kann sich natürlich unter medialer Beihilfe auch sehr stark schnell ändern. Wenn David Cameron etwa als Premierminister inthronisiert worden ist, er medial auch noch mal sozusagen diesen Horizont nutzen kann, dann könnte er vielleicht auch mal auf eine Mehrheit im jetzigen Wahlsystem hoffen. Sicher ist das nicht!
Engels: Auf der anderen Seite ist es ja auch so, dass auch auf dem Kontinent die klassischen Volksparteien – in Deutschland ist das auch so – in den letzten Jahren an Boden tendenziell verloren haben. Steht Großbritannien vor einer ähnlichen Entwicklung und würde das auch das Mehrheitswahlsystem irgendwann in Frage stellen?
Noetzel: Das sehe ich auch so. Das Parteiensystem, das wir aus der Nachkriegszeit kennen, erodiert überall, im Kontinent und auch in Großbritannien. Ob das das Wahlsystem gleich auf die Probe stellt, weiß ich nicht, aber es stellt die Neuorientierung der politischen Elite auf die Probe. Die Briten müssen sich damit abfinden, dass sie Koalitionen bilden müssen. Ob als Resultat von einem relativen Mehrheitswahlsystem, oder von einem Verhältniswahlsystem, etwa nach deutschem Muster, ist dabei unerheblich. In Zukunft wird Großbritannien stärker von Koalitionsregierungen bestimmt werden.
Engels: Wie sehen Sie jetzt die nächsten Wochen? Wird Großbritannien wochenlang streiten, oder wird man relativ schnell zu stabilen Verhältnissen kommen?
Noetzel: Nun ja, es gibt ja im Verfassungssystem Daten, die man nicht überspringen kann. Das neue Parlament wird zusammentreten müssen mit einer Thronrede der Monarchin. Das ist quasi die Regierungserklärung der dann im Amt befindlichen Regierung. Da muss also schon deutlich sein, in welche Richtung es eigentlich geht. Also so viel Zeit hat die politische Elite in Großbritannien nicht.
Engels: Andererseits, wenn Sie sagen, dass möglicherweise dann auch der potenzielle Premierminister Cameron perspektivisch wieder Neuwahlen anstrebt, erlebt doch Großbritannien möglicherweise ein sehr unsicheres Jahr und das in wirtschaftlich so instabilen Zeiten.
Noetzel: Das ist ein ganz großes Problem, da haben Sie völlig Recht. Großbritannien hat ähnlich gravierende Probleme wie etwa Griechenland, wenn auch natürlich auf einem besseren ökonomischen Fundament. Deshalb braucht es auch dringend eine stabile Regierung, und die Stimmen, die wir heute von allen Vertretern der großen Parteien gehört haben, zeigen ja, dass die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Es wird jetzt eine gewisse Periode der Unsicherheit geben. Meiner Meinung nach wird die relativ schnell vorbei sein.
Engels: Professor Thomas Noetzel, Politikwissenschaftler und Großbritannien-Experte. Er lehrt an der Universität Marburg. Ich bedanke mich für das Gespräch.