Donnerstag, 25. April 2024

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Gorkis „Sommergäste“ in Salzburg
Sommerabend mit Seelenstriptease

Nur fünf Wochen vor Probenbeginn ist Regisseur Evgeny Titov bei den Salzburger Festspielen für eine erkrankte Kollegin eingesprungen. Ensemble und Bühnenbild übernahm er, und jetzt hatte seine Inszenierung von Maxim Gorkis „Sommergäste“ Premiere. Die Sommergäste reden viel, aber sie tun nur wenig.

Von Sven Ricklefs | 01.08.2019
Eine Szene aus Evgeny Titovs "Sommergäste" bei den Salzburger Festspielen, 2019. Auf der Bühne zu sehen: Geinija Rykova (Warwara Michajlowna), Dagna Litzenberger Vinet (Julija Filippowna)
Entspannte Sommergäste - Evgeny Titovs Inszenierung bei den Salzburger Festspielen (Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus)
"Die Intellektuellen? Nein, das sind wir nicht. Wir sind etwas anderes. Wir sind Sommergäste in unserem eigenen Land. Irgendwelche Zugereiste. Wir tun nichts, aber wir reden schrecklich viel."
Eigentlich wissen sie alles, durchdringen alles, analysieren alles. Und sehnen - sehnen tun sie sich nach vielem, nach Liebe vor allem und nach Sinn. Und trotzdem: Tun tun sie nichts und sind damit auch in jenem Sinne zu Gast, als dass der Gast ja eigentlich nie Verantwortung tragen muss.
Erst überdreht, dann ermattet
Verantwortungslos also reden sie sich durch ihre unbedeutenden Schicksale und Liebeshändel, ohne je das Zepter in die Hand zu nehmen, für sich selbst nicht und für die Gesellschaft schon gleich gar nicht. Und so können sie zu Beginn noch so überdreht fröhlich auftreten, am Ende liegt fast jeder hingeschlurt im Raum herum, so als sei er die Verkörperung seiner eigenen Bedeutungslosigkeit.
"Wie müssten Menschen sein, damit man sie ohne Langeweile beobachten kann?
"Stärker und mutiger."
"Eindeutiger müssten sie sein, Waria. In jedem Fall und in jeder Hinsicht."
Doch stärker und mutiger werden sie nie sein, damals nicht, als Maxim Gorki sich seine versammelte Intelligenz kurz vor der russischen Revolution von 1905 um Kopf und Kragen reden ließ. Und auch in unserem Heute sind sie es nicht, in dem der Regisseur Evgeny Titov seine "Sommergäste" bei den Salzburger Festspielen ansiedelt. In einem Heute, in dem wir fern aller russischen Klassenkämpfe ganz andere Herausforderungen meistern müssten: vom Nationalpopulismus bis zur Klimakatastrophe.
Bühnenbild in Dauerschleife
"Wir schmeißen Müll aus unserem Fenster und verpesten damit die Luft. Und genauso kippen wir die Abfälle unserer Seele vor die Füße unserer Nächsten. Wer hat uns eigentlich das Recht gegeben, jedem unsere seelischen Geschwüre zu zeigen?"
Das aber tun sie mit Inbrunst und in Endlosschleife, diese Sommergäste, und werden von dem beeindruckenden Bühnenraum im wahrsten Sinne des Wortes begleitet, der da in Zeitlupe von rechts nach links durch die Wahrnehmung des Zuschauers gleitet, bevor er wieder von vorn beginnt. Da tun sich Wartesälen mit hohen Wänden auf, Podeste- und Treppenlandschaften, unwirtliche Korridore, die an alles andere als an warmes Sommergastambiente denken lassen.
Doch das ist sicherlich auch das letzte, was Evgeny Titov zeigen will. Getragen von einem fulminanten Ensemble, ist seine Inszenierung geprägt von einer ungeheuren Dynamik: Der Regisseur jagt die Figuren durch ihr larmoyantes Gerede, das ihnen bis in die unkontrollierten Körper fährt, bevor sie wieder in sich zusammensinken. Dabei bietet das sich bewegende Bühnenbild nicht nur viele Möglichkeiten für Auf- und Abtritte, sondern auch Raum für parallele Szenen oder für Figurenkonstellationen, die sich erst langsam ins Bild schieben.
Sympathie für die Frauenfiguren
Klug gekürzt und mit einigen Umstellungen auch konfliktgeschärft, schaut man diesen Sommergästen von Beginn an atemlos zu und wird dann nach zwei Stunden mit einem Hammerschlag entlassen. Schon Maxim Gorki sprach in seinem Stück – wenn überhaupt – dann den Frauen noch eine gewisse Aufbruchskraft zu, und auch Evgeny Titovs Sympathie gehört sichtbar den Frauenfiguren. Und trotzdem oder gerade deshalb stellt er jene Ungeheuerlichkeiten, mit denen sich Gorkis Männer eigentlich eher im Nebenbei gegen jegliche weibliche Utopie verwahren, explizit an den Schluss.
"Die Frau ist dem Tier näher als wir. Sie braucht eine sanfte, aber starke und schöne Führung, sie braucht einen Despoten."
"Das ist doch viel zu kompliziert. Schwängern, Schwängern, Schwängern, dann sind sie einem völlig ausgeliefert."
Vielleicht sind wir auch hier noch gar nicht so weit, wie wir immer zu glauben meinen.