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Grobe Axt auf feines Holz?

Die brachialen und zugleich sensiblen Operninszenierungen von Calixto Bieito sind berühmt. Mit dem "Kirchgarten" hat sich der katalanische Erfolgsregisseur allerdings im Genre vergriffen: Seine Theaterinszenierung ist leider nur eine Art Oper ohne Ton.

Von Sven Ricklefs | 23.05.2012
    Wer je in den letzten Jahren eine Operninszenierung von Calixto Bieito wirklich mit offenen Augen angeschaut hat, wer je diese vermeintlichen Skandalinszenierungen, die angeblich nur auf Schock und Tabubruch angelegt sind, unvoreingenommen auf sich wirken ließ, der wurde zwar mit brachialem aber zugleich auch mit ebenso sensibel gemeintem wie genau durchdachtem Theater konfrontiert, das nicht nur in der Opernszene seines gleichen sucht.

    Ob Wagner Fliegender Holländer oder Parsifal in Stuttgart, ein Fidelio in München oder Aida in Basel, der katalanische Erfolgsregisseur holt mythisch oder märchenhaft ferne Stoffe auf berückend konsequente Weise in die Gegenwart oder projiziert sie sogar in eine Zukunft. Dass das dann ästhetisch zumeist ziemlich apokalyptisch daherkommt, dafür kann Bieito selbst wohl am wenigsten, denn: mit ein wenig Fantasie muss sich noch jeder unsere Zukunft alles andere als rosig vorstellen, ökologisch allemal und wie wir zurzeit sehen, wohl auch ökonomisch.

    Apokalypse now, das ist wohl auch das Motto, dass sich Calixto Bieito nun über seine Interpretation von Anton Tschechows Tragikomödie "Der Kirschgarten" geschrieben hat, oder eigentlich: Apokalypse war gestern, samt einstürzender Altbauten, denn: Wenn der hübsche Fotoprospekt mit dem hochherrschaftlichen Gutshof darauf weggerissen ist, dann sehen wir nur noch das Skelett des Gemäuers, allerdings dampft’s im Hintergrund noch höchst dekorativ, die Katastrophe also, sie kann noch nicht so lange her sein.

    Dabei steht die Katastrophe bei Tschechow eigentlich noch bevor, auch wenn sie sich schon lange angekündigt hat, denn wenn Gutsbesitzerin Ranewskaja samt Familiengefolge in ihren Kirschgarten zurückkehrt, dann ist der zwar eigentlich schon längst verloren, die Versteigerung aber, die kommt erst noch.

    Dass dies nach der Blaupause im Moment herrschender europäischer Verhältnisse klingt, lässt den Kirschgarten gerade wieder zum Theaterrenner werden. Und so lässt sich auch hier die hereinstürzende Gesellschaft den Spaß von den rauchenden Trümmern nicht verderben, eher im Gegenteil, selbst wenn man sich eigentlich schon wieder wegwünscht:

    "Der Kirschgarten ist mir, mir, mir. Der Kirschgarten. Herrgott, sag, dass ich spinne ..."

    Das kleine Tänzchen entpuppt sich als eine handfeste Salsa, dazu lässt Regisseur Calixto Bieito hinter der ruinösen Fensterfront im Hintergrund ein paar Livemusiker mit aufgeschminkten weißen grotesken Totenmasken auffahren, die kräftig auf den Putz hauen dürfen, während das Ensemble im Vordergrund seiner Überspannung freien Lauf lässt, sich tanzend vergnügt und dazu singt: Todo tiene su final.

    Und spätestens jetzt weiß man, was da eigentlich die ganze Zeit passiert und weswegen Calixto Bieitos Theater diesmal so ganz und gar nicht funktioniert: Der Regisseur hat sich schlichtweg im Genre vergriffen und inszeniert mit diesem Kirschgarten eine Art Oper ohne Ton. Wären diese Bilder unterlegt etwa mit Wagners Wucht oder Verdis Pomp und würde man Arien singen, dann würden weder die aus den Wänden heraus oder von der Decke herabstürzenden Bauteile noch die in ihrem hysterischen Pathos völlig überspannten Figuren da oben so plakativ und holzhammerartig auf Tschechows Stück draufgesetzt wirken, wie sie das jetzt tun.

    "Eine kleine Bitte, wenn ich darf. Wenn Sie mal wieder nach Paris fahren, dann bitte, nehmen Sie mich mit. Ich mein, ich kann hier unmöglich bleiben, es ist einfach grässlich, dieser Firs, der hier rumfaselt, das Essen ist furchtbar, also bitte.
    Darf ich bitten Verehrteste, ein kleines Tänzchen ...
    Ja ... ja ... ..ja"

    Wieso man den Kirschgarten überhaupt noch versteigern kann, wenn auf den dazugehörigen Gutshof mindestens fünf Bomben gefallen sind, sollte man hier sowieso nicht fragen. Wir sind so blind, dass wir einfach immer weitermachen, will Bieito wohl sagen und lässt irgendwann einmal den Sprachkalauer Buy Bye an die Wand schreiben, das erste Buy mit "uy" und das Zweite mit "ye".

    Natürlich hat er Recht, und trotzdem wünscht man sich, dass man diesen Kirschgarten mit seinen kurzgeschlossenen Brachialbotschaften schnell vergessen wird, und dass man möglichst bald wieder in die Oper gehen kann, zu einem dieser Musiktheaterereignisse von Calixto Bieito.