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GroKo-Sondierungen
"Ein Leuchtturmprojekt muss das Thema Bildung sein"

"Die Ergebnisse von Jamaika sind nicht für uns Grundlage der Sondierung", sagte Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, im Dlf. Wichtig sei es nun, die inhaltlichen Gemeinsamkeiten zu finden und herauszuarbeiten, wie weit sie tragen.

Manuela Schwesig im Gespräch mit Frank Capellan | 07.01.2018
    Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), spricht am Rednerpult vor den Delegierten.
    Ministerpräsidentin Manuela Schwesig beim Bundesparteitag der SPD (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
    Frank Capellan: Manuela Schwesig, Sie haben eine anstrengende Woche vor sich – die SPD muss liefern. Sie müssen den Parteitagsdelegierten etwas vorlegen, mit dem Sie möglicherweise den Delegierten eine Große Koalition schmackhaft machen können. Sie sind Mitglied im Sondierungsteam. Sie haben sich vorgenommen, das Ganze innerhalb von fünf Tagen durchzuziehen. Wie soll das gehen?
    Manuela Schwesig: Es ist wichtig, dass wir jetzt schnell und zügig miteinander ausloten – SPD, CDU und CSU –, gibt es Gemeinsamkeiten für eine Regierung? Reichen die oder reichen die nicht? Muss man auf eine Minderheitsregierung gehen? Gibt es andere Optionen? Dazu zählen aber Inhalte. Und CDU, CSU, SPD kennen sich ja schon lange. Wir haben auch zusammengearbeitet in dieser Großen Koalition. Wir haben auch gut zusammengearbeitet, wir haben aber auch Themen nicht zusammen vorangebracht. Deshalb kennen wir ja Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Und deshalb, finde ich, muss man auch nicht lange um den heißen Brei drum herum reden, sondern sofort zu den Inhalten kommen und schauen, was geht.
    Capellan: Gerade, weil Sie sich kennen, weil Sie schon zweimal miteinander regiert haben – Sie zuletzt auch in der Großen Koalition als Familienministerin –, war es für mich etwas überraschend und befremdlich, dass Martin Schulz in dieser Woche sagte, als man sich noch einmal in kleiner Runde getroffen hat: "Das Vertrauen ist gewachsen". Warum muss da noch Vertrauen wachsen zwischen Union und SPD, die sich doch so gut kennen?
    Schwesig: Gerade, weil wir uns gut kennen und ja auch zusammen regiert haben, wissen wir, wo waren und sind auch noch Gemeinsamkeiten, aber wo sind auch die großen Unterschiede und Knackpunkte. Und leider haben wir in der letzten Großen Koalition erlebt, dass eben auch auf die Union nicht in allen Punkten Verlass war. Zum Beispiel, wir hatten klar im Koalitionsvertrag verabredet, dass es ein Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit gibt. Und diese Erfahrung hat natürlich auch Vertrauen beschädigt. Und es geht jetzt darum, zu wissen, zum einen, gibt es noch Gemeinsamkeiten, weitere Themen, die wir umsetzen könnten, und können wir uns darauf verlassen, dass das dann auch so kommt.
    "Frau Merkel hat es bisher nicht geschafft, eine stabile Regierung zu bilden"
    Capellan: Diese Sondierungsgespräche sollen völlig anders ablaufen als die Jamaika-Verhandlungen. Haben Sie auch schon ein Schweigegelübde abgelegt?
    Schwesig: Für mich ist es selbstverständlich, dass man, wenn man sondiert, nicht aus diesen Sondierungen heraus informiert, twittert. Es gibt Momente im beruflichen Alltag, eben auch in der Politik, wo man sich vertraulich zusammensetzen muss und sich mal in die Augen schauen muss und sagen muss: 'Bei diesem Thema sind wir doch unterschiedlicher Meinung, kommen wir trotzdem zusammen?!' Und da ist es auch gut, sich mal zurückzuziehen auch aus der Öffentlichkeit. Und dann geht es ja eher darum, etwas Gutes der Öffentlichkeit zu präsentieren.
    Capellan: Wie ist denn zu verstehen und zu interpretieren, dass auf SPD-Seite kein aktives Regierungsmitglied mit im Sondierungsteam sitzt? Nicht einmal Sigmar Gabriel, der ja eigentlich der erfahrenste GroKo-Sozialdemokrat ist, auch er wird nicht mitsondieren. Warum nicht?
    Schwesig: Es war wichtig zu zeigen, es geht nicht darum, dass jetzt Ministerposten gerettet werden, sondern es geht wirklich darum, nochmal kritisch miteinander zu schauen, wie können wir jetzt zu einer stabilen Regierung im Land kommen. Mehr als 100 Tage sind vergangen seit der Wahl, und Frau Merkel hat es bisher nicht geschafft, eine stabile Regierung für dieses Land zu bilden. Das ist das, was die Bürgerinnen und Bürger natürlich nicht gut finden.
    Capellan: Geht es auch darum, Landespolitiker einzubringen, die Erfahrung haben mit einer Großen Koalition? Sie führen eine solche Koalition in Schwerin, Stephan Weil hat gerade eine gebildet in Hannover. Also, das deutet alles darauf hin: Man will eigentlich diese Große Koalition. Man hat da auch Leute ins Team geholt, die Erfahrung haben mit solchen Großen Koalitionen – Sie insbesondere auch auf Bundesebene.
    Schwesig: Darum geht es natürlich, dass man Leute dabei hat, die Erfahrung haben. Ich selber habe Erfahrung aus der Großen Koalition auf Bundesebene, habe aber selber jetzt auch als Regierungschefin Erfahrung mit einer Großen Koalition auf Landesebene. Das führt nicht automatisch zu einer neuen Großen Koalition, aber was ich eingangs sagte, man kennt natürlich die Partnerinnen und Partner. Die CDU/CSU, weiß um Gemeinsamkeiten, weiß um Unterschiede – die übrigens auch ja in Ordnung sind und richtig sind und richtig sind und auch wichtig sind für Unterscheidbarkeit von Parteien. Aber es kommt halt der Punkt, da muss man sich – ja – in die Augen schauen und sagen: 'Geht da was zusammen zum Regieren, Ja oder Nein?' Und jetzt dürfen wir die Lage auch nicht schöner reden als sie ist: Die SPD ist hochskeptisch, was eine erneute Große Koalition angeht. Ich gehöre zu denjenigen auch, die skeptisch sind. Und deshalb stehen die Sondierungen schon auch unter einer besonderen Situation.
    "Wir stehen in der Pflicht"
    Capellan: Sie sind auch skeptisch, weil die SPD und auch der Parteivorsitzende, Martin Schulz, insbesondere ein Glaubwürdigkeitsproblem hat, weil er nach der Wahl so massiv gesagt hat: 'Wir gehen nicht in eine Regierung, wir gehen in die Opposition'?
    Schwesig: Meine Skepsis rührt aus drei Gründen. Erstens, dass ich leider miterlebt habe als Bundesministerin, dass wir in dieser Großen Koalition eben nicht alles umgesetzt haben, was wir mit CDU/CSU vereinbart haben – wie das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit, wie die Solidarrente –, weil die CDU an dem Punkt nicht verlässlich war. Zweitens, wir haben eine Wahl hinter uns, obwohl es dem Land gut geht, haben 14 Prozent der Menschen gesagt: Große Koalition, nicht nochmal, viele andere haben eben auch die AfD gewählt. Und ich finde, nach so einem Ergebnis kann man nicht einfach weiter so machen. Deshalb finde ich es auch richtig, dass wir am Wahlabend gesagt haben: 'Wir nehmen die Oppositionsrolle an, wir machen nicht einfach weiter so in der Großen Koalition'. Ich finde es richtig, dass wir es am Wahlabend ausgeschlossen haben und bedauere es sehr, dass wir es dann auch nicht in der Konsequenz durchgezogen haben. Das liegt aber eben auch daran, dass viele sich keine Neuwahlen vorstellen konnten. Wer keine Neuwahlen will, muss dann eben über andere Lösungen nachdenken. Und ich nehme jetzt wahr, dass mich viele Bürgerinnen und Bürger ansprechen, die sagen: 'So kann es ja irgendwie nicht weitergehen, jetzt muss sich was bewegen'. Und ich glaube, jetzt ist einfach der Punkt erreicht, wo man zügig miteinander schauen muss: Gibt es Gemeinsamkeiten und wenn ja, wofür tragen die.
    Capellan: Aber Sie können sich durchaus Neuwahlen vorstellen? Carsten Schneider aus Thüringen, der Parlamentarische Geschäftsführer, dessen eigene Parteifreunde per Beschluss die Große Koalition abgelehnt haben, der hat gesagt zu seinen eigenen Leuten: "Überlegt euch das gut, die Gefahr, dass wir zerschmettert werden," – so hat er wörtlich gesagt, – "bei einer Neuwahl, die empfinde ich als sehr groß!" Wie sehen Sie das? Wie groß ist die Gefahr für die SPD, in eine Neuwahl zu gehen?
    Schwesig: Ich glaube, nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung hat es ein kurzes, kleines Zeitfenster gegeben, in dem man hätte Neuwahlen rechtfertigen können. Dazu hätte die SPD sich aber aufstellen müssen, personell wie programmatisch. Das haben wir in den acht Wochen nach der Wahl nicht getan.
    Capellan: …weil man mit dem Erfolg von Jamaika rechnete…
    Schwesig: Ja. Weil wir damit gerechnet haben und wir uns auf die Situation, dass Jamaika scheitert, nicht vorbereitet haben. Das war ein Fehler. Das muss man ganz klar sagen. Aber nochmal: Frau Merkel wollte die Regierung mit CDU/CSU und FDP und Grünen. Und alle haben ja auch unheimlich davon geschwärmt, auch viele in den Medien, die jetzt schreiben, dass doch die Große Koalition kommen muss. Und es hilft jetzt alles nichts: Wir haben diese Situation und wir stehen in der Pflicht zu schauen, geht zusammen was, Ja oder Nein. Und ich finde, das sollte man vor allem an Inhalten festmachen. Und es ist jetzt auch gut, dass die Zeit gekommen ist, über Inhalte zu reden.
    "Familiennachzug fördert natürlich Integration"
    Capellan: Das wollen wir gleich tun, aber eine Frage noch. Sie haben eingangs auch gesagt, auch für Sie sind diese Gespräche, diese Sondierungen, ergebnisoffen – das wird immer wieder betont. Aber welchen Vorteil könnte die SPD von einer Minderheitsregierung oder von einem Kooperationsmodell, was ja immer diskutiert wurde, mit wechselnden Mehrheiten haben?
    Schwesig: Nochmal, ich glaube, es bringt jetzt gar nicht so viel, über diese Modelle weiter zu spekulieren. Sondern wir sind an einem Punkt, wir müssen jetzt wirklich auf die Inhalte schauen, schauen, wieviel Gemeinsamkeiten gibt es und wofür tragen diese Gemeinsamkeiten. Für eine erneute Große Koalition, für eine Minderheitsregierung oder reicht es gar nicht.
    Capellan: Aber Sie präferieren die Große Koalition, eine stabile Regierung?
    Schwesig: Ich bin skeptisch, was eine erneute Große Koalition angeht. Ich hätte mir auch den Weg einer Minderheitsregierung vorstellen können, finde aber, es wurde viel über die Modelle spekuliert, das bringt eigentlich nichts, wenn man nicht eigentlich voneinander weiß, was geht inhaltlich zusammen.
    Capellan: Dann lassen Sie uns darüber reden. Der größte Knackpunkt könnte ja die Flüchtlingspolitik werden, Stichwort "Familiennachzug". Da stehen Sie auch enorm unter Druck, zumindest die Union steht unter Druck. Denn wenn man nichts tut, dann läuft das Moratorium beim Familiennachzug aus, sprich, Bürgerkriegsflüchtlinge dürfen die sogenannte "Kernfamilie" dann nachholen. Das ist ja genau das, was Sie wollen. Da steht man unter dem Zeitdruck, dass man bis März eine Regelung finden muss. Wie kann das gelingen? Bis dahin wird man nicht mal einen Koalitionsvertrag haben.
    Schwesig: Deshalb steht die SPD nicht unter Druck. Die SPD ist grundsätzlich für den Familiennachzug, weil er natürlich auch die Integration befördert.
    Capellan: Also, Sie spielen auf Zeit?
    Schwesig: Nein, aber wir haben nicht den Zeitdruck, den Sie benannt haben. Ich würde gerne etwas Grundsätzliches sagen zu dem Flüchtlingsthema. Wenn alle sagen, es kann nicht ein "Weiter so" geben, dann gilt das, finde ich, insbesondere auch für den Umgang mit dem Thema "Flüchtlinge und Integration". Wenn die Große Koalition einen Fehler gemacht hat, dann ist es auch der Fehler, dass bei der Frage "Zuwanderung, Flüchtlingsaufnahme, Integration" es keine Gemeinsamkeit in der Großen Koalition gab. Frau Merkel, Teile der CDU und auch die SPD haben gesagt: 'Wir sind in einer Situation, wo wir humanitären Schutz bieten müssen, wo wir uns um die Integration kümmern müssen'. Aber ein anderer wichtiger Teil der Regierung – gerade die CSU – hat jeden Tag gesagt: 'Das ist alles falsch'. Und deshalb braucht man sich dann am Ende auch nicht zu wundern, wenn eine gemeinsame Regierung, eine gemeinsame Koalition zu einem so elementaren Thema jeden Tag unterschiedlich spricht, dass auch die Bevölkerung zu diesem Thema gespalten ist – und das haben wir ja in der Wahl dann erlebt mit dem hohen AfD-Ergebnis. Deswegen werbe ich sehr dafür, dass CSU, CDU und SPD sachlich und besonnen die Fragen der Flüchtlingspolitik besprechen.
    Capellan: Aber bleiben wir mal beim Familiennachzug.
    Schwesig: Und dann kommen wir zum Familiennachzug. Der Familiennachzug von 70.000 Flüchtlingen kann nicht das Thema sein, an dem eine Regierung scheitert.
    "Beim Familiennachzug kann eine Lösung gefunden werden"
    Capellan: Aber die Aussetzung wurde von der SPD mitgetragen. Warum bleibt der Familiennachzug nicht ausgesetzt?
    Schwesig: Weil die SPD damals schon diesen Kompromiss eingegangen ist und gesagt hat: In der Zeit, wo wir jetzt gerade so viele Flüchtlinge aufnehmen, ist es gerechtfertigt, dass wir nicht alles auf einmal machen. Wenn man jetzt über eine neue Lösung spricht, muss man eben auch überlegen: Wie können wir auch den Familiennachzug weiter gut geordnet und gesteuert machen. Die Realität ist, dass der Familiennachzug sowieso nur Schritt für Schritt passiert, weil wir dafür die Botschaften in den anderen Ländern brauchen, weil das alles gar nicht so schnell geht. Der Familiennachzug war von Anfang an ein Thema, das ideologisch aufgeladen wird– aber an dieser Frage darf keine Regierung scheitern!
    Capellan: Viele haben den Eindruck, dass die SPD-Kernklientel mit Blick auf die Flüchtlingspolitik viel konservativer ist als die SPD-Führung möglicherweise glaubt. Sigmar Gabriel hatte schon vor einem Jahr davor gewarnt: Es darf nicht der Eindruck entstehen, als würden Deutsche gegen Flüchtlinge ausgespielt. Und viele empfinden ja offenbar auch mit Blick auf Arbeit, Wohnung oder Bildungsangebote die Zuwanderung als Konkurrenz.
    Schwesig: Deshalb müssen wir dringend die Aufgaben, die in der Großen Koalition beim Thema "Wohnen", aber auch bei Thema "Bildung" liegengelassen worden sind, nachholen. Wir brauchen mehr Wohnungen – völlig unabhängig von den Flüchtlingen. Alle erleben, dass Wohnungen nicht mehr bezahlbar sind. Viele erleben, dass sie mit der Schulpolitik nicht zufrieden sind, dass Schulen nicht gut genug saniert sind, dass wir mehr Lehrer brauchen, dass wir einen Rechtsanspruch auf Ganztagsschulen brauchen. Warum, bei so einem wichtigen Thema wie Bildung – das sagt jeder Politiker –, hilft der Bund nicht mit?! Deswegen wollen wir den Rechtsanspruch auf Ganztagsschule. Ich meine, bevor man sich immer öffentlich tagelang um das Thema "Flüchtlinge" streitet, sollte man lieber mal die Themen zusammen in Angriff nehmen, die die Menschen im Alltag bewegen.
    Capellan: Auch darüber wollen wir gleich noch sprechen. Noch einmal zum Familiennachzug. Die Kompromisslinie könnte eine Härtefallregelung sein?
    Schwesig: Ich glaube, dass man beim Familiennachzug zusammen eine Lösung finden soll. Sie werden verstehen, dass ich die jetzt nicht vor den Sondierungen schon hier wieder aufmachen will. Aber ich werbe nur dafür: Bei dem Familiennachzug kann eine Lösung gefunden werden.
    Mehr Bewegung beim Thema Kooperationsverbot
    Capellan: Jamaika war ja nah dran. Da gibt es ja quasi eine Blaupause, die in Richtung Härtefallregelung geht, dass man den Familiennachzug weiter aussetzt, aber in besonderen Härtefällen sagt, ihr könnt eure Familien nachholen nach Deutschland.
    Schwesig: Die Ergebnisse von Jamaika sind nicht für uns Grundlage der Sondierung. Die CDU, vor allem die CSU muss erklären: Wie sollen Integrationen gelingen, wenn hier nur die jungen Männer sind, aber nicht die Frauen und die Kinder? Man braucht auch Familie zur gelingenden Integration.
    Capellan: Lassen Sie uns sprechen über das Thema "Bildung", welche Erwartungen Sie da haben. Das ist auch Ihr Themenfeld bei den Sondierungsgesprächen – neben der Familienpolitik. Annegret Kramp-Karrenbauer, die saarländische Ministerpräsidentin, Ihre Kollegin, Christdemokratin aus dem Saarland, hat gesagt: ‚Wir dürfen uns da keine Scheingefechte über das Kooperationsverbot liefern. Wir müssen das Thema "Bildung" voranbringen.‘ Stimmen Sie da zu?
    Schwesig: Es geht nicht um ein Scheingefecht über das Kooperationsverbot. Es geht darum, dass wir in Deutschland wirklich mehr Geld ausgeben für gute Bildung. Und gute Bildung muss auch in den Schulen stattfinden. Und da ist es überhaupt niemandem erklärbar, warum der Bund kein Geld für Bildung in den Schulen geben darf. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf gute Ganztagsschule für Kinder, mindestens im Grundschulalter. Und dafür können wir das Kooperationsverbot aufheben, damit der Bund Geld reingeben kann.
    Capellan: Aber es geht nicht nur ums Geld. Es geht auch um einheitliche Bildungsstandards. Das wird auch immer wieder beklagt, dass die Unterschiede, was zum Beispiel das Abitur angeht, so groß sind. Wie viel Länderhoheit sind Sie als Ministerpräsidentin da bereit abzugeben?
    Schwesig: Ich sehe da gar keinen Widerspruch und verstehe deshalb auch viele meiner Kollegen der CDU nicht. Denn die Eltern haben völlig berechtigt den Anspruch, dass, egal wo ihre Kinder zur Schule gehen, es möglich sein muss, dass wenn von ihnen verlangt wird, dass sie den Wohnort wechseln, zum Beispiel wegen der Arbeit, auch die Kinder unkompliziert die Schule wechseln können, und dass das nicht überall unterschiedlich ist. Und wir sollten keine Angst vor gemeinsamen Standards haben. Da würde ich als Ministerpräsidentin immer gut mitgehen können, freue mich auch, dass meine Kolleginnen und Kollegen das auch von der SPD unterstützen. Und deshalb glaube ich beim Thema "Kooperationsverbot" muss in den nächsten Jahren völlig losgelöst von der Großen Koalition Bewegung reinkommen. Und ich finde es auch gut, dass zum Beispiel mein Kollege aus Schleswig-Holstein von der CDU, Herr Günther, das ähnlich sieht.
    "Thema Bildung muss ein Leuchtturmprojekt sein"
    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk heute mit der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig. Was könnte denn das große Leuchtturmprojekt sein, das über einer neuerlichen Großen Koalition steht? 2013 war es der Mindestlohn. Wird es jetzt das Thema "Europa" sein, das Thema "Bildung", die Bürgerversicherung?
    Schwesig: Ich sage ganz klar, dass ein Leuchtturmprojekt das Thema "Bildung" sein muss. Die Große Koalition in der letzten Legislatur hat das Thema "Bildung" vernachlässigt. Insbesondere Bildung in der Schule hat gar keine große Rolle gespielt. Wir brauchen den Rechtsanspruch auf Ganztagsschule. Ein weiteres Projekt muss im Bildungsbereich die kostenfreie Kita sein. Wir haben viele Mütter und Väter, die jeden Tag arbeiten gehen, aber einen großen Teil ihres Einkommens für hohe Kita-Gebühren abgeben. Viele Länder haben sich auf den Weg gemacht zur Gebührenfreiheit. Auch wir in Mecklenburg-Vorpommern. Wir haben gerade zum Anfang dieses Jahres die Gebühren abgesenkt. Aber wir brauchen die kostenfreie Kita. Und auch hier wollen wir, dass wir das gemeinsam mit dem Bund machen, denn die Frage von Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Frage von Entlastung von Familien muss eine Rolle spielen.
    Capellan: Welche Rolle spielt das Thema "Bürgerversicherung"? Da wird von vornherein gesagt, das wird die Union nicht mitmachen. Es ist dennoch ein zentrales Thema der Sozialdemokraten. Stichwort "Zweiklassenmedizin". Die weitestgehenden Forderungen gehen dahin, dass man die private Krankenversicherung abschaffen müsse. Das wird die Union nicht mitmachen. Wie weit wollen Sie da gehen?
    Schwesig: Die Bürgerversicherung hat ja zum Ziel, dass man die Zweiklassenmedizin abschafft, dass wir wirklich eine Gleichbehandlung aller Patienten haben. Das ist das Ziel. Es ist bekannt, dass die Bürgerversicherung noch nie zwischen SPD und CDU vereinbart worden ist, weil es da eben einfach unterschiedliche Positionen gibt. Und man muss eben auch in diesen Sondierungen ausloten: Wozu ist die CDU bereit? Wie steht die CDU dazu, dass wir ein Zweiklassensystem in der Medizin haben? Wie steht die CDU dazu, dass wir in ländlichen Regionen erleben, dass wir teilweise keine Ärzte mehr vor Ort haben? Die Frage der medizinischen und auch pflegerischen Versorgung, die zu sichern und auch allen gleichmäßig gut zu garantieren, ist ein Thema, was die Menschen umtreibt. Da müssen auch CDU und CSU mit Vorschlägen um die Ecke kommen.
    Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit
    Capellan: Ein anderer Punkt ist die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Das ist gesetzt für die SPD, dass es dazu kommen muss?
    Schwesig: Das ist für uns ein wichtiger Punkt. Damit fängt es an, dass eben wieder Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichmäßig in die Krankenversicherung einzahlen.
    Capellan: Am 06. Januar ist auch das Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit in Kraft getreten, was noch aus Ihrer Feder als Frauenministerin stammt. Mann und Frau haben fortan einen Auskunftsanspruch darüber zu erfahren, wie viel das jeweils andere Geschlecht verdient. Transparenz ist gut und schön, aber es gibt keinen Rechtsanspruch auf gleiche Bezahlung von Mann und Frau. Spielt das auch eine Rolle in den Verhandlungen?
    Schwesig: Das spielt eine Rolle in den Sondierungen. Mit dem neuen Gesetz, um das wir hart gerungen haben in dieser Großen Koalition, gibt es die Möglichkeit, dass Frauen nachfragen können: Wie werde ich bezahlt im Verhältnis zu den männlichen Kollegen? Aber dieses Auskunftsrecht gilt nur für Betriebe ab 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Damit erreichen wir einen Großteil der Betriebe, aber eben auch viele Betriebe nicht, wo Frauen arbeiten. Und wir müssen jetzt in den Sondierungen darüber reden: Was machen wir für die Betriebe unterhalb von 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? Und wie können wir auch Frauen stärker unterstützen, sich ihr Recht einzuklagen, zum Beispiel durch ein Verbandsklagerecht?
    Capellan: Sie haben jetzt noch nicht über das Thema "Europa" gesprochen. Welche Antwort würden Sie sich wünschen, wünscht sich die SPD auf die Reformvorschläge von Emmanuel Macron?
    Schwesig: Klar ist, dass es nur ein starkes Deutschland gibt, wenn es auch ein starkes Europa gibt. Was uns ein wichtiger Punkt zum Beispiel ist, ist mehr Steuergerechtigkeit und auch die Bekämpfung von Steuerflucht. Es kann nicht sein, dass der regionale, lokale Handwerker brav und ordentlich seine Steuern bezahlt, aber eben die großen Unternehmen, auch weltweit agierende Unternehmen, flüchten können. Und dazu hilft es nicht, wenn jeder Nationalstaat klein, klein macht, sondern dazu brauchen wir zum Beispiel eine gemeinsame Politik, um Steuerflucht zu bekämpfen.
    Capellan: Das spricht dafür, dass die SPD eigentlich den Finanzminister stellen müsste.
    Schwesig: Das sind Strukturfragen, über die man diskutieren muss. Auch da gehen wir offen in die Gespräche mit der Union. Aber klar ist auch, dass Europa nicht einfach so weitermachen kann. Wir brauchen ja zum Beispiel auch eine gemeinsame Flüchtlings- und auch Asylpolitik. Denn das ist auch das, was ja viele Bürgerinnen und Bürger auch zu Recht kritisieren. Wir übernehmen einen Großteil der humanitären Aufgabe, aber was ist eigentlich mit unseren Nachbarn?
    "Über die Frage von Ressorts wird erst am Ende gesprochen"
    Capellan: Aber Sie würden mir zustimmen, auch bei den anderen Themen, die wir angesprochen haben, es ging immer wieder ums Geld. Und viele sagen auf SPD-Seite: ‚Eigentlich müssen wir uns das Finanzministerium holen. Das ist ein Schlüsselministerium, das wichtig ist, um auch etwas anders zu machen als in den vorhergehenden Großen Koalitionen mit Angela Merkel.‘
    Schwesig: Es ist ja eine gute Tradition, dass über die Frage von Ressorts erst am Ende von Verhandlungen gesprochen wird. Wie gesagt, wir sind am Anfang. Wir führen jetzt ein paar Tage lang Gespräche. Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten? Klar ist aber auch, dass das Finanzressort immer ein Schlüsselressort ist und ich immer der SPD empfehlen würde, dieses Ressort zu besetzen – egal in welcher Konstellation.
    Capellan: Wir machen jetzt noch nicht die Ressort-Verteilung, aber Sie sehen den Parteivorsitzenden im Kabinett, wenn es denn zu einem schwarz-roten Kabinett kommt?
    Schwesig: Also, wir sind jetzt wirklich nicht beim Postenverteilen und das muss der Parteivorsitzende am Ende doch selbst entscheiden.
    Capellan: Er hätte dann ein weiteres Glaubwürdigkeitsproblem, weil er gesagt hat: ‚Ich gehe nicht in eine Koalition als Minister mit Angela Merkel.‘
    Schwesig: Wir stehen am Anfang von Sondierungen und wissen noch nicht mal, ob wir so viele Gemeinsamkeiten haben, inhaltliche, ob die Gespräche dazu führen, dass wir überhaupt in Koalitionsverhandlungen gehen. Deshalb glaube ich, stellt sich jetzt die Frage von Ministerposten überhaupt noch gar nicht.
    Capellan: Da stellt sich für viele auch die Frage, welche Rolle Sigmar Gabriel, der derzeit sehr aktive geschäftsführende Außenminister, spielen wird, ob er im Kabinett bleiben wird an der Seite von Martin Schulz. Die wird immer wieder gestellt. Diese Frage werden sie mir jetzt auch nicht beantworten, aber lassen Sie uns einen anderen Punkt aufgreifen. Die Analyse, die Sigmar Gabriel gestartet hat mit Blick auf die Wahlniederlage der Sozialdemokraten. Er hat gesagt: ‚Wir haben auch selbst unsere eigene Kernwählerschaft nicht mehr hinreichend angesprochen.‘ Er sagt: ‚Die Menschen haben Beständigkeit, Orientierung, die Wahrung materieller Interessen gesucht und darauf sind wir nicht genügend eingegangen.‘ Ist das eine richtige Analyse?
    Schwesig: Ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger gerade in Zeiten der großen Flüchtlingsbewegung das Gefühl hatten, es geht gar nicht mehr um ihre Alltagsthemen. Ich habe das oft gehört, dass es hieß: ‚Frau Schwesig, wann kümmert sich eigentlich einer um uns?‘ Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir uns um die Alltagsthemen kümmern. Und wie können wir es schaffen, dass die Distanz, die entstanden ist zwischen Bürgerinnen und Bürgern und politisch Verantwortlichen, wie kann die überwunden werden? Wie können wir wieder näher dran sein? Die Antwort auf die Situation, die wir im Land haben, auch auf die Politikverdrossenheit muss sein, Bürger wieder stärker an Entscheidungen zu beteiligen. Das kann ein Weg sein.
    "Am Ende steht das Mitgliedervotum"
    Capellan: Lassen Sie uns zum Abschluss noch einen Blick werfen auf die kommenden Wochen. Am 21. Januar gibt es den SPD-Sonderparteitag in Bonn. Wenn man die Delegierten davon überzeugen könnte, dass es sich lohnt zu verhandeln über eine Große Koalition, ist dann die wichtigste Hürde genommen? Ist dann alles klar auf SPD-Seite?
    Schwesig: Das kann ich Ihnen heute noch gar nicht so vorhersagen, weil wir erst in den nächsten Tagen erleben: Was geht denn inhaltlich mit CDU und CSU und wofür reicht es?
    Capellan: Ich wollte darauf hinaus, dass ja dann die SPD-Mitglieder darüber entscheiden können, ob sie mitgehen. Können Sie sich vorstellen, dass die SPD-Basis dann noch `Nein` sagen könnte?
    Schwesig: Ich habe den Anspruch, dass, wenn ich der Mitgliedschaft einen Vorschlag mache, dass ich dann auch so dafür werbe, dass ich die Mitglieder mitnehmen kann. Deswegen stellt sich für mich als allererstes die Frage: Was kann ich guten Gewissens meinen Mitgliedern vorschlagen? Am Ende steht das Mitgliedervotum. Ich glaube fest daran, dass, wenn man gute Vorschläge macht, man die Mehrheit mitnehmen kann. Aber, ob wir überhaupt dazu kommen, das ist eben heute noch offen.
    Capellan: Noch mal gefragt, wenn Sie den Vorschlag machen würden und die SPD-Basis würde `Nein´ sagen, das wäre das Aus für die derzeitige SPD-Spitze? Oder sehe ich das falsch?
    Schwesig: Also, an dem Punkt sind wir noch lange nicht. Und ich will solche Fragen ungern diskutieren, weil es dann so wirkt, als ob man auch Druck auf die Basis macht. Ich glaube, das ist das, was die Basis überhaupt nicht vertragen kann und auch nicht gebrauchen kann, weil - an der Stelle will ich jetzt mal den Parteimitgliedern an der Basis beispringen – wenn einer Fehler gemacht hat in den letzten Wochen, dann ist es die Parteiführung, weil sie erst klar die Große Koalition ausgeschlossen hat, sich dann nicht auf das Scheitern von Jamaika vorbereitet hat und jetzt die Partei auf einem leicht anderen Weg mitnehmen muss.
    Capellan: Was ist wahrscheinlicher? Haben wir Ostern eine neue Regierung? Oder bekommen wir Neuwahlen?
    Schwesig: Ich bin keine Wahrsagerin. Ich bin Politikerin, die jetzt in den nächsten Tagen genau das ausloten wird. Ich glaube, es muss jetzt darum gehen: Was muss eine Regierung für die Menschen leisten? Und da gibt es ein paar Aufgaben, die jetzt endlich angepackt werden müssen.
    Capellan: Manuela Schwesig, besten Dank für das Gespräch.
    Schwesig: Ich danke Ihnen.