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Großbritannien
Fast die Hälfte der Briten will EU verlassen

Vor einem Jahr hat der britische Premierminister David Cameron ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Union angekündigt. Seitdem ebben die Rufe nach einem Austritt nicht ab – doch gemäßigte Politiker haben einen anderen Vorschlag.

23.01.2014
    Die Ergebnisse einer Umfrage, die die britische Wochenzeitung Observer letzten Dezember in Auftrag gegeben hatte, waren eindeutig: Gefragt, ob man das eigene Land für europäisch halte, antworteten 84 Prozent der Deutschen mit Ja. Im Vereinigten Königreich sah es ein wenig anders aus: Nur 40 Prozent der Briten betrachten ihr Land als europäisch.
    Brüssel ist für die populistische Unabhängigkeitspartei UKIP, für Teile der Medien und der Konservativen Sündenbock für so ziemlich alles, was schief läuft: Einwanderung, Bürokratie, Entdemokratisierung, Geldverschwendung – viele Briten hadern mit Europa. Da wundern die neuesten Erhebungen des Umfragepapstes Peter Kellner vom Institut "yougov" dann auch nicht mehr:
    "Gegenwärtig ist eine knappe Mehrheit dafür, die EU zu verlassen: 45 Prozent etwa sagen, sie würden für einen Austritt stimmen, 35 Prozent sind dafür, drin zu bleiben und 20 Prozent sind unsicher, welchen Weg man gehen soll."
    Dass die Briten im Jahr 2017 über die Mitgliedschaft abstimmen sollen, dass hatte Ihnen für den Fall seiner Wiederwahl der konservative Premierminister David Cameron versprochen. Genau ein Jahr ist das her.
    "Es ist Zeit, dass das britische Volk zu Wort kommt, es ist Zeit für uns, die Sache mit Großbritannien und Europa zu klären. Wir werden dem britischen Volk ein Referendum bieten mit einer sehr einfachen Rein- oder Raus-Wahl: in einer EU mit neuen Regeln zu bleiben – oder ganz herauszugehen."
    Diese neuen Regeln, die er in der EU aushandeln wolle, waren das zweite Versprechen Camerons. Der Premier drängt auf eine grundlegende Reform der Europäischen Union: schlanker, flexibler, unbürokratischer – ohne Harmonisierungswahn:
    "Countries are different, they make different choices, we can't harmonize everything."
    Einer so reformierten EU solle es vor allem um die größere Wettbewerbsfähigkeit gehen; in ihr müsse Brüssel weniger regeln und Mitgliedsstaaten und nationale Parlamente mehr entcheiden können.
    Camerons Appell richtete sich nicht nur an die anderen EU-Staaten, sondern vor allem ans eigene Publikum. Teilweise mit Erfolg: Inzwischen kommt die Wirtschaft allmählich aus der Deckung. Industrieverbandschef John Cridland.
    "Die britischen Unternehmen - große und kleine – sagen: Wir sollten in einer veränderten EU bleiben, nicht außerhalb ohne Einfluss."
    Investoren wie Honda, Nissan, Ford, die Citigroup oder Unilever warnen vor einem Austritt mit anschließenden Standortverlagerungen.
    Doch auf die verbissenen EU-Gegner in UKIP und Konservativer Partei machen solche Stimmen und Camerons Strategie keinerlei Eindruck. Sie stellen immer neue, unrealistische Forderungen etwa nach einem Ende der EU-Bewegungsfreiheit. Erst vor zwei Wochen verlangten einige Dutzend Tory-Abgeordnete in einem Brief das Vetorecht des Parlaments gegen jede EU-Entscheidung. Da sah sich sogar der EU-kritische Außenminister William Hague genötigt, mal etwas klarzustellen:
    "Was nicht geht in einem System mit gemeinsamen Regeln, noch nicht mal in einer Freihandelszone, ist, dass jedes einzelne Parlament einseitig sagen kann, das machen wir nicht mit. So kann ein Binnenmarkt nicht funktionieren. Wir müssen schon aufpassen, was wir da unterstützen."
    Seither gilt Hague den Hardlinern als Verräter; dazu dürfte auch Finanzminister Osborne zählen, der vor einer Woche klar machte, Großbritannien wolle Mitglied der EU bleiben, dringe aber auf neue Verträge, da die alten nicht mehr ihren Zweck erfüllten:
    "Sie sind nicht gemacht für eine Union, in der einige Mitgliedsstaaten eine dramatisch tiefere Integration wollen als andere. Statt sich dieser Wahrheit zu stellen, wird Brüssel zu einer Gesetzesgymnastik gezwungen, um die bestehenden Verträge so zu dehnen, dass sie zu einer Situation passen, für die sie nicht gedacht waren."
    London fürchtet insbesondere, dass ohne Vertragsänderung die Interessen der Nicht-Euro-Staaten zunehmend unter die Räder geraten könnten. Es liegt wohl auch an den anderen EU-Staaten, ob die Briten Mitglied im Club bleiben. Meinungsforscher Peter Kellner:
    "Wenn wir eine zweite Frage stellen: Wie würden Sie abstimmen, wenn eine konservative Regierung die EU-Regeln neu verhandelt hat und David Cameron empfiehlt, drin zu bleiben? Dann ist eine klare Mehrheit der Briten für die Mitgliedschaft."