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Großbritannien und der Brexit
"Man möchte alle Vorteile, aber keine Verpflichtungen"

Der Vorschlag von Großbritannien, nach dem Brexit eine Zollunion auf Zeit einzugehen, sei "Rosinenpickerei", sagte der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen im Dlf. Für einen Deal mit der EU reiche der Vorschlag nicht aus.

Jo Leinen im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 15.08.2017
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen
    Die britische Regierung stehe mächtig unter Druck, da sollte man sich in Europa und Brüssel nicht scheu machen lassen, sagte SPD-Politiker Leinen im Dlf. (imago )
    Tobias Armbrüster: Die Verhandlungen zum Brexit verlaufen bislang ja eher zäh. Aus London und aus Brüssel ist hinter vorgehaltener Hand immer wieder zu hören, dass die britische Regierung eigentlich selbst noch gar nicht so richtig weiß, wie sie das mit dem Austritt aus der Europäischen Union überhaupt hinkriegen will. Dabei ist der Zeitdruck natürlich groß: Anfang 2019 muss alles unter Dach und Fach sein. Jetzt hat der britische Brexit-Minister David Davies heute einen Vorschlag gemacht, der viele zumindest in Brüssel sicher aufhorchen lassen wird. Er wünscht sich nämlich, dass die Briten nach dem Brexit zumindest übergangsweise Mitglied in einer Zollunion mit der Europäischen Union bleiben. Am Telefon ist der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Schönen guten Tag, Herr Leinen!
    Jo Leinen: Tag, Herr Armbrüster!
    Armbrüster: Herr Leinen, eine Zollunion mit Großbritannien, ist das eine gute Idee?
    Leinen: Zuerst stellt man fest, dass die Front der harten Brexiteers, also die, die aus der EU rauswollen, koste es, was es wolle, wohl an Unterstützung verlieren, und dass man sich in London endlich Gedanken macht, was denn Brexit heißt und was der Schaden sein kann für die eigene Wirtschaft. Nicht umsonst kommt jetzt zum ersten Mal ein Vorschlag für eine gewisse Übergangszeit, aber das, was wir da heute hören, das reicht natürlich hinten und vorne nicht aus für einen Deal mit der EU.
    Armbrüster: Warum nicht?
    Leinen: Das ist das typische Rosinenpicken. Man möchte alle Vorteile, aber keine Verpflichtungen. Natürlich sollten die Waren frei zirkulieren, aber nicht die Personen. Und natürlich sollte wahrscheinlich auch nicht der Europäische Gerichtshof für Streitfälle zuständig sein, sondern britische Gerichte. Also, da gibt es Hürden, die eigentlich nicht überwindbar sind in dieser Form, was aus London da vorgeschlagen wird.
    "Sicher brauchen wir ein Folgeabkommen"
    Armbrüster: Da kann man aber doch sicher drüber verhandeln, vor allen Dingen, wenn es nur um eine Übergangszeit geht. So pragmatisch sollte man doch zumindest auch in Brüssel sein können.
    Leinen: Sicher brauchen wir ein Folgeabkommen. Großbritannien ist ja der Nachbar der Europäischen Union, man wird ja ein Verhältnis zu diesem Land haben. Aber ich frage mich – wir haben eine Zollunion, der europäische Binnenmarkt ist eine Zollunion. Warum jetzt aus einer Zollunion rausgehen in eine separate Zollunion? Das ist ja genau das, was ich eben sage, Rosinenpickerei. Man möchte die Vorteile haben, aber nicht die Verpflichtungen übernehmen, die zum Beispiel Norwegen übernimmt. Norwegen ist auch nicht Mitglied der Europäischen Union, aber Mitglied in einem Wirtschaftsraum, wo neben den Vorteilen auch gewisse Verpflichtungen mitgetragen werden, zum Beispiel zu bezahlen für das ganze System der europäischen Integration, auch den EuGH anzuerkennen und die Freizügigkeit mitzuliefern. Da sind in London noch einige Illusionen und einige Blütenträume, die so nicht aufgehen werden.
    "Den ersten Schritt zuerst, den zweiten dann danach"
    Armbrüster: Jetzt hat ja London nur das Problem, dass es unter einem immensen Zeitdruck steht, ein Zeitdruck, den ja Großbritannien nicht unbedingt selbst verursacht hat, weil eben diese Brexit-Gespräche innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein müssen. Da kann sich jetzt jeder denken, dass das natürlich schwierig ist, in diesen zwei Jahren ein Handelsabkommen mit der Europäischen Union und auch noch mit vielen anderen Ländern aufzubauen. Großbritannien ist es ja außerdem untersagt, überhaupt mit anderen Ländern in solche Gespräche schon einzutreten. Macht es vor diesem Hintergrund nicht Sinn, den Briten zumindest dieses Zugeständnis zu machen und zu sagen, wir als Europäische Union stehen euch das zu für eine Übergangszeit können wir das mit der Zollunion weiter behalten. Man kann dann ja gleichzeitig sagen, aber nach so und so vielen Jahren ist dann endgültig Schluss damit?
    Leinen: Die EU hat ja klar gemacht, wie die Reihenfolge ist: Zuerst muss man mal bei einer Scheidung seine Verpflichtungen erfüllen, das heißt, zahlen, was da aufgelaufen ist. Und es ist ja interessant, dass aus London jetzt ein Papier für die Zeit nach dem Brexit kommt und nicht ein Papier, was sie denn bereit sind, zu zahlen. Die EU hat die Zahlen auf den Tisch gelegt. Es werden circa 100 Milliarden Euro sein, die Großbritannien zu zahlen hat. Da schleicht man sich in London drumherum, da kommt nichts. Und dann kriegen wir heute ein Papier, was denn danach sein soll. Also ich würde sagen, den ersten Schritt zuerst, den zweiten dann danach. Und die Folge für Brüssel ist ziemlich klar. Wir werden nicht in Verhandlungen über die Nachfolgeregelung eintreten, bevor nicht diese Grundfrage, Bezahlung der Schulden und Klärung der Rechte der drei Millionen EU-Bürger, die sich zurzeit in Großbritannien aufhalten. Dazu kommt dann noch die Grenze zu Nordirland, da soll ja dann morgen ein Papier aus London kommen. Also, es gibt Grundfragen, die man zuerst lösen muss, und dann kann man drüber nachdenken, was denn danach passiert.
    "Wir haben eine Zollunion"
    Armbrüster: Ich höre da jetzt, Herr Leinen, dass Sie da sehr dogmatisch argumentieren. Aber muss man nicht auf europäischer Seite sagen, vor allen Dingen auf deutscher ja auch, dass diese Handelsbeziehungen zu Großbritannien ja in unserem ureigenen Interesse sind, weil Großbritannien eben dieser riesige Markt ist. Und wenn wir jetzt Gefahr laufen, dass da Anfang 2019 plötzlich Schluss ist mit dem freien Austausch von Waren, mit dem freien Handel, dann ist das ja auch überhaupt nicht im Sinne der europäischen und nicht im Sinne der deutschen Wirtschaft.
    Leinen: Ja, da haben Sie recht. Man muss natürlich eine Regelung finden, und das, was aus London kommt, ist jetzt mal ein Aufschlag von dort. Das wird sicherlich von der EU beantwortet werden zu gegebener Zeit, und ich würde mal sagen, wir haben eine Zollunion. Also man kann natürlich auch vereinbaren, dass das jetzige System über 2019 hinaus noch eine Reihe von Jahren fortgesetzt wird. Das hieße dann aber auch, die Freiheiten zusammen zu sehen, auch die Kosten zu sehen, die dadurch entstehen. Und dann muss man natürlich eine Anschlussregelung finden, aber nicht so in dieser Rosinenpickerei, wie das heute sich die britische Regierung vorstellt. Das wird so nicht gehen.
    Armbrüster: Würde das heißen, Zollunion und gleichzeitig das Prinzip der Freizügigkeit weiter aufrechterhalten, zumindest für die Dauer dieser Übergangslösung?
    Leinen: Es gibt zwei, drei Eckpunkte, die erfüllt sein müssen. Man kann nicht in einer Zollunion mit der EU sein und gleichzeitig selber Handelsverträge mit Drittstaaten in der Welt machen. Das geht nicht. Das kann erst danach passieren. Zweitens sind die vier Freiheiten in der Zollunion, die gehören zusammen, nicht nur Freiheit für die Güter, sondern auch Freiheit für die Menschen. In dieser Zeit muss das gewährleistet sein. Und, wie gesagt, die EU kostet auch Geld. Man kann sich da nicht rausstehlen, nicht bei all den Rabatten, die Großbritannien schon bekommen hat und gesagt, und dann jetzt sagen, 2019 ist Schluss. Wir haben zwar die Vorteile, aber wir zahlen nichts mehr in die EU-Kasse. Das geht nicht.
    Leinen: Die britische Regierung steht mächtig unter Druck
    Armbrüster: Auch wenn Sie den Vorschlag jetzt kritisch sehen, Herr Leinen, sehen Sie das Ganze auch als ein Zeichen dafür, dass die Briten jetzt ernst machen wollen mit diesen Verhandlungen?
    Leinen: Ja, ich sehe, dass dieser harte Brexit, die Töne, die wir da die letzten Monate gehört haben – wir sind stark genug, wir gehen raus, koste es, was es kosten soll. Das ist wohl vorbei. Man merkt, dass sich die Front da aufweicht in der Downing Street 10 und dass man sieht, welche Schäden das hat. Die Banken flüchten ja nach Frankfurt und nach Paris. Firmen überlegen sich, wie sie aus Großbritannien rausgehen. Also, es ist höchste Eisenbahn für die britische Regierung, eine Vorstellung zu entwickeln, wie es denn nach dem März 2019, das ist in 18 Monaten, wie es denn dann weitergehen soll. Die stehen mächtig unter Druck, und da sollte man sich in Europa und in Brüssel nicht scheu machen lassen.
    Armbrüster: Sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der SPD-Politiker Jo Leinen, stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments. Vielen Dank, Herr Leinen, für Ihre Zeit an diesem Dienstagmittag!
    Leinen: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.