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Große Reden
Charles de Gaulle: "Ich habe euch verstanden"

Im Juni 1958 ist Algerien ein Teil Frankreichs und als Charles de Gaulle in Algier spricht, tobt in dem Land ein Bürgerkrieg. Welche Wirkung hatte der Satz "Ich habe euch verstanden!" damals und wie wichtig war er für Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Frankreichs?

Von Jürgen König | 13.07.2017
    General Charles de Gaulle bei seiner Rede am 4. Juni 1958 vom Balkon des Generalgouvernements auf dem Place du Forum in Algier. Während dieser Rede lieferte er seinen berühmte Satz "Ich habe euch verstanden."
    General Charles de Gaulle bei seiner Rede am 4. Juni 1958 vom Balkon des Generalgouvernements auf dem Place du Forum in Algier. Während dieser Rede lieferte er seinen berühmte Satz "Ich habe euch verstanden." (AFP)
    "Je vous ai compris!"
    "Ich habe euch verstanden!", rief Charles de Gaulle am 4. Juni 1958 in Algier einer großen Menschenmenge zu, doch sagte er dabei weder, was noch wen er meinte, verstanden zu haben. Das hatte Kalkül: in der Menge standen Algerienfranzosen neben Algeriern, Charles de Gaulle wollte, dass jeder sich angesprochen fühlen konnte.
    "Ich weiß, was hier vorgegangen ist. Ich sehe, was ihr tun wolltet. Ich erkenne den Weg, den ihr in Algerien eingeschlagen habt, als den der Erneuerung und der Brüderlichkeit."
    Panik unter den Algerienfranzosen
    Das war eine glatte Lüge, von "Brüderlichkeit" konnte keine Rede sein: Extremisten beider Lager hatten schon seit vier Jahren einen ungleichen Krieg gegeneinander geführt: auf Terrorattacken algerischer Nationalisten reagierte die französische Armee mit brutalen "Säuberungsaktionen" mit Tausenden von Toten, die Folter war gängige Praxis. Dass Marokko und Tunesien unabhängig geworden waren, versetzte die etwa 900.000 Algerienfranzosen in eine panikartige Angst. In Frankreich hatten die Regierungen in immer kürzeren Abständen gewechselt, dramatisch wurde die Lage, als die französischen Generäle in Algier offen gegen die Zentralregierung in Paris rebellierten, deren Minister in Algier festsetzten und vom französischen Staatspräsidenten René Coty verlangten, eine Regierung einzusetzen, die den Verbleib Algeriens bei Frankreich garantierte. Die Putschvorbereitungen intensivierten sich, zuletzt sah René Coty nur noch in Charles de Gaulle, dem einstigen Kriegshelden und Führer des "Freien Frankreichs", eine Persönlichkeit, die in der Lage wäre, die Algerienfrage zu lösen. General de Gaulle, der seit Kriegsende zurückgezogen lebte, hatte sich selbst ins Spiel gebracht, hatte sich von den Putschisten nie distanziert - die Algerienfranzosen konnten davon ausgehen, de Gaulle stünde auf ihrer Seite.
    "Erneuerung in jeder Beziehung. Sehr zu Recht wolltet ihr dort beginnen, wo sie ihren Ursprung hat, nämlich bei unseren Institutionen, und darum bin ich hier."
    Doch auch die Algerier konnten hoffen an jenem 4. Juni 1958, denn de Gaulle erklärte auch, alle Algerier seien fortan Franzosen und gleichberechtigt im Parlament.
    "Franzosen im Vollsinne in ein und demselben Kollegium! Das werden wir in spätestens drei Monaten bei der feierlichen Gelegenheit unter Beweis stellen, wenn alle Franzosen, einschließlich der zehn Millionen Franzosen von Algerien, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden haben."
    Eine Botschaft voller Rätsel
    Bis heute rätseln Historiker darüber, ob de Gaulle von Anfang an auf eine Unabhängigkeit Algeriens hinarbeitete oder sie erst infolge des immer heftigeren Krieges als unvermeidlich ansah. Ein Abkommen sicherte Algerien eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit des Landes und den Algerienfranzosen Bleiberechte zu. Den Waffenstillstand am 19. März empfanden die meisten Algerienfranzosen als Kapitulation. Damit dem unabhängigen Algerien nichts als verbrannte Erde hinterlassen werde, überzogen französische Militärs und gewaltbereite Siedler das Land mit Terror und Mordserien, Gegenterror der Algerier war die Folge. Innerhalb weniger Wochen flohen so gut wie alle Algerienfranzosen, ins Mutterland, mit ihnen gingen rund 350.000 Algerier, früher in französischen Diensten, fühlten sie sich nicht mehr sicher. Heute haben etwa sechs bis sieben Millionen Franzosen biographische Verbindungen zum "Algerienkrieg", der nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 150.000 und 250.000 Tote forderte, in Frankreich aber erst durch einen Parlamentsbeschluss von 1999 offiziell "Algerienkrieg" genannt werden darf: bis dahin war stets von "Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung" die Rede gewesen. Das Trauma sitzt tief, eine wirkliche Aufarbeitung fand nie statt. Als Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron im Februar bei einem Besuch in Algier ein Interview gab, war in Frankreich die Aufregung groß.
    "Die Kolonialisierung gehört zur Geschichte Frankreichs, das ist ein Verbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eine wirkliche Barbarei. Dem müssen wir uns stellen. Und wir müssen uns entschuldigen bei all jenen, denen wir das angetan haben."
    Buhrufe für Macrons Kolonialkritik
    Der konservative Präsidentschaftskandidat Francois Fillon reagierte sofort: "Diese Herabsetzung, dieser Hass auf unsere Geschichte, diese ständige Reue, ist eines Präsidentschaftskandidaten unwürdig!"
    Zurück in Frankreich, sah sich Macron vor allem gegenüber den protestierenden Veteranenverbänden zu Erklärungen genötigt. Doch er entschuldigte sich nicht, sprach von der historischen Verantwortung Frankreichs, die man endlich annehmen müsse, um damit auch die Traumata zu überwinden. Seine Aussage revidierte er nur in einem Punkt: aus den "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" machte er "Verbrechen gegen Menschen". Und zitierte dann - Charles de Gaulle:
    "Je vous ai compris!" - Ich habe euch verstanden! Und ich liebe euch! Denn die Republik muss jeden lieben!
    Mit diesem direkten Bezug auf den Gründer der V. Französischen Republik sicherte sich Emmanuel Macron den Schlussjubel der großen Menschenmenge - und auch er ließ offen, was oder wen er meinte, verstanden zu haben.