
Früher Abend im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Im Film- und Mikrofiche-Saal surren die Lesegeräte. An einem der Computer sitzt Thomas Pruschwitz. Der Historiker hat vor fünf Jahren den Recherchedienst Ad Acta gegründet. Er sucht im Bundesarchiv für Angehörige nach Klarheit, wie deren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Heute aber ist er hier für die Wissenschaft, er forscht nach ehemaligen Mitgliedern der sogenannten Schutzstaffel, SS. Die Mitgliederkartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gibt ihm dafür erste Anhaltspunkte:
"Aus der Kartei kann man vor allen Dingen rauslesen das Eintrittsdatum, das ist zum Beispiel ein ganz wichtiges Kriterium, wenn man feststellt, dass das NSDAP-Mitglied vor dem 31. Januar 1933 in der NSDAP war, dann kann man davon ausgehen, dass eine Identifizierung mit dem Nationalsozialismus schon eben vor 1933 gegeben hat."
"Angesichts der fürchterlichen Untaten und Verbrechen des NS-Regimes ist nach wie vor die Frage, ob ein Mensch oder zu welchem Zeitpunkt ein Mensch Mitglied der NSDAP geworden ist, eine ziemlich zentrale für die Beurteilung seiner Tätigkeit. Wir sehen das auch an den ganzen Studien, die von Bundesministerien, von Länderparlamenten angefertigt sind oder sich auch gegenwärtig noch in der Anfertigung finden."
Wann jemand der NSDAP beigetreten war, ist bei diesen Studien eine wichtige Frage:
"Sind sie Nazis der ersten Stunden, sind sie erst 1933 als Opportunisten dazu gestoßen oder gar erst 1937, was darauf hindeutet, dass sie eher keine überzeugten Nationalsozialisten waren, sondern das einfach so mitgenommen haben, als es ihnen für die Karriere förderlich erschien. Das sind entscheidende Fragen und die werden natürlich mit den Materialien im Berlin Document-Center beantwortbar."
Etwa 80 Prozent der Kartei sind heute noch erhalten - 12,7 Millionen Karteikarten. Darauf notierte die nationalsozialistische Partei jeden, der einen Aufnahmeantrag gestellt hatte oder, auch das kam bis nach 1933 oft vor, wieder ausgetreten war. Archiv-Mitarbeiter Lutz Möser erzählt, wie sie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erhalten wurde:
"An einen Papiermühlenbesitzer in München-Freimann kam die Anfrage von der NSDAP im Braunen Haus. Im Braunen Haus waren die Anträge aufbewahrt. Und in der Panik vor den Amerikanern, die immer näher an die Stadt heranrückten, haben sie sich entschlossen, die Karteikarten zu vernichten. Damit haben sie im Braunen Haus begonnen, war ihnen aber dann zu aufwendig. Und dann haben sie gedacht: Ach, die kann man doch in einem großen Berg zur Papiermühle bringen und die zermalmt die dann zu Schrott. Der gute Mann hat die dann aufbewahrt und dann war dem das alles nicht so geheuer: Und dann hat der schon Ende Mai 1945 den Amerikanern das anbieten wollen, die hatten anscheinend aber gerade andere Sorgen, da war Papier nicht unbedingt das wichtigste."
Monate später, im September 1945, hätten die Amerikaner dann endlich bemerkt, welcher Schatz sich in den Säcken befand, die der Papiermüller dagelassen hatte. Schnell war das Berlin Document-Center gegründet. Darin wollten die Alliierten Dokumente lagern, die sie für die Vorbereitung der Nürnberger Prozesse gegen Kriegsverbrecher und die Entnazifizierung generell gebrauchen konnten. Neben den Karteikarten waren das Berge von Parteikorrespondenz, Personalakten von SA und SS.

"Ein Häuflein von Narren schien es damals zu sein, von Wahnsinnigen, von Verblendeten, von Törichten, von apolitischen Elementen, die noch nicht einmal wussten, wie man Politik macht."
Hitler stilisierte in seiner politisch-ideologischen Programmschrift "Mein Kampf" und später in vielen seiner Reden, wie dieser hier aus dem Jahr 1938, den NSDAP-Gründungsabend als gewaltvolle Auseinandersetzung mit der politischen Linken:
"Und nachdem sie sich hier zum Teil nicht mit allem einverstanden erklärt hatten, sondern das sprengen wollten, da wurden sie mit brachialen Mitteln zur Bahn getrieben. Und das geschah auch alles, um in letzter Instanz Aufmerksamkeit zu erringen und das Auge von immer mehr Menschen auf eine Bewegung hinzuleiten, die entschlossen war, die deutsche Frage notfalls so oder so zu lösen. Und die vor gar nichts dabei zurückschreckte."
"Das war in Parteiversammlungen üblich, dass zum Beispiel Kommunisten und Sozialdemokraten zu Versammlungen anderer Parteien gingen und dann versuchten zu diskutieren, das war eine andere Art der Freizeitgestaltung, als wir das heute kennen."
Kaum einer hat sich so intensiv mit der NSDAP auseinandergesetzt wie der Historiker Armin Nolzen. Er stellt das Gründungsdatum als solches infrage:
"Die Historiografie übernimmt solche Dinge natürlich auch, sagt dann, der Name wäre dann auch von DAP in NSDAP geändert worden. Das war de facto dann erst ein paar Monate später der Fall. Also Sie haben mit diesen Daten immer das Problem, dass sie gar nicht wissen, was ist sozusagen spätere Parteimythologie und was ist eigentlich gesichert."
In der Wissenschaft finden sich verschiedene Ansätze. Dass die Mitglieder vor allem aus dem Mittelstand gekommen seien. Dass es leicht zu radikalisierende Nichtwähler gewesen seien. Und dass vor allen Dingen Arbeiter und Katholiken immun gegen die Nationalsozialisten gewesen seien. Der Wahl- und Parteienforscher Jürgen Falter beschäftigt sich intensiv mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und rät, vor allem auf die Kosten-Nutzen-Erwägungen jedes Einzelnen zu schauen.
"Und das ist, soweit ich sehen kann, der erklärungsmächtigste Versuch, begreiflich zu machen, warum die NSDAP solche Erfolge hatte. Und das greift natürlich besonders bei den echten Opportunisten, denjenigen, die ab 1933 so millionenfach in die Partei geströmt sind. Obwohl sie nicht, wahrscheinlich nicht 100-prozentig vom Nationalsozialismus überzeugt waren."
Der Historiker Armin Nolzen nennt das Ermöglichungsfunktion:
"Dadurch, dass sie Mitglied sind, können sie, wenn sie jetzt im mittelständischen Handwerk tätig sind, Aufträge der NSDAP bekommen. Und wenn sie nicht Mitglied sind, haben sie eben das Problem, dass sie das nicht können."
"1923 hatte sie etwa 55.000 Mitglieder, das ist sehr wenig im Vergleich zu später, aber im Vergleich zu heutigen Parteien wie der FDP, der Linken, den Grünen, der AfD, da bewegt sich das genau in diesen Größenordnungen. Und das für eine Partei, die noch nie bei Wahlen aufgetreten war, sondern die damals den Umsturz eigentlich suchte. Und dann kam der berühmte Bürgerbräu-Putsch und der Marsch auf die Feldherrenhalle, der dem ganzen Spuk dann erst einmal ein Ende macht."

"Der Putsch an sich ist ja eigentlich eine Operettenaktion, Hitler schießt zweimal in die Decke, naja, man wird dann nachher diesen Propagandamarsch machen. Wird dann auf die Polizei treffen, die auch schießt. Da kommen dann die sogenannten späteren Märtyrer der Bewegung ums Leben, enge Vertraute Hitlers. Und nach diesem Putsch haben wir die so genannte Verbotszeit, die die eigentliche Inkubationszeit der NSDAP-Gründung ist."
Die Partei wurde verboten. Auf den Prozess, der im Frühjahr 1924 vor dem Volksgericht München begann und Hitlers Anklage auf Hochverrat verhandelte, blickte das ganze Reich. Der Richter war milde und gab Hitler Raum, sich vom Angeklagten zum Ankläger zu stilisieren. Die fünf Jahre Festungshaft in Landsberg am Lech wurden ein Jahr später schon aufgehoben. Der Parteienforscher Jürgen Falter:
"Und in dieser Festungshaft hat er "Mein Kampf" geschrieben, hat dann die Partei neu organisiert. Sie wurde 1925 neu gegründet. Und da wurde sie dann tatsächlich ganz allmählich zu dieser sehr schlagkräftigen, sehr modernen Partei, die bürokratisch organisiert war, die genau Buch führte über ihre Mitglieder, die auf den Straßen präsent war mit ständigen Märschen. Und auf diese Weise schaffte es Hitler, zumindest in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden."
Noch mal zwei Jahre später war die Zahl der Arbeitslosen auf sechs Millionen gestiegen. Mindestens. Die Verzweiflung sei imminent gewesen:
"Verdoppelt sich die NSDAP nochmals auf 37,3 Prozent. Ja, und dann dauert es ja nur noch ein halbes Jahr bis zur Machtergreifung, wo Hitler zum Reichskanzler ernannt wird. Dann hat er fast alle Machtmittel in der Hand, dann hört die Demokratie auf und die NSDAP wird im Laufe der Jahre zu einer Partei mit fast zehn Millionen Mitgliedern."
Sagt der Historiker Armin Nolzen. Gegen Kriegsende seien zwei Drittel aller Deutschen Mitglied in der NSDAP oder einer ihrer vielen Nebenorganisationen und Verbände gewesen: zum Beispiel im Deutschen Frauenwerk oder in der Deutschen Arbeitsfront, aber auch in ihren Gliederungen wie in der SA, SS oder der Hitlerjugend.
Konnte man sich ihrem Einfluss überhaupt entziehen? Zum Eintritt gezwungen worden, sei keiner, vielleicht intensiv gedrängt, sagt der Politikwissenschaftler Jürgen Falter, letztlich aber sei es immer freiwillig geschehen:
"Die wollten ja nicht die vielen Opportunisten, sondern die wollten eigentlich überzeugte Nationalsozialisten. Und wenn sie nicht ganz überzeugt waren, sollten sie zu überzeugten Nationalsozialisten erzogen werden."
Der Historiker Armin Nolzen geht davon aus, dass ein Großteil der Mitglieder Parteileichen gewesen seien, die nur ihren Mitgliedsbeitrag zahlten und darauf hofften, beruflich zu profitieren. Aber so einfach sei das auch nicht gewesen, da waren die ständigen Parteiveranstaltungen:
"Wenn Sie jetzt in einem kleinen Ort wohnen und der örtliche Metzgermeister und Mitglied der NSDAP sind, können sie schlecht bei den Parteiversammlungen fehlen, weil das auffällig ist."

"Die Mitgliedschaft als solches war dann weniger relevant, sagen wir mal. Und dann kam das Problem, dass man gewissermaßen diese Mitgliedschaften angefangen hat, zu erforschen. Und da geschieht natürlich dasselbe. In der historischen Forschung, in der frühen, sind die Mitgliedschaften deshalb heruntergespielt worden, weil viele der Forscher, die diese Erforschung geleistet haben, selbst Mitglied der NSDAP waren oder Verwandte hatten, die in der NSDAP waren oder deren Institutionen kontaminiert waren mit NSDAP-Mitgliedschaften."
"Es handelt sich um einen bedauerlichen Ausrutscher. Möglicherweise um etwas Unverzeihliches. Aber nicht um den Normbruch, den wir mit dem Nationalsozialismus verbinden."
"Sondern dass hier sehr viele, die unzufrieden sind mit der Europapolitik, mit der Flüchtlingspolitik, dass die hier erstmals eine Alternative sehen im Parteiensystem, die gewisse Erfolgsaussichten hat, die nicht vollständig belastet ist durch den Rechtsextremismus. Und insofern kann man sie tatsächlich dann auch wieder vergleichen mit dem Nationalsozialismus, denn der hat ja auch nicht nur Rechtsextreme angezogen, sondern solche, die unzufrieden waren, die Angst gehabt haben vor Entwicklungen. Und insofern muss man sagen, muss man es genau beobachten."