Freitag, 19. April 2024

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Grünen-Politiker Ströbele
Dass Gauland Alterspräsident wird, "gönne ich ihm überhaupt nicht"

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele verzichtet auf eine weitere Kandidatur für den Bundestag, wie er diese Woche erklärte. Im Deutschlandfunk sagte der 77-Jährige nun, es ärgere ihn, dass dadurch der AfD-Politiker Alexander Gauland Alterspräsident des Bundestages werden könnte. Doch dieser Umstand reiche für ihn nicht aus, seine Entscheidung zu revidieren.

Hans-Christian Ströbele im Gespräch mit Nadine Lindner | 18.12.2016
    Der Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Hans-Christian Ströbele, spricht am 12.05.2016 im Plenarsaal des Bundestages in Berlin im Rahmen der Debatte zur Streichung des Paragrafen 103 zu den Abgeordneten.
    "Auch jetzt ist die Situation so, dass ich manchmal denke: 'Ach, würdest du eigentlich gerne weiter mitmischen'", sagte der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele im Interview der Woche des DLF. (picture alliance / dpa - Rainer Jensen)
    Er habe lange darüber nachgedacht, ob er ausscheiden oder weiter machen wolle, erklärte Ströbele. Mit Blick auf eine mögliche schwarz-grüne Koalition im Bund sagte er, hätte es nur diese Perspektive gegeben, wäre es ihm "viel leichter gefallen, Ade zu sagen". Man müsse aber erst einmal abwarten, wie die Wahl im kommenden Jahr ausgehe. "Ich mache überhaupt keinen Hehl daraus, dass ich eine Koalition auf Bundesebene mit der Union nicht für richtig halte aus politischen Gründen."
    Sicherheitslage in Afghanistan so schlecht wie nie
    Die Abschiebung von 34 Flüchtlingen am vergangenen Mittwoch beurteilte Ströbele als "falsch" und "inhuman". Angesichts der Entwicklung in Afghanistan fühle er sich in seiner Kritik am militärischen Engagement der Bundeswehr in diesem Land bestätigt. "Man muss sehen, wir sind jetzt in einer Situation, wo die Sicherheitslage in Afghanistan so schlecht ist wie nie, nie vorher", so der Grünen-Politiker. Und es gebe "nicht den geringsten Anlass" zu hoffen, "dass das in den nächsten Jahren besser wird, sondern es wird weiter schlechter werden".

    Das vollständige Interview:
    Nadine Lindner: Seit dieser Woche steht fest, dass Sie dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören werden. Was ich mich gefragt habe: Sind Sie denn erleichtert darüber, dass Sie es nicht mehr mit einer möglichen schwarz-grünen Bundesregierung dann zu tun bekommen?
    Hans-Christian Ströbele: Also, wenn ich diese Perspektive nur gehabt hätte, dann wäre es mir viel leichter gefallen, Ade zu sagen und nicht nochmal in den Bundestag einzurücken. Aber das ist ja nun noch völlig offen und wir wollen mal gucken, wie die Wahl ausgeht. Und ich bin der Auffassung natürlich, dass eine andere Koalition viel, viel besser wäre.
    "Ich habe lange hin und her überlegt"
    Lindner: Welche Gründe haben denn dazu geführt, dass Sie sich dagegen entschieden haben, dem nächsten Bundestag anzugehören?
    Ströbele: Das ist der tägliche Stress, der in den Sitzungswochen da ist. Und ich bin nun 77 Jahre alt, man merkt das. Alles geht ein bisschen langsamer, alles ist schwieriger. Und wenn das zehn, zwölf, manchmal 15, 16 Stunden am Tag hintereinander sind, wo man da Termine hat, Sitzungen, dann merke ich, ich bin ziemlich fertig. Aber ich habe lange hin und her überlegt und immer versucht, das Eine gegen das Andere abzuwägen. Auch jetzt ist die Situation so, dass ich manchmal denke: 'Ach, würdest du eigentlich gerne weiter mitmischen', aber auf der anderen Seite sagt mir auch mein Körper immer wieder, 'doch ein bisschen langsamer treten.'
    Lindner: Da haben Sie also was gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ja auch gesagt hat in der Abwägung ihrer erneuten Kandidatur, dass sie "unendlich viel nachgedacht" habe, ob sie nochmal antritt oder nicht. Gab es denn Druck oder gab es denn Wünsche aus Ihrem Wahlkreis, dass Sie bleiben, dass Sie im Bundestag bleiben, das Mandat weiter ausüben oder ist Ihnen da eher Verständnis dann entgegengeschlagen?
    Ströbele: Also, ich bekomme natürlich viele Meldungen, Rückmeldungen überhaupt zu dem, was ich mache politisch. An sich, die Leute, die mich angesprochen haben – und die kann ich schon lange nicht mehr zählen –, die haben alle gesagt in den letzten Monaten, als sowas diskutiert wurde: 'Auf jeden Fall, Du musst weitermachen.' Und dann kam die Geschichte mit Herrn Gauland, dem AfD-Vorsitzenden von Brandenburg, dass der möglicherweise Ältester wird.
    Lindner: Und damit auch Alterspräsident des Bundestages in dieser Funktion.
    Ströbele: Und den Bundestag eröffnet – das gönne ich ihm überhaupt nicht und finde ich auch nicht gut. Aber das alleine reicht nicht, da vier Jahre weiter im Bundestag zu bleiben.
    Lindner: Lassen Sie uns einen kleinen Ton hören aus Ihrer Fraktion, von Britta Haßelmann, der parlamentarischen Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Bundestag, mit der Sie ja immerhin zwölf Jahre auch politische Weggefährten waren.
    Britta Haßelmann: "Ich kann mir das gerade noch gar nicht so richtig vorstellen. Denn für mich gehört Hans-Christian Ströbele so sehr zu dieser Bundestagsfraktion der Grünen, ins Parlament hier."
    Lindner: Das sind ja auch wehmütige Töne, die da durchaus aus der Fraktion kommen, obwohl Sie ja da auch eine solitäre Rolle gespielt haben. Sie waren der einzige Abgeordnete in der Grünen Bundestagsfraktion mit Direktmandat, von dem Sie immer gesagt haben, das hat Ihnen politische Freiheiten gegeben, auch mal Ihrer Fraktion – ja – gehörig auf die Nerven zu gehen.
    Ströbele: Das ist völlig richtig. Also, es gab tatsächlich auch mal Situationen, wo ich alleine auch ganz anders gestimmt habe. Aber der Eindruck von außen, der täuscht etwas. Es ist überhaupt nicht so, dass ich da irgendwie ausgegrenzt bin oder in einer Schmollecke sitze. Inzwischen kommt es so dicke, dass ich denke: 'Also, das bin ich doch eigentlich gar nicht.'
    Lindner: Wie meinen Sie "dicke"?
    Ströbele: Wie da dauernd gelobt wird und die Lobeshymnen. Die Einzige, die mich nicht enttäuscht hat in dieser Hinsicht, war die "Bild"-Zeitung. Die hat ausdrücklich einen Artikel geschrieben über meine Fehler, nur haben sie dabei die falschen Sachen erwischt, einfach Unwahrheiten oder Halbwahrheiten berichtet. Aber da konnte man sich drauf verlassen und ich hätte gar nicht gewusst, wie ich hätte reagieren sollen, wenn die was Positives über mich geschrieben hätten.
    Lindner: Das hätte Sie dann verunsichert oder skeptisch gemacht?
    Ströbele: Das hätte mich echt verunsichert. Ich war ja immer ein heftiger Vertreter der Anti-Springer-Kampagne der 60er-Jahre.
    Lindner: Sie haben eben über Fehler gesprochen – möglicherweise meinen Sie damit auch die Verurteilung wegen Beihilfe zu einem Informationssystem der RAF. Sie haben ja in Ihrer Vergangenheit RAF-Terroristen verteidigt, unter anderem Andreas Baader, aber auch andere. Diese Verurteilung wird Ihnen ja bis heute auch vorgehalten, unter anderem von Arnold Vaatz, der noch in diesem Jahr es kritisch angemerkt hat, dass Sie wegen diesen Taten auch rechtskräftig verurteilt wurden. War Ihnen das denn eine Bürde in Ihrer parlamentarischen Karriere, diese Vergangenheit als RAF-Anwalt?
    Ströbele: Also, erstens hat der Mann leider keine Ahnung, von was er da redet. Ich habe damals in der Tat nicht nur Andreas Baader, sondern alle damaligen Angehörigen der RAF, also der ersten Generation, verteidigt als Anwalt. Ich bin dann selber auch inhaftiert gewesen für fünf Wochen, in Untersuchungshaft, und bin zweieinhalb Jahre später auch verurteilt worden, das stimmt. Aber ich halte bis heute diese Verurteilung nicht für gerecht – das muss man auch nicht, man muss damit leben. Es war ja eine Bewährungsstrafe, die ist dann auch irgendwann gestrichen worden. Das hat mich am Anfang im Bundestag ganz schön belästigt. Weil als ich zum ersten Mal im Bundestag war – das war von 1985 bis '87 –, da wurde mir das ständig vorgehalten. Wenn ich ans Rednerpult ging, wegen irgendeiner Geschichte – Roma und Sinti rehabilitieren oder so was –, kamen die Zwischenrufe aus der CDU, "der Vorbestrafte", "der Straftäter" und so. Und das war nicht immer angenehm. Aber damit musste ich leben.
    "Ich halte eine Koalition auf Bundesebene mit der Union nicht für richtig"
    Lindner: Ich würde gerne nochmal auf diesen Punkt Schwarz-Grün zurückkommen, da sind Sie mir nämlich eben so ein bisschen entwischt. Es ist ja auch eine der großen Debatten, die derzeit in Ihrer Partei auch geführt wird: Wohin steuert die Partei? Die Grünen koalieren zumindest auf Landesebene in so vielen verschiedenen Konstellationen, dass man sie ja eigentlich kaum aufzählen kann, wenn wir jetzt die Zeit dieses Interviews halbwegs einhalten wollen. Glauben Sie denn, dass diese Aussicht auf Schwarz-Grün eher Ansporn oder eher Bürde ist für Ihre Partei, auch für das anstehende Wahljahr?
    Ströbele: Die Diskussion ist dringend erforderlich. Wobei wir so ein Prinzip haben, an dem ich auch sehr hänge, weil ich auch nicht wollte, dass andere Landesverbände sich in Berlin einmischen: Die Landesverbände entscheiden alleine, was sie dort machen, die Mitglieder. Das respektiere ich natürlich. Aber ich mache überhaupt keinen Hehl daraus, dass ich eine Koalition auf Bundesebene mit der Union nicht für richtig halte aus politischen Gründen. Da gibt es auch nette Leute – ich unterhalte mich ja auch mit vielen. Es gibt sogar welche, die kommen nach Entscheidungen über Krieg und Frieden und weitere Kriegsbeteiligung in Afghanistan anschließend zu mir und sagen: 'Herr Ströbele, Sie haben ja Recht', auch aus der Union. Aber insgesamt passt das nicht zusammen, da sind einfach politisch ganz gravierende Unterschiede. Und ich befürchte, wenn man in so eine Koalition geht, dass das auch Auswirkungen auf die Programmatik und die Vorstellung der Grünen haben wird. Das ist immer so gewesen, es war auch bei der Koalition mit der SPD so.
    Lindner: Dann gehe ich an diesem Punkt gleich weiter. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz im November in Münster hat unter anderem der baden-württembergische Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, dazu aufgerufen, seine Partei dürfe sich nicht ergehen in zu viel Political Correctness, also dass heißt, politischer Korrektheit, die notwendige Debatten dann möglicherweise erdrückt. Wie viel von Kretschmann, wie viel von diesen Positionen vertragen denn die Grünen eigentlich, ohne ihre Ursprünge zu verlieren, ihre Identität?
    Ströbele: Wissen Sie, über mich haben sich ja schon viele – auch Grüne –, aufgeregt, auch welche, die in Positionen waren. Der damalige Außenminister Fischer, mit dem hatte ich heftige Kontroversen, er hat viele Sachen ganz anders gesehen. Aber an der rot-grünen Koalition damals wollten wir beide festhalten, das haben wir gemeinsam gemacht. Und so geht es mir auch. Ich finde manchmal Positionen, die aus Baden-Württemberg kommen, von dem Ministerpräsidenten, nicht gut oder nicht richtig und sage ihm das auch, wir haben dann auch anschließend telefoniert. Das gehört doch dazu. Also, dass ich kritisiere, gehört dazu und dass er eine andere Auffassung hat auch. Also, da bin ich ihm nicht böse und ich hoffe, er ist mir auch nicht böse.
    Abschiebung von 34 Flüchtlingen hält Ströbele "absolut für falsch"
    Lindner: Also, es heißt, Sie nehmen das dann halbwegs cool zur Kenntnis?
    Ströbele: Ja, ich nehme das cool. Aber ich nehme das nicht einfach hin und sage: 'Na ja, mach mal so weiter', sondern ziehe auch Schlussfolgerungen und sage: 'Ich vertrete jetzt eine andere Auffassung.' Nehmen wir zum Beispiel jetzt diese ganze aktuelle Geschichte mit den Flüchtlingen. Also, dass jetzt Flüchtlinge abgeschoben werden, wie wir das vor wenigen Tagen jetzt erlebt haben.
    Lindner: Das waren am Mittwoch dieser Woche 34 Flüchtlinge.
    Ströbele: Ja, nach Afghanistan. Das halte ich absolut für falsch und auch für inhuman und für nicht menschlich. Und leider macht da, glaube ich, Baden-Württemberg auch mit. Es sollen jetzt da – was ich jetzt gehört habe, ich lebe da ja nicht – auch Proteste sich gerührt haben, gerade auch in der Partei und in der Fraktion. Ich kann nur hoffen, dass wir da bei unserem Kurs bleiben, der eigentlich fast zu den Gründungsüberlegungen der Grünen gehört, dass wir für eine ganz klare akzeptierende Asylgewährung sind.
    Lindner: Die Grünen regieren ja mittlerweile in elf Landesregierungen mit. Das heißt, dieses Spannungsfeld, gerade bei dem Thema Abschiebung, die ja von den Ländern organisiert und durchgeführt werden, die haben sie ja nicht nur in Baden-Württemberg, das hat sich ja jetzt auch in Nordrhein-Westfalen gezeigt, wo die flüchtlingspolitische Sprecherin von ihrem Amt zurückgetreten ist genau wegen dieser Abschiebungen. Wie kann denn diese Partei dann in der Regierung handeln, das auch durchführen, und auf der anderen Seite die – wie Sie sie nennen – akzeptierende Flüchtlingspolitik trotzdem noch beibehalten? Ab wann wird das denn dann nur noch Position, vielleicht Bundesfolklore?
    Ströbele: Ja, das darf natürlich überhaupt nicht sein. Man muss mindestens auch den Eindruck haben, dass die Koalitionspartner in den verschiedenen Bundesländern alles – also jetzt die grünen Koalitionspartner – dafür tun, unsere humane Politik auch umzusetzen dort. Das kann im Einzelfall möglicherweise mit der Koalitionsfrage ganz schwierig sein. Aber ich glaube, da sollte es auch Grenzen geben, also, wo wir Positionen zur Disposition stellen, wenigstens zeitweise, das kann nicht sein. Und da werden sicher auch Fehler gemacht, die muss man dann versuchen, zu korrigieren. Es darf nicht dazu führen, dass die Grünen in dieser ganz zentralen auch Gründungsfrage ihre Ideale aufgeben.
    Lindner: Was konkret erwarten Sie da? So einen Kurs, wie jetzt die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin postuliert hat, Abschiebungen weitestgehend auszusetzen oder wie sollte das Ihrer Ansicht nach dann konkret aussehen?
    Ströbele: Ganz genau. Wir müssen diese akzeptierende Flüchtlingspolitik ... Es geht ja nicht nur um Asylbewerber, auch Leute, die nicht direkt politisch verfolgt sind, müssen meiner Ansicht nach die Möglichkeit haben, hier in Deutschland sich anzusiedeln, hier einen Arbeitsplatz zu suchen. Und da ist in der Tat hier mein Landesverband und auch die Koalitionsvereinbarung, die jetzt abgeschlossen wurde, vielleicht sogar ein bisschen vorbildlich. Ich hoffe, sie halten das durch. Die fangen jetzt erstmal an, die müssen das jetzt auch alles ausprobieren, was können wir machen, was geht, was nicht geht. Wobei hier in Berlin natürlich die Situation noch ein bisschen komfortabler ist, auch für grüne Grundideen. Weil ich auch den Eindruck habe, eine SPD, die 21 Prozent bei Wahlen bekommen hat, die ist dann auch ein bisschen einfacher zu handeln als das noch bei Rot-Grün, bei der rot-grünen Koalition 1989 der Fall war. Da habe ich ja eine Koalition mitgeschmiedet hier in Berlin, und da war das schon sehr schwierig mit Walter Momper und einer starken SPD.
    "Die Sicherheitslage in Afghanistan ist so schlecht wie nie, nie vorher"
    Lindner: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche. Und zu Gast ist heute der grüne Abgeordnete Hans-Christian Ströbele, Mitglied im Deutschen Bundestag, Mitglied im Rechtsausschuss und Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium für die Nachrichtendienste des Bundes. Sie haben eben das Stichwort Afghanistan schon genannt. Wir haben über die afghanischen Flüchtlinge in Deutschland gesprochen. Diese Woche hat es auch den Deutschen Bundestag beschäftigt, da wurde über die Fortsetzung an der Beteiligung am NATO-geführten Einsatz Resolute Support abgestimmt. Und Sie haben im Plenum dann nochmal die Gelegenheit genutzt, um Ihrem Ärger ein bisschen Luft zu machen – "Sie haben zutreffend darauf hingewiesen, dass vor 15 Jahren der Deutsche Bundestag diesen Einsatz beschlossen hat, gegen meine Auffassung. Das ist heute die letzte Möglichkeit für mich, gegen den Afghanistan-Einsatz im Deutschen Bundestag abzustimmen." Angesichts der Entwicklung im Land Afghanistan, angesichts der schwierigen Sicherheitslage, fühlen Sie sich denn mit Ihrer 15 Jahre währenden Kritik an diesem militärischen Engagement jetzt bestätigt?
    Ströbele: Ja, leider. Leider. Es ist ganz schrecklich. Weil man muss ja sehen, wir sind jetzt in einer Situation, wo die Sicherheitslage in Afghanistan so schlecht ist wie nie, nie vorher. Die Zahl der Opfer geht in die Tausende. Und es gibt nicht den geringsten Anlass, dass das in den nächsten Jahren besser wird, sondern es wird weiter schlechter werden. Und wenn Leute jetzt sagen: Damals gingen noch nicht so viele Mädchen zur Schule, damals gab es noch nicht so eine gute Gesundheitsversorgung wie heute – erstens ist sie nicht so in weiten Teilen des Landes und zweitens muss man bedenken, es sind wahrscheinlich an die hunderttausend Menschen in diesem Krieg gestorben. Und das ist ein Preis, da kann man nur sagen: Das war falsch! Das hat gezeigt, Kriegseinstätze sind kontraproduktiv, sind schlimm, haben langfristig schreckliche Konsequenzen für die Völker.
    Lindner: Sie haben in Ihrem Zwischenruf an Herrn Klingbeil auch der Bundesregierung Untätigkeit vorgeworfen, auch dem Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier von der SPD Untätigkeit vorgeworfen. Was konkret muss sich denn jetzt ändern und was konkret muss die Bundesregierung jetzt tun, um diese Situation zu verändern, Ihrer Ansicht nach?
    Ströbele: Also, als Erstes muss Sie begreifen, ein "weiter so" darf es nicht geben. Und das Zweite ist, ich war selber – vor drei Jahren war das – in Afghanistan, ich habe mit Vielen dort gesprochen, auch übrigens mit Taliban, und damals stellte es sich mir so dar, es wäre Verhandlung, es wäre sogar die Aufnahme von Taliban in die Regierung möglich gewesen, man hätte versuchen können, mit den Taliban einen Vertrag auszuhandeln, der auch dazu führt, dass bestimmte Erfolge, in der Entwicklungshilfe zum Beispiel, gewahrt bleiben und dass man vielleicht auch durch kontinuierliche Geldzahlungen erreicht hätte, dass in Zukunft man Einfluss auf die Situation in Afghanistan hat. Diese Chance ist vertan worden. Man hat das nicht einmal versucht. Man hat immer gesagt: 'Der Krieg muss gewonnen werden' und 'wir sind auf einem guten Wege' uns 'es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann schaffen wir das'. Heute behauptet das keiner mehr. Und ich kenne auch keinen, der die These damals des damaligen Verteidigungsministers heute noch für richtig hält: "Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt". Das ist einfach Unsinn gewesen und heute noch viel mehr Unsinn.
    Lindner: Herr Ströbele, lassen Sie uns noch einen Moment bei der Außenpolitik bleiben. Wenn wir uns die Ereignisse dieser Woche anschauen, die diese Woche geprägt haben, da gehören natürlich auch die Ereignisse in der syrischen Stadt Aleppo dazu. In der Vorbereitung ist mir ein altes Zitat von Ihnen in die Hände gefallen, da ging es um die Debatte, ob die Bundeswehr sich an einem Einsatz gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat in Syrien, ob sie sich da beteiligen soll. Linke und Grüne haben damals dieses Vorhaben, das Vorgehen kritisiert und sie haben auch die Verwicklung in einen langen Konflikt befürchtet. Sie haben damals gefragt: "Haben Sie bei Ihrer Entscheidung, ein solches Mandat vorzulegen, die Erfahrungen in Afghanistan und im Irak berücksichtig?" Das war damals Ihre Frage. Sie haben davor gewarnt, die gleichen Fehler zu machen. Angesichts der jetzigen Ereignisse in Aleppo, der Entwicklung des Bürgerkriegs in Syrien, würden Sie das nochmal genauso sehen?
    Ströbele: Ja. Ich betone das sogar. Also, nehmen wir mal an, Herr Trump käme jetzt auf die Idee – was er angekündigt hatte –, da mit eigenen Truppen reinzugehen, dann würde er – so wird das immer wieder dargestellt vom IS – geradezu den Wünschen des IS nachkommen, weil die wollen die direkte Konfrontation mit den Bösen, den Kreuzrittern. Und das kann nicht der richtige Weg sein, sondern man muss versuchen, alle Kräfte, die einigermaßen vernünftig sind ... Und hier hat der Westen meiner Ansicht nach in der letzten Zeit Fehler gemacht. Der Westen hat erstens völlig übersehen, dass der Flächenbrand im Nahen Osten, Irak, Syrien, auch andere Länder, dass der durch den Irakkrieg und durch den Angriffskrieg von der USA, durch Präsident Bush, geradezu hervorgebracht worden ist und dass man alle Erfahrung, die man seither gemacht hat, berücksichtigen muss. Und dabei muss man insbesondere darauf achten, dass man nicht mit den Falschen jetzt im Bunde ist. Und das war zuletzt der Fall. Das ist, glaube ich, bis heute noch der Fall, dass man sich mit dschihadistischen Milizen, die auch in Aleppo sind, die auf der Oppositionsseite sogar die stärkste Kraft gewesen sind bisher – das waren ja nicht die demokratisch Gesinnten, sondern das waren Islamistische, die auch den Islamischen Staat, das Kalifat anstreben, nur eben unter ihrer Führung – verbündet hat und mit denen zusammen versucht hat, diesen Krieg zu führen. Und das haben die Amerikaner schon seinerzeit in Afghanistan falsch gemacht, die ja die Taliban überhaupt erst groß gemacht haben und übrigens auch Al-Qaida, als Sie noch dachten: 'Das sind gute Verbündete von uns'.
    "Ein vernünftiges nachbarschaftliches Verhältnis zu Russland finden"
    Lindner: Wie sollte da in diesem Zusammenhang der Umgang mit Russland aussehen – Verbündeter des Assad-Regimes und auch ein diplomatischer Akteur, bei dem sich einige fragen, ob nicht das einzige Ziel ist, die eigene Machtposition auszubauen und auch das Recht des Stärkeren anzuwenden?
    Ströbele: Also, bei Russland bleibt vor allen Dingen Deutschland, aber auch Europa eigentlich nur die Möglichkeit, ein vernünftiges nachbarschaftliches Verhältnis zu Russland zu finden. Ich glaube, das ist möglich, wenn man es kontinuierlich auch unter Berücksichtigung russischer Interessen will. Jede Konfrontation, gar militärische Konfrontation, wie es ja jetzt ein paar Tage lang als Möglichkeit sogar aussah, ist eine Weltkatastrophe. Das kann nicht der richtige Weg sein, eine militärische Konfrontation mit Russland zu riskieren. Weil wenn es da losgeht, dann bleibt natürlich auch Europa davon nicht verschont. Und das müssen wir auf jeden Fall vermeiden. Ich kann mir vorstellen, wenn man russische Interessen, auch ökonomische Interessen so weit berücksichtigt, dass sich das auch für Russland lohnt, die ja da erhebliche Schwierigkeiten im Augenblick haben, dass man mit ihnen zu vernünftigen Lösungen kommen kann.
    Lindner: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche. Zu Gast ist Hans-Christian Ströbele, Bundestagsabgeordneter der Grünen, Mitglied seit 1998 im Parlamentarischen Kontrollgremium. Und das bringt uns auch zum nächsten Thema: Das Wahljahr 2017 steht vor der Tür. Ein Thema, was gerade auch die deutsche Innenpolitik beschäftigt, das sind die sogenannten Fake-News. Das heißt, das ist eine Beeinflussung des Wahlkampfes von außen durch falsche Informationen, die bewusst oder auch unbewusst verbreitet werden. Wenn man jetzt auf den amerikanischen Wahlkampf zurückschaut, da geht der US-Geheimdienst CIA mittlerweile davon aus, dass russische Hacker diesen Präsidentschaftswahlkampf gezielt gesteuert haben, Informationen von Computern der demokratischen Partei gestohlen haben. Die russische Regierung bestreitet das. Sehen Sie denn ähnliche Gefahren auch auf Deutschland im kommenden Wahljahr zukommen?
    Ströbele: Also, diese Gefahren gab es immer, auch früher, nur dass heute diskrete oder heimliche, geheime Einmischungsmöglichkeiten natürlich viel virulenter geworden sind, viel eher möglich geworden sind durch den IT-Verkehr und die gegenseitige Abhängigkeit auch in diesem Bereich. Aber nach meiner Auffassung – und ich bin ja wirklich in dem Parlamentarischen Kontrollgremium und erfahre da Einiges – ist das bisher ein Stochern im Nebel. Also, man hat Anhaltspunkte – ich will das jetzt und darf das auch gar nicht im Einzelnen erklären –, dass es so oder so gewesen sein könnte, auch der Hacker-Angriff hier auf den Deutschen Bundestag im Frühjahr 2015 soll ja russischen Ursprungs sein. Die Fragen danach, wo sind die Beweise und wieso ist man so sicher, dass das so ist, die sind nach meiner Meinung nicht befriedigend beantwortet worden. Da kann man nur sagen, solche Versuche wird es immer geben, weil natürlich Russland Interesse hat – wie in den USA –, wie geht eine Wahl aus, und so wird das auch in Deutschland, in anderen Ländern sein. Aber dass sie das tatsächlich tun und das eine Wirkung hat, da bin ich noch sehr, sehr skeptisch, da wird jetzt auch sehr viel Angst verbreitet. Ich denke, die Bevölkerung in Deutschland ist – jetzt mal unabhängig von den technischen Möglichkeiten, die es da gibt – Manns und Frau genug, um diese Wahlentscheidung, die da ansteht, vernünftig zu treffen, auch wenn es irgendwelche Indiskretionen geben sollte, wie das in den USA der Fall war. Wobei auch bis heute nicht geklärt ist, ob diese WikiLeaks-Veröffentlichungen von Mails der früheren Außenministerin Clinton, ob die tatsächlich überhaupt über Russland gespielt worden sind oder ob da nicht andere am Werk gewesen sind.
    "Ich habe mich reingelegt gefühlt"
    Lindner: Noch eine Frage zu Ihrer Tätigkeit als parlamentarischer Geheimdienstkontrolleur. Sie haben eben gesagt, da werden vielleicht Dinge überschätzt, da sei auch viel Angst mit im Spiel. Wenn man jetzt zurückblickt, gab es die Tätigkeiten des NSU in Deutschland, es gab auch die Tätigkeiten des amerikanischen Geheimdienstes NSA, auch damals hat man gesagt: 'Oh, das haben wir uns ja gar nicht vorstellen können'. Läuft man da eventuell jetzt wieder in diese gleiche Falle der Naivität? Oder rückblickend gefragt: Haben Sie sich da auch manchmal naiv gefühlt als Geheimdienstkontrolleur?
    Ströbele: Aber sicher. Also, ich habe mich nicht nur naiv gefühlt, ich habe mich reingelegt gefühlt. Ich bin ja auch Mitglied dieses Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sogenannte NSA-/BND-Untersuchungsausschuss. Und was ich da inzwischen aus Akten und von Zeugen gehört habe, das hat mich immer wieder aufstöhnen lassen, weil ich habe gesagt: 'Aber da bin ich doch völlig anders informiert worden.' Ich bin ja belogen worden. Was ich nie für möglich gehalten habe, dass mich führende Mitarbeiter der Bundesregierung in einem solchen Gremium Auge in Auge belügen, mir was Falsches sagen, mir was sagen, was einfach nicht stimmt. Und das ist eine Erfahrung, dass die Kontrolle dieser Geheimdienste verbessert werden muss, dass die Geheimdienste nicht überschätzt werden dürfen. Weil ich habe immer wieder festgestellt, dass selbst wenn es um so gravierende Dinge ging, wie zum Beispiel damals vor dem Irakkrieg, ist Saddam Hussein wirklich im Besitz von biologischen Waffen oder arbeitet er daran, das war alles Humbug. Da hat der Geheimdienst Sachen behauptet, die einfach nicht stimmten, auf der Grundlage einer Informantenangabe, die unzutreffend sind, von denen der Informant heute selber sagt, das hat er sich ausgedacht.
    Lindner: Sollte man sie einfach abschaffen? Abschaffen und neu bauen oder vielleicht gleich ganz abschaffen?
    Ströbele: Ja, das ist der Vorschlag der Grünen, gerade beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Weil der hat ja so eklatant versagt in all den Jahren, in denen der NSU in Deutschland gemordet hat, dass man da doch nicht einfach sagen kann: Wir machen weiter, wir ignorieren das. Man hätte mindestens alle Mitarbeiter, die da versagt haben, von ihrem Posten ablösen müssen. Und wir ziehen daraus den Schluss, dieser Verfassungsschutz, dieser Inlandsgeheimdienst, so, wie er jetzt ist, muss aufgelöst werden und haben ja Vorschläge gemacht, wie das dann weitergehen kann.
    Lindner: Hans-Christian Ströbele war das, im Interview der Woche. Herr Ströbele, vielen Dank für das Gespräch.
    Ströbele: Ja, bitte sehr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.