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Guillermo Arriaga: "Der Wilde"
Die wahre Wildnis ist die Großstadt

Guillermo Arriaga ist Drehbuchautor der Kultfilme "Amores Perros" und "Babel". In dem Roman "Der Wilde" erzählt er autobiografisch vom brutalen Alltag zweier Teenager-Brüder, wie er ihn selbst einst in Mexiko City erlebt hat. Dabei verliert sich die Geschichte von Verrat und Rache zunehmend im Klischee.

Von Holger Heimann | 16.08.2019
Buchcover: Guillermo Arriaga: „Der Wilde“
Arriaga schreibt über den Überlebenskampf in einem Stadtviertel von Mexiko City (Buchcover: Klett-Cotta Verlag, Foto: imago / ZUMA Press)
Der Mexikaner Guillermo Arriaga gilt als einer der interessantesten Erzähler seines Landes. Das hat vor allem mit seiner Arbeit für das Kino zu tun. Die Filmtrilogie des Regisseurs Alejandro González Iñárritu "Amores Perros", "21 Gramm" und "Babel", zu der Arriaga die Drehbücher schrieb, gehört zum Besten, was das Kino seit der Jahrtausendwende zu bieten hat. Es sind Filme, die erbarmungslos mit Schmerz und Tod konfrontieren und menschliche Abgründe ausleuchten. Für Arriaga, der sich selbst in erster Linie als Schriftsteller begreift, gibt es – wie er erzählt – viele Parallelen zwischen der Arbeit an einem Drehbuch und an einem Roman.
"Ich lege in einem Drehbuch ebenso viel Wert auf Sprache und Struktur wie in einem Roman. Der Unterschied hat etwas mit dem Blickwinkel zu tun. Ein Roman, selbst wenn er in der dritten Person geschrieben ist, wird eigentlich immer aus einer Ich-Perspektive erzählt. Beim Kino ist das anders. Das ist die entscheidende Differenz für mich. Aber das Schreiben unterscheidet sich in beiden Fällen nicht voneinander."
Kriminelle Gangs und korrupte Polizisten
In "Der Wilde" blickt ein Ich-Erzähler auf seine schwierige, von Verlusten geprägte Jugend zurück. Juan Guillermo wächst Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre in einem Viertel von Mexiko-City auf, das bestimmt wird durch kriminelle Gangs und korrupte Polizisten. Es ist ein wildes, anarchisches Leben, das sich in den Straßen der Stadt, vor allem aber auf den Dächern der Häuser abspielt. Hoch oben fühlen sich viele derer, die sich irgendwie durchs Leben schlagen, sicherer vor den Polizisten, die im Viertel auf Streife unterwegs sind und jeden Verdächtigen einsammeln, den sie auf der Straße erwischen. Frei kommen die Pechvögel erst dann wieder, wenn sich jemand findet, der genügend Schmiergeld zahlt. Juan Guillermos Idol ist Carlos. Sein älterer Bruder ist ein geschäftstüchtiger Freigeist, der Nietzsche, Borges und Faulkner liest und sein Geld mit der Aufzucht von Chinchillas verdient. Auch dafür bieten die Dächer Platz.
"Carlos hatte immer eine Taschenlampe dabei, um verwilderte Katzen aufzuspüren, die Feinde seines Geschäfts. Die Katzen streckten ihre Klauen zwischen den Gitterstäben hindurch, packten die Chinchillas am Kopf und bissen sie in die Schnauze, um sie zu ersticken. Dann rissen sie sie in Streifen und fraßen sie auf. Hinter einem Hundezwinger versteckte mein Bruder ein rostiges Kaliber-22-Ein-Schuss-Gewehr. Wenn er eine streunende Katze entdeckte, holte er es hervor, zielte auf den Kopf und schoss. Das Zielrohr war nicht sehr präzise, manchmal schlug der Schuss im Bauch ein. Es kam also häufiger vor, dass auf den Stellplätzen sterbende Katzen unter den Autos lagen, mit einem Loch im Bauch und vor Schmerzen wimmernd."
Zu Wilden gemacht
Zimperlich ist in dieser rauen Welt junger, gewaltbreiter Männer keiner. Das Leben im Viertel hat die Heranwachsenden nicht nur zur Härte erzogen, es hat sie gewissermaßen zu Wilden gemacht. Unbewaffnet geht in der Regel niemand aus dem Haus. Die meisten schnallen sich ein Messer an den Unterarm. Für die im Straßenkampf Geübten bedarf es nur einer kurzen Bewegung schon liegt das Messer zum Angriff oder zur Verteidigung bereit in der Hand. Guillermo Arriaga beherrscht die einst erlernte Technik noch heute und führt das mit seinem Essbesteck unaufgefordert vor. Mit dem Namen der Hauptfigur seines Buches verweist er nicht umsonst auf die eigene Biografie.
"Es basiert auf realen Ereignissen, die nie stattgefunden haben. Die Hauptfigur hat viel von mir, kein Zweifel. Ich habe ihm Erfahrungen mitgegeben, die ich gemacht habe. Aber sein Leben ist nicht identisch mit meinem. Was wir teilen sind Erlebnisse, im Spanischen nennen wir es ‚vivencias’."
Schreiben, um zu überleben
Der umtriebige Carlos entdeckt bald, dass es Waren gibt, die mehr Profit abwerfen als die Felle der Chinchillas. Er steigt in den Drogenhandel ein und beliefert schließlich die ganze Umgebung mit Stoff. Doch so gerät er ins Visier der Polizei und einer rechten Verbindung aus jungen militanten Katholiken, die für "Reinheit" sorgen wollen. Aber Carlos ist ein Spieler, den die Gefahr nicht abschreckt, sondern reizt. Sein Bruder soll sich den religiösen Fanatikern rund um ihren Anführer Humberto anschließen, um mehr über deren Absichten zu erfahren. Juan Guillermo lässt sich nur widerstrebend auf den Plan des Älteren ein. Doch schließlich unterzieht er sich nicht nur dem schmerzlichen Aufnahmeritual der gegnerischen Gang, sondern verrät obendrein überraschend bald sogar seinen Bruder, den er eigentlich schützen will, und wird so mitschuldig an dessen Tod. Warum der überaus wache und keineswegs naive 14jährige plötzlich Humberto vertraut, wird nicht plausibel. Die Story, die anfänglich durch lebendige und drastische Milieuschilderungen besticht, rutscht zunehmend ins Plakative und Unglaubwürdige. Womöglich wollte Guillermo Arriaga mit diesem fraglos ambitionierten Roman einfach zu viel auf einmal. Der Autor hat das Buch jedenfalls immer wieder umgearbeitet. Er macht dafür jedoch weder Stoff noch Konstruktion verantwortlich, sondern führt vielmehr andere Erklärungen an:
"Ich habe es achtmal umgeschrieben. Ich denke, dass meine Arbeit mir mein Überleben sichert, also ist es angebracht, dass ich sie so gut wie möglich mache. Zum anderen respektiere ich die Leser. Ich habe gewissermaßen eine Vereinbarung mit ihnen. Sie investieren Zeit und Geld. Ich muss also mein Bestes geben, um das bestmögliche Buch zu schreiben. Diese Anstrengung hat nichts mit dem Stoff des aktuellen Buches zu tun. Für mich hat jedes Buch seine ganz eigene Komplexität. Ich würde nicht von Schwierigkeit sprechen, denn Schreiben ist für mich ein Vergnügen."
Aneinanderkettung von Zufällen
Das mag sein. Aber der Roman leidet ganz offensichtlich daran, dass Arriaga sich nicht darauf beschränken wollte, die abenteuerliche, ungezähmte Welt seiner Kindheit einzufangen. Er erzählt obendrein eine Geschichte von Verrat und später Rache, die so schematisch gerät und mit Unwahrscheinlichkeiten gespickt ist, wie es bei diesem geübten Autor überrascht. Überdies wird die Ich-Erzählung von Beginn an immer wieder durch eine ganz andere Story unterbrochen, die nach Kanada führt und einen Inuit bei seiner manischen Jagd nach einem Wolf begleitet. Arriaga erzählt mithin die Geschichte von Wildheit und Getriebensein noch ein zweites Mal. Er selbst versucht es so zu erklären:
"Als ich begonnen habe, das Buch zu schreiben, hatte ich keine Ahnung, dass die andere Geschichte existiert. Sie kam quasi ganz natürlich zu mir, ich weiß nicht, warum und woher. Ich bin keiner dieser Schriftsteller, der den Verlauf einer Story exakt plant und der genau weiß, wie sie endet. Ich mag es vielmehr, die Geschichte wie ein Leser zu entdecken, so als würde ich ein Buch lesen. Es sieht so aus als wären es zwei Romane, aber man begreift zuletzt, dass es nicht so ist, die zweite Geschichte ist Teil des Romans."
Tatsächlich berühren sich am Ende die beiden Erzählungen. Das wirkt jedoch durch eine Aneinanderkettung von Zufällen eher mühsam konstruiert, erzählerisch überzeugend ist es nicht. Aber um Glaubwürdigkeit geht es in diesem Roman, der so verheißungsvoll beginnt, jedoch im Fortgang immer mehr Schwächen offenbart, zunehmend nur am Rande.
Guillermo Arriaga: "Der Wilde".
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart. 746 Seiten, 26 Euro