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Gumbrecht feiert Aufklärer Diderot
Zurechtkommen mit dem Zufall

Der Enzyklopädist Denis Diderot ist ein unverschämter Aufklärer. Er springt wild durch die Wissensgebiete, nichts ist ihm heilig, nie urteilt er endgültig. Der kalifornische Denker Hans Ulrich Gumbrecht hält genau das für zeitgemäß und feiert Diderot als Intellektuellen der Stunde.

Von Leander Scholz | 06.12.2020
Hans Ulrich Gumbrechtsteht an einem Pult und hält eine Rede.
Thematische Breite von der Literatur des Mittelalters bis zu den großen existenziellen Fragen des 20. Jahrhunderts: Hans Ulrich Gumbrecht (dpa/picture alliance/Rumpenhorst)
Sein Einsatz, diesseits und jenseits der Universität, ist beeindruckend. Hans Ulrich Gumbrecht, Romanist und Literaturwissenschaftler, hat über ein Dutzend Bücher veröffentlicht, an zahlreichen wissenschaftlichen Herausgaben mitgewirkt und eine unglaubliche Anzahl von Artikeln publiziert. Er hat eine Geschichte der spanischen Literatur geschrieben, eine Analyse der Stimmungen zwischen den beiden Weltkriegen vorgelegt, den Versuch unternommen, das Zukunftsdenken im Silicon Valley zu beschreiben, und ein sehr erfolgreiches Buch über die Faszination des Sports verfasst. Die thematische Breite seiner Arbeiten reicht von der Literatur des Mittelalters bis zu den großen existenziellen Fragen des 20. Jahrhunderts. An allen geisteswissenschaftlichen Debatten der vergangenen Jahrzehnte war Hans Ulrich Gumbrecht beteiligt. Mit vielen intellektuellen Akteuren, insbesondere den französischen, stand er in engem Kontakt. Und auch heute noch gehört seine Stimme zu den wenigen intellektuellen Positionen, die jenseits der Universität wahrgenommen werden und Einfluss haben.
Bei dieser Leistung drängt sich die Frage auf, wie das zu schaffen ist. Eine erste Antwort findet sich in seiner Biographie. Geboren 1948 in Würzburg, wurde Hans Ulrich Gumbrecht nach seinem Studium der Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München und Regensburg mit 26 Jahren Professor in Bochum. Promoviert wurde er bei Hans Robert Jauß, ebenfalls Romanist und Literaturwissenschaftler. Später wechselte Gumbrecht nach Siegen und schließlich nach Stanford an die nordamerikanische Westküste, wo er bis 2018 Komparatistik lehrte. Dazu kamen zahlreiche Gastprofessuren, die ihn wieder nach Deutschland und Europa führten, aber auch nach Südamerika, Afrika und Ostasien. Allein mit der Rolle des Hochschullehrers hat er sich jedoch nie zufriedengegeben. Neben etlichen öffentlichen Auftritten hat er immer auch Analysen der Gegenwart verfasst, die ihn als einen engagierten Zeitgenossen ausweisen.
Das einsame Individuum
Nun sind in diesem Herbst gleich zwei Bände von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen, eine Übersetzung und eine Monographie, die den Blick in die Vergangenheit richten, um der Gegenwart und ihren Problemen beizukommen. Bei dem ersten Band handelt es sich um eine Neuübersetzung des "Handorakels" von Baltasar Gracián aus dem Jahr 1647. Dieses Buch besteht aus 300 Aphorismen, in denen meist ganz handfeste Ratschläge zur Lebensführung erteilt werden. Manchmal enthalten sie aber auch rätselhafte Weisheiten, die zur Interpretation herausfordern. Seit der Antike gibt es solche Bücher, die Maximen der praktischen Klugheit mit Einsichten einer übergeordneten Weisheit zusammenbringen. Sie stellen die historischen Vorläufer der heutigen Ratgeberliteratur dar. Das "Handorakel" von Gracián war für das höfische Leben im 17. Jahrhundert gedacht. Es sollte stets zur Hand sein und wie ein Orakel um Rat gefragt werden können. Der vollständige Titel lautet: "Handorakel und Kunst der Weltklugheit".
Buchcover: Baltasar Gracián: „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“
Von Hans Ulrich Gumbrecht neu übersetzt: Baltasar Graciáns: „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ aus dem Jahr 1647 (Buchcover: Reclam Verlag)
Die Karriere des unter einem Pseudonym publizierten Buchs begann sofort nach seinem Erscheinen. Vor allem an den europäischen Machtzentren wurde es intensiv rezipiert. Höflinge und Günstlinge, aber auch Fürsten und Könige konnten darin Empfehlungen finden, wann es klug ist, die eigenen Absichten offenzulegen oder doch besser zu verbergen. Da diese Ratschläge von einer Ethik der Selbstbehauptung getragen wurden, hatte auch die spätere Aufklärung ein großes Interesse an der Konzeption einer Lebensführung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Aber selbst bis ins 20. Jahrhundert hinein gab es immer wieder Phasen einer umfassenden Rezeption, gerade weil das "Handorakel" viele dunkle Passagen aufweist, die womöglich Aufschluss über die Genese des modernen europäischen Individuums geben können. Für den deutschen Sprachraum galt bislang die Übersetzung von Arthur Schopenhauer als maßgeblich, obwohl hier viele sperrige Formulierungen für eine eingängigere Lektüre vereinfacht wurden. Genau diesen Umstand und die Wiederherstellung der ursprünglichen Unverständlichkeit benennt Gumbrecht als Motiv für seine Neuübersetzung:
"Anders als Arthur Schopenhauers großartige Übersetzung des Handorakels aus dem Jahr 1832, die bei aller gesuchten Nähe zum spanischen Original dessen Unklarheiten und sprachlichen Unebenheiten meist paraphrasierend glättet, ist meine neue Übertragung an dem Ziel ausgerichtet, die individuell und historisch besonderen Formen von Graciáns Sprache als eine Spur des Denkens so weit als möglich im deutschen Text zu erhalten. Dies gilt für die den Denkrhythmus unterstreichende Interpunktion; für syntaktische Verschiebungen, die auch im Spanischen des 17. Jahrhunderts exzentrisch wirken mussten; […] und schließt in ihrer Bedeutung trotz aller Verstehensbemühung unklare Passagen ein, welche selbst im Original nicht zu eindeutigen Sinnstrukturen zu führen scheinen."
Baltasar Gracián lebte von 1601 bis 1658 und war ein spanischer Jesuit, der als Prediger und Theologe an verschiedenen Ordenskollegien und am Hof von Madrid wirkte. Zu seinen Lebzeiten ist unter seinem echten Namen nur ein einziges Buch erschienen, das sich der religiösen Erbauung widmete und auf nur wenig Interesse stieß. Das "Handorakel" hingegen, das bis heute immer wieder Faszination hervorruft, ist nicht mehr durch die christliche Ethik geprägt und gehört zu den wenigen frühen Texten, in denen ein einsames Individuum vorgestellt wird, das nur sich selbst verpflichtet ist und dennoch versucht, moralisch zu handeln. Den Hintergrund für dieses neue Phänomen bilden die historischen Umbrüche von Reformation und Gegenreformation. Der Übergang in eine neue, noch nicht absehbare Ordnung war die eigentliche Aufgabe, vor der Gracián stand. Da dem Jesuitenorden seine Versuche in diese Richtung zuletzt zu weit gingen, erhielt er wenige Jahre vor seinem Tod doch noch Publikationsverbot.
Die Verunsicherung der Welt
Warum trotz der historischen Distanz das "Handorakel" auch heute noch gelesen werden sollte, erläutert Gumbrecht im Nachwort zu seiner Übersetzung. Im Unterschied zur Ethik der späteren Aufklärung gibt es für Gracián kaum allgemeine Regeln, an denen sich Halt finden lässt. Was in der Welt geschieht, verweist nicht auf eine höhere Ordnung. Es gibt nur Situationen und Zufälle. Unter diesen widrigen Umständen kommt es darauf an, genau zu beobachten und Schlüsse zu ziehen. Viele Aphorismen drehen sich daher um die Frage, wie sich durch geschicktes Reden und Handeln auch ohne Vertrauen in eine gerechte Ordnung wenigstens ein Minimum an Autonomie herstellen lässt. Um nicht Opfer der kontingenten Umstände zu werden, bedarf es neben der Beobachtung von Welt einer stets mitlaufenden Selbstbeobachtung. Für Gumbrecht ist es keine Frage, dass wir heute in einer ähnlichen Situation des Übergangs leben:
"In den meisten Berufen und mehr noch in den wachsenden Freizeitspannen der Gegenwart steht das moderne Subjekt deshalb nicht mehr als Beobachter einer wahrgenommenen Welt der Dinge gegenüber, sondern geht eine immer engere Fusion mit überbordenden Flüssen von Information und der Software als ihrer Matrix ein. Aus dem in den 1970er und 80er Jahren zunächst als befreiend empfundenen Eindruck, die Welt ergebe sich aus einer Vielfalt ‚sozialer Konstruktionen‘, ist so die permanente Schwierigkeit geworden, zwischen Information und Tatsachen, zwischen Fake News und News zu unterscheiden, eine Schwierigkeit, auf die wir mit Sehnsucht nach unmittelbarem Erleben der Dinge und nach Verbindlichkeit von Werten oder Orientierungen reagieren."
Durch die Digitalisierung und Fragmentierung der Öffentlichkeit sind eingeübte Orientierungen verloren gegangen. Die Welt ist komplexer geworden. Viele fühlen sich überfordert und wünschen sich eine unumstößliche Eindeutigkeit bei moralischen Urteilen und der Fixierung von Feindbildern. Die Unfähigkeit, mit der neuen Komplexität umzugehen, befördert eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Fest gefügte Identitäten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Dagegen plädiert Gumbrecht mit dem "Handorakel" für ein Denken, das sich von der Sehnsucht nach einer verlässlichen Ordnung lossagt. Um sowohl den Sog einer unterkomplexen "politischen Korrektheit" als auch die Gefahren eines vereinfachenden "Populismus" zu vermeiden, soll das "Handorakel" zum Umgang mit der Unübersichtlichkeit anleiten. Dazu leistet die Neuübersetzung von Gumbrecht einen beeindruckenden Beitrag. Denn in sprachlicher Hinsicht ist das "Handorakel" dadurch noch einmal deutlich anspruchsvoller geworden.
Die Materialität des Denkens
Auch der zweite Band von Hans Ulrich Gumbrecht kreist um einen ähnlich gelagerten Problemkomplex. Es ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit Denis Diderot, dem Philosophen, Schriftsteller, Kunstkritiker und Enzyklopädisten aus dem 18. Jahrhundert. Auch hier steht der Umgang mit Kontingenz im Mittelpunkt der Überlegungen. Durch seine unermüdliche Arbeit an der berühmten Enzyklopädie ist Diderot mit einem der wichtigsten Projekte der Aufklärung unzertrennlich verbunden. Aber Gumbrecht geht es gerade um die Aspekte seines Werks, die ihn von der Aufklärung und ihrer Suche nach allgemeinen Regeln unterscheiden. Für Gumbrecht ist er ein Autor, dessen Denkbewegungen ebenso schwer zu fassen sind wie im Fall von Baltasar Gracián. Während sich Gumbrecht dem unsystematischen Denken von Gracián durch eine Übersetzung genähert hat, zeichnet er bei Diderot anhand einzelner Texte dessen periphere Gedankengänge nach, die ohne ein ordnendes Zentrum auskommen. Im Gegensatz zu anderen berühmten Aufklärern liefern sie keine prägnanten Schlüsselbegriffe, wie Gumbrecht ausführt:
"Voltaire und Rousseau werden mit bestimmten Schlüsselbegriffen ihres Werkes assoziiert, mit ihrer ersten Resonanz in der Gesellschaft – und selbst mit der späteren Umwandlung dieser Bedeutungen wie auch der ihnen zugrunde liegenden Werte in gesellschaftliche und politische Realitäten. Im Gegensatz dazu und vielleicht aus Mangel an Begriffen und Werten, die man hätte kanonisieren können, erfährt Diderot hauptsächlich – wenn nicht sogar ausschließlich – Anerkennung wegen seiner logistischen Leistung bei der Herausgabe der Encyclopédie, während Voltaire für die Öffentlichkeit steht, an deren Entstehung er […] so entscheidenden Anteil hatte, und Rousseau seit den ‚radikalen‘ Momenten der Französischen Revolution als Verfechter der Gleichheit gilt."
Was auf den ersten Blick wie ein Mangel erscheinen könnte, ist für Gumbrecht eine Auszeichnung. Da die berühmten Texte der großen Autoren meist durch starke Begriffe geprägt sind, wird dadurch auch festgelegt, was in den Blick kommen kann und was nicht. Den philosophischen Dialogen, die Diderot mit so großer Leidenschaft geschrieben hat, fehlt diese Bindekraft. Aber genau dieses Fehlen ermöglicht es ihnen, bedingungslos offen gegenüber der Situation und dem Zufall zu sein, wie Gumbrecht in seiner Analyse aufzeigt. Scheinbar nebensächliche Details können plötzlich unglaublich wichtig werden. Die Lebenslage der Sprechenden kann auf einmal gleichbedeutend sein mit dem, was sie sagen. Wie das Handeln geschieht auch das Denken auf einer Bühne, die mit zahllosen Kleinigkeiten vollgestellt ist, aber von denen niemand vorab wissen kann, ob sie wichtig sind oder noch einmal werden können oder aber auch nicht.
Buchcover: Hans Ulrich Gumbrecht: "Prosa der Welt. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung"
Das Ergebnis eines widerständiges Projekts - Hans Ulrich Gumbrechts: "Prosa der Welt. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung" (Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Seine Auseinandersetzung mit Diderot hat Gumbrecht unter den Titel einer "Prosa der Welt" gestellt. Damit ist nicht nur gemeint, dass die philosophischen Dialoge oft in eine ausgeprägte Rahmenhandlung eingebettet und stilistisch überaus kunstvoll ausgearbeitet sind. Unter Prosa versteht Gumbrecht die Art und Weise, wie die Welt bei Diderot zur Sprache kommt. Obwohl es sich um sehr ernsthafte philosophische Versuche über die Erkenntnistheorie, die sinnliche Wahrnehmung und das Verständnis der menschlichen Freiheit handelt, wird die Welt dennoch nicht auf den Begriff gebracht. Was in der Regel als Aufgabe der Philosophie betrachtet wird, nämlich begriffliche Definitionen zu liefern, wird hier gerade zurückgewiesen. Für Gumbrecht ist die "Prosa der Welt" ein Modus der Aufzeichnung, der Details und Merkwürdigkeiten zu Wort kommen lässt, die sich nicht mit Begriffen fassen lassen und dennoch wirkmächtig sind:
"‚Prosa‘ bezieht sich in Wirklichkeit auf alles, was sich nicht dem menschlichen Denken in seiner Abstraktheit zuordnen und darunter subsumieren lässt. Deshalb steht ‚Prosa‘ auch für Zufälligkeit, Abhängigkeit, unerfüllte Wünsche, für Fragmentierung […] und für Singularität, ja für alles, was die Flüge des Geistes ‚hemmen, stören und auslöschen‘ könnte, und letztlich für jenes, was weder geistiger Art ist noch durch Begriffe oder Strukturen kontrolliert werden kann."
Denis Diderot hat sich selbst als Materialist verstanden. Aber damit ist nicht die spätere politische Strömung gemeint, die aus den materiellen Bedingungen der Geschichte deren zwingenden Verlauf ablesen wollte. Der Materialismus des 18. Jahrhunderts hat sich gegen den Rationalismus des vorhergehenden Jahrhunderts und dessen Versuche formiert, die Ausgestaltung der Welt aus wenigen zentralen Begriffen abzuleiten. Denn mit dem Zusammenbruch der christlichen Ethik wuchs das Bedürfnis nach einer neuen moralischen und politischen Ordnung, das erst die Aufklärung mit ihrem rigiden Staatsverständnis nach heftigen Religionskriegen in Europa befriedigt hat. Die neuen nationalstaatlichen Ordnungsmächte und ihre neuen verheerenden Kriegseinsätze, die das gesamte 19. und 20. Jahrhundert durchziehen, sind ein aufklärerisches Erbe.
Das historische Narrativ
Für Gumbrecht ist die "Prosa der Welt" daher von Anfang an ein widerständiges Projekt, das sich gegen die Reduktion von Komplexität wendet. Der Untertitel seines Buchs lautet: "Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung". Zum Erbe der Aufklärung gehören nicht nur politische Institutionen und rechtliche Infrastrukturen. Für Gumbrecht zählt vor allem die Art und Weise dazu, wie Bedeutung gestiftet und verwaltet wird. Die dominanteste ist das "historische Weltbild", das prominent mit dem Philosophen Hegel verbunden ist und die Welt in ein lineares Narrativ von Vergangenheit und Zukunft einteilt. Im "historischen Weltbild" erhält alles nur seinen Sinn durch die narrative Verknüpfung zwischen dem, was früher war, und dem, was später sein wird. Ob es sich um den eigenen Lebenslauf handelt, die Geschichte von Nationen oder sogar der Menschheit, das Jetzt ist aufgespannt zwischen Epochen. Dagegen richtet sich die "Prosa der Welt":
"Anders als das historische Weltbild […] steigerte Diderots Epistemologie die Komplexität der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt auf allen Interaktionsebenen. Mit anderen Worten, die aus seiner Epistemologie hervorgehende Welt erhob keinen Anspruch auf eine natürliche Ordnung, die den Eindruck erweckte, dass alles darin ‚an seinem Platz‘ sei. Deshalb erforderte Diderots Werk auf seiner obersten Ebene die Ausübung individueller Urteilskraft als ein Werkzeug, das die Möglichkeit eröffnete, mit der potenziell grenzenlosen existenziellen Komplexität fertigzuwerden und diese Komplexität auf Distanz zu halten."
Zu beschreiben, was vorliegt, was geschieht, sich einzulassen auf die Welt, ohne vorherige Interpretation, aber trotzdem nicht von der Vielzahl der Eindrücke überfordert zu werden, das ist für Gumbrecht das eigentliche Verdienst der "Prosa der Welt" und die Attraktivität von Diderot für unsere posthistorische Gegenwart. Wie im Fall der Unübersichtlichkeit des höfischen Lebens, durch die das "Handorakel" von Gracián das alleingelassene Individuum geleiten sollte, reagiert auch Diderot auf einen historischen Ordnungsschwund, der sowohl die schönen als auch die brutalen Zufälle der Welt ungefiltert hervorbrechen lässt.
Für Gumbrecht ist es keine Frage, dass auch wir heute in einem "Zustand der Entropie" leben, aus dem uns das "historische Weltbild" nicht mehr herausführen kann. Ohne Vorstellung von einer besseren Zukunft dehnt sich unsere Gegenwart immer weiter aus. Einen Überblick über die zahlreichen Akteure der Weltpolitik und ihre widerstrebenden Interessen zu erlangen, wird immer schwieriger. Eine neue Weltordnung ist nicht in Sicht. Und das, obwohl die globalen Probleme zunehmen. Beide Bücher von Gumbrecht zeichnen sich durch eine gewisse Ratlosigkeit aus. Sie zuzulassen und rückhaltlos zu befragen, ist die große Leistung des Autors.
Hans Ulrich Gumbrecht: "Prosa der Welt. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung"
aus dem Englischen von Michael Bischoff
Suhrkamp Verlag, Berlin. 400 Seiten, 36 Euro.
Baltasar Gracián: "Handorakel und Kunst der Weltklugheit"
aus dem Spanischen von Hans Ulrich Gumbrecht
Reclam Verlag, Ditzingen. 302 Seiten, 25 Euro.