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Guntram Vesper: "Frohburg"
Tausend Seiten deftiger Realismus

Der Schriftsteller Guntram Vesper hat schon in den 60er-Jahren auf sich aufmerksam gemacht. Im Jahre 1967 las er bei der legendären und elitären Schriftstellervereinigung, der "Gruppe 47". Gefeiert wurde er vor allem für seine Lyrikbände - jetzt hat er mit "Frohburg" sein Opus Magnum veröffentlicht.

Von Helmut Böttinger | 13.03.2016
    Guntram Vesper
    Der Schriftsteller Guntram Vesper (Deutschlandradio Kultur )
    Mitten in diesem Buch, das genau 1001 Seiten hat und nicht nur deswegen an die welthaltigen Geschichten aus 1001 Nacht gemahnt, sitzen der Landarzt Wolfram Vesper und der Korbmacher und Erzgebirgsmetaphysiker Schlingeschön zusammen, bis zum Morgengrauen. Es handelt sich um die frühen Jahre fünfziger Jahre in der DDR, und eins kommt zum anderen. Sie erzählen sich ihr Leben, sie erzählen aberwitzige und atemberaubende Geschichten über Menschenschicksale und historische Konstellationen, und als der praktische Arzt dem Legenden- und Sagenspezialisten auffordert, endlich wieder auf eine undurchsichtige Gestalt namens Wehefritz zu sprechen zu kommen, erhält er eine wahrhaft literarische Antwort:
    "Was kann ich dafür, wenn mir zu seiner Geschichte immer neue Seitentriebe und Schleifen einfallen, wenn die mich förmlich überrumpeln, auf neue Fährten locken, bis ich in Gefahr bin, den Faden zu verlieren, da ist alles aneinandergebunden, ineinander gestrickt, in eins verwoben, wo anfangen, wo aufhören, ohne die Sache zurecht zu biegen, abzukappen, zu beschädigen oder zur Schwindelei zu machen."
    Intensive deutsche Mentalitäts- und Milieugeschichte
    Mit diesen Sätzen sind wir auch mitten in der Ästhetik des Romans "Frohburg" vom Guntram Vesper, genauer gesagt: Wir sind mitten in den Fragen, die sich dieser Roman selbst stellt und auf die er fächerförmig Antworten verteilt. Die Handlungen, die sich unendlich fortzusetzen scheinen und sich vielfach überkreuzen, erstrecken sich über viele Jahrzehnte und mehrere Generationen, unter der Hand entsteht eine intensive deutsche Mentalitäts- und Milieugeschichte, und der praktische Arzt im sächsischen Frohburg, der am Tisch sitzt und mehr über Wehefritz wissen will, spinnt den Gedanken auch sofort weiter:
    "In einem trübe vorbeifließenden Bach kann jeder mutig greifen und versuchen, einen Fisch herauszuschnappen, dazu gehört nicht viel. Geht es gut, dann hat man was in der Hand, wenn der Fang vielleicht auch glitschig ist, richtig zupacken, das ist im Grunde die ganze Kunst. Aber aus dem unendlich breiten Strom der Ereignisse Einzelnes herauszulösen und mit Worten nachzuzeichnen und weiterzugeben, das ist kinderleicht nur dann, wenn man zu kurz zielt, Sie aber werfen ziemlich weit, wenn ich das sagen darf, lieber Schlingeschön. Dann kann der Ball auch mal im Gebüsch neben dem Spielfeld landen."
    Guntram Vespers "Frohburg"-Epos wirkt in der deutschen Gegenwartsliteratur wie ein Einschlag aus früheren, entfernteren Zeiten. Als Vergleich kommen höchstens einige Zeit- und Gesellschaftsromane mit epochalem Anspruch in Frage, Uwe Johnsons "Jahrestage" etwa oder Peter Weiss‘ "Ästhetik des Widerstands" – gänzlich anders geartete Romane zwar, aber ähnlich in dem Bestreben, etwas Totales in den Blick zu nehmen. Es handelt sich um eine Exkursion, deren Ziel unbestimmt ist und auf jeden Fall waghalsig. Man ahnt die Durststrecken. Die Frage ist nur, wie weit sie gehen und worin sie bestehen.
    Ausgangspunkt: Frohburg in Sachsen
    "Frohburg", der Titel und Ausgangspunkt des Romans, bezieht sich auf eine sächsische Kleinstadt südlich von Leipzig mit ungefähr 5000 Einwohnern, 15 Straßen und 500 Häusern. Sie wird genau vermessen und maßstabsgetreu eingebettet in die umgebende Landschaft. Es handelt sich um den mit vielen Wäldern bepflanzten Übergang zwischen der sächsischen Braunkohle-Ebene und den Vorstufen des Erzgebirges, und diese Grenze zwischen den geographischen Zonen ist auch eine zwischen Realität und Fiktion, zwischen nüchterner Bodenhaftung und phantastischen Erhebungen. Guntram Vesper verbrachte hier die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er mit seiner Familie 1957 über Berlin nach Westdeutschland floh. Der Fundus Frohburg aber blieb.
    "Mein Weg ging schräg über den Markt, am Kentaurenbrunnen, am Graichens Autowerkstatt, am Brauhof und an der Braunsbergschen Textildruckerei vorbei, dort hatte Mutter im Büro gearbeitet, die Fabrik, jüdisches Eigentum, stand bis 53 unter Treuhandverwaltung, dann wurde auch sie enteignet. Ich kam durch die Brückengasse, ließ das verlotterte Haus von Liebings Fritze und seiner Frau, unserer Schneiderin, rechterhand liegen, links das Kolonialwarengeschäft von Schusters, ich überquerte auf der rostmürben Sparborthbrücke die Wyhra, rechts der Töpferplatz, der während der Schneeschmelze oder nach Wolkenbrüchen im Hügelland nicht selten im Hochwasser verschwand, links erst die Maulbeerbüsche in dichter Reihe und dann die Linden an der Whyra, mit den Franzosenkäferkolonien im trockenen staubigen Wurzelbereich. War ich so weit gekommen, sah ich mein Ziel zwischen Schützenhaus, Schützenplatz und ansteigender Straße auf der einen und Hölzchen, Litfaßsäule und Bürstenmacher Prauses Bude auf der anderen Seite vor mir, das Haus der Großeltern in der Greifenhainer Straße, in dem ich auf die Welt gekommen war und das mit Garten, Gartenlaube, Volieren für die Goldfasane, Pferdestall, Remise, Heuboden und Oberboden für mich bis heute der Kern der Erinnerungen ist, die mit Frohburg zu tun haben."
    Mischung aus Tagebuch, Essay, Analyse und schwadronierendem Erzählen
    Das Buch besteht aus etlichen Ausschweifungen und Abschweifungen. Und eine davon ist sicher, dass es bereits 1985 ein Buch von Guntram Vesper mit dem Titel "Frohburg" gegeben hat. Es war ein Band mit Gedichten, und in der Verlagsinformation hieß es dazu, dass diese in jüngster Zeit entstanden seien und sich auf eine umfangreiche Sammlung von Notizen, Erinnerungen und Aufzeichnungen stützten, an der der Verfasser seit Jahren arbeite. Offenkundig hat der Verfasser bis heute daran gearbeitet. Die Sammlung wurde ständig fortgeführt. Was jetzt auf 1000 Seiten erschienen ist, bildet die letzter Konsequenz aller denkbarer "Frohburg"-Linien. Das Buch ist ein Bündel von Erzählungen und Gesprächsnotizen. Und es hat viele Aspekte einer Autobiografie, ohne eine Autobiografie zu sein. Denn neben dem Ich, das hier schreibt und sich beim Schreiben auch immer wieder zuschaut, tritt jene magische Konfiguration "Frohburg" in den Mittelpunkt und verselbständigt und verästelt sich. Die weitere Biografie des Autors taucht zwar immer auf, selbst Momente des Jahres 2015 finden noch Eingang in das Buch, aber den eigentlichen Kraftquell bilden die ersten sechzehn Jahre, die Kindheit, die Jugend und das Herkommen: bis in die Großeltern- und Urgroßelterngeneration wird alles verfügbare Material ausgewertet und ausgesponnen. Aber es gibt auch ein paar Ausläufer bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, die konkrete Gegenwart des Autors, der an allen Fäden seiner Familiengeschichte zieht. Augenzwinkernd zitiert Guntram Vesper in seinem Motto Fontane:
    Für etwaige Zweifler also sei es Roman!
    Der zeitgenössische Roman erweist sich als die Form, die alles in sich aufsaugen kann, Tagebuch, Essay, Analyse und schwadronierendes Erzählen gleichermaßen. Die Fiktion braucht dabei keine Rolle mehr zu spielen. Spannend ist aber jedes Mal der Moment, in dem sich das Ganze unmerklich doch ins Fiktive hinüberbewegt. "Frohburg" bildet ein Reservoir an Sehnsüchten, wird zu einem Signum für Heimatlosigkeit und zum Fluchtpunkt der Literatur. Die meisten der Häuser werden im Lauf der Buchseiten einzeln aufgerufen. Die Topographie scheint die Grundlage für den Schreibvorgang zu bilden, immer wieder treten neue Nebenfiguren und Seiteneingänge ins Bild. Die 1000 Druckseiten dieses Buches bilden ein Kontinuum, einen einzigen Bewusstseinsstrom, sie sind nicht in einzelne Kapitel aufgeteilt. Aber es gibt immer wieder Stromschnellen, die etwas Neues ankündigen, der Erzählfluss lebt von einzelnen Assoziationsknäueln. Und so entwickeln sich zwar lange Strecken über den Alltag des Großvaters vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zur Nazizeit und der DDR, parallel dazu auch über den Alltag des Vaters seit den dreißiger Jahren, doch an manchen Punkten setzt die Erfahrung des Autors Guntram Vesper selbst ein. Er verbindet seine Gegenwart mit derjenigen der Eltern- und Großelterngeneration durch schwebende Motive. Die Zeit verläuft hier nicht linear. Das ganze Buch ist ein raffiniertes, dabei wildwucherndes und nicht immer kontrollierbares Flechtwerk. Einmal referiert Vesper die unerhörte Racheaktion der sowjetischen Besatzer im Dorf Küllstedt, direkt nach dem Krieg: 36 Verhaftungen und 7 Todesurteile, nur weil die Bauern ein paar Diebe verprügelten, die sie für polnische Fremdarbeiter hielten. Leider waren es aber russische Offiziere. Die Todesurteile wurden sofort an der Friedhofsmauer vollstreckt, tausend Anwohner mussten zuschauen. Am Abend wurde dafür im Dorfkino ein Musikfilm gezeigt, der in der NS-Zeit gedreht wurde und in dem Will Quadflieg auftrat – dieser Schauspieler und Sprecher aber löst im Autor und Erzähler Guntram Vesper selbst etwas aus.
    Die große Geschichte trifft sich in der kleinen
    "Im Advent 1958, ein Jahr nach unserem Weggang aus Frohburg, legte ich mir von dem Geld, das der Verkauf meines zurückgelassenen Diamantfahrrades aus Karl-Marx-Städter Produktion an den Mann der Kusine Sigrun Plank nach der Umrechnung eins zu fünf Westmark gebracht hatte, einen schwarzrot gestreiften Kofferplattenspieler von Quelle zu und erbat mir von den Eltern als Weihnachtsgeschenk eine Langspielplatte der Reihe "Wort und Stimmen" von Telefunken: Will Quadflieg liest Rainer Maria Rilke. Brennend dunkle Augen, sagte mir Heiligabend 1958 in der Zweizimmerwohnung in der Ebelstraße in Gießen der Text auf der Plattenhülle, eine hohe kühne Stirn, schwarzes Haar, eine Stimme von fesselndem, leidenschaftlichen Timbre, das ist Will Quadflieg. Er spielt nie zur Schau, so immer weiter der Covertext, sondern immer aus einer Schau heraus. Quadflieg mit seiner Rilke-Rezitation beeindruckte mich so stark, dass ich im folgenden Sommer, ich war schon Heimschüler an der Aufbauschule in Friedberg, auf der Freilichtbühne im Burggarten stand zur Verwunderung der paar Spaziergänger, die in die abseits gelegenen Anlagen fanden, lauthals in der einmaligen Intonation meines Vorbildes von der Schallplatte Strophen aus dem "Stundenbuch" vorlas, in der linken Hand das Buch, das ich bald über große Strecken auswendig kannte, in der rechten eine Zigarette der erschwinglichen Marke "Supra", Sechserpackung."
    Die große Geschichte trifft sich in der kleinen. Und im Sommer 2012, beim Aufräumen der Wohnung des gestorbenen Bruders, stößt der Erzähler auf viele Gegenstände, die einzelne Momente der Familiengeschichte hervorrufen, und zum Schluss findet sich auch der längst vergessene Plattenspieler von Quelle wieder ein. Dieser rhizomartigen Struktur folgt alles, was in und um "Frohburg" herum passiert. Obwohl der größte Teil recht lange zurückliegende Zeiten heraufbeschwört, ist dies beileibe kein "historischer Roman": dazu ist der Erzähler zu sehr involviert. Am stärksten tritt er mit seiner bibliophilen Obsession in Erscheinung. Antiquariate sind für ihn wahre Pilgerstätten, speziellen Ausgaben wird mit großem Aufwand nachgeforscht, und der sächsische Weltdarsteller Karl May spielt dabei die Rolle eines Leitmotivs. Eine der Nebenfiguren des Romans lässt er sogar eine Original-Lesung Karl Mays in der Leipziger Naschmarktbörse miterleben, und dabei zeigt sich, was Karl May für einer ist:
    "Ein gutgelaunter Plauderer, den ein Satz in den anderen riss, ein Thema in das andere stürzte, es sprudelte nur so aus ihm heraus."
    Die Schauplätze wechseln oft, die Personen wechseln wie im Karussell
    Auch in Vespers "Frohburg" bergen einzelne Handlungsstränge in sich ganze Romane. Das nahe Erzgebirge, mit seinen Wunderheilern und seiner Trance zwischen Engelwurz und Vollmondnächten, entwickelt starke Bilder und Sprachschübe. Der romantische Ausflug von Vater und Mutter 1937 in die grenznahe "Dreckschänke" auf der tschechischen Seite gehört zu den schönsten Geschichten des Romans: dunkel grundiert vom Volkssänger Anton Günther, der sich drei Tage später umbringt und die bevorstehende historische Katastrophe verkörpert.
    "Der Alte hielt eine Gitarre umfangen, anscheinend hatte er, bevor sie eintraten, gespielt, der zog auch jetzt noch wie zum Versuch seine Fingerkuppe zwei, drei Mal über die Saiten. Der Tonl geht seit dem Anfang des Jahrhunderts bei uns aus und ein, allzeit gern gesehen. Er ist ein großer Heimatsänger und ein noch viel größerer Heimatdichter, als wir vor zwei Jahren unser hundertjähriges Jubiläum feiern konnten, hat er uns ein ganzes Lied gewidmet, "Da Draakschänk". Lass es doch die jungen Herrschaften mal hören, Tonl, forderte der Wirt ihn auf, während Erika und Wolfram längst am unteren Ende seines Tisches Platz genommen und bei der Kellnerin, der Zundeltochter, zwei halbe Liter Hausbier bestellt hatten. Der Tisch, schmal, lang, war einer von fünf Tischen, die in der Stube standen, zwei davon rund und zwei quadratisch. Anton Günther stand auf, setzte den rechten Fuß auf einen Stuhl am großen Ofen rechts des Eingangs in die sogenannte Erzgebirgsstube, wie der Schankraum hieß, und sang nur für die junge Frau, wie er erklärte, zu einer zeitvergrabenen wieder hervorgebrachten Melodie mit zittriger und trotzdem nicht kraftloser Stimme."
    Die Schauplätze wechseln oft, die Personen wechseln wie im Karussell, kommen aber irgendwann wieder. Einmal geraten wir programmatisch in eine lange "Nacht der großen Erzählung", und sie ist eine zentrale Szene in diesem Buch. Sie spielt am Anfang der fünfziger Jahre, und wir erwähnten sie bereits am Anfang unserer Rezension: da sitzen Vespers Vater und der Korbmacher Schlingeschön aus dem Dachgeschoss in der Küche im Frohburger Haus. Sie beginnen, sich ihre Geschichten zu erzählen, und dabei verschränken sich vielfach die Zeiten. Schlingeschön ruft die Zeit der dreißiger und vierziger Jahre wach, als auf den unwegsamen Pfaden im Gebirge Kommunisten nach Tschechien flohen und illegal wieder einsickerten, während Wolfram Vesper, der Arzt, seine Erfahrungen der frühen Jahre der DDR beschreibt. Unvergessliche Figuren wie etwa ein Mann namens "Wehefritz" wechseln geheimnisvoll zwischen Untergrundaktivität, Geisterbeschwörung und Hexenmeisterei. Und am allergeheimsten ist die "Vollmondbruderschaft", da lässt der Arzt seine alte Mutter zu Wort kommen:
    "Kurz bevor ich deinen Vater, den jungen Tierarzt kennenlernte, nahm ich an drei oder vier nächtlichen Zusammenkünften, man kann auch sagen Vermischungen in der Mondscheinmühle teil, unter den Anwesenden erkannte ich in dem Gewimmel den Pastor der Stadtkirche mit seiner Tochter, den Scharfrichter aus Hohelinde mit Frau, Sohn und Schwiegertochter und den Besitzer der Konservenfabrik in unserer Nachbarschaft, begleitet von dreien seiner vier Söhne. Es war durch Stunden ein Beten und ein Tanzen im Wechsel, Bilder sah ich, zum Schamrotwerden, durch die halbe Nacht waberte nicht nur Bedrängendes, Abstoßendes, sondern auch Bedrohliches, ich hatte den Eindruck, das Gefühl, die Vermutung, dass ich noch nicht einmal halb verstand, was sich um mich herum und weiter weg abspielte, fremd war ich, nicht dazugehörig, du musst bedenken, ich war kaum siebzehn. In den Zimmern nur Kerzenlicht, zitternd, flackernd, weil alle Türen offen standen, auf dem Hof und im Garten zwei Lagerfeuer, Männlein und Weiblein wuselten durcheinander, wogten ins Haus und aus dem Haus heraus, verschwanden aus meinem Blickfeld und waren nach zehn Minuten wieder da. Kurz nach Mitternacht in Musik und Gesang hinein spitze Schreie, Quieken fast, als würden Schweine abgestochen, alles lief nach unten, wo die Blumenwiese an ein Wäldchen stieß, dichter Kreis, ich stand in der vierten oder fünften Reihe und konnte nicht sehen, was in der Mitte los war, nur diese Schreie, dieses scharfe Kreischen, dieses schrille Weinen, dann wurde aus dem Kreis wie von einer geheimen Macht befohlen ein Halbkreis, geöffnet zum Wäldchen, ein paar Gestalten lösten sich und verschwanden in der Dunkelheit der Bäume, vielleicht trugen sie etwas, schleppten sie etwas mit sich, mir war so, bange Ahnung."
    Farbenreiche Darstellung des deutschen Milieus
    Das ist genauso plastisch wie die Szene, in der die frühen Leipziger Professoren Ernst Bloch und Hans Mayer um die einzigen Exemplare der Protokolle von Moskauer Schauprozessen konkurrieren. Unglaubliche Begebenheiten, drastische Geschehnisse sind verwoben mit eindringlichen Historiengemälden und feinen Charakterskizzen. Manche Geschichten haben den Charakter einer Parabel, manche den eines Bauernschwanks – so farbenreich ist das deutsche Milieu im Lauf der Jahrzehnte selten dargestellt worden, in einer offenen und frappierenden Form. Nicht von ungefähr heißt es während der Erzählung über die rote Jutta bei Thüringer Mett mit Ei und Zwiebeln:
    "Das Feld konnte wegen der unendlichen Verästelungen, Verzweigungen und Verflechtungen, der vielen Verdeckungen und Verschüttungen nicht größer sein."
    Es geht immer weiter. Kreuzottern bilden einen Motivkomplex, untergründig werden Netze ausgelegt, in denen sich Sexualität und Schlangen aufeinander beziehen, und ein typischer DDR-Urlaub mit FKK und Zelt-Derbheit am Darss bekommt ein schwüles, dumpfes Eigenleben. Guntram Vesper erweist Uwe Johnson und Peter Weiss selbstverständlich seine Referenz, ein signiertes Exemplar von Günter Eich zieht unabsehbare Kreise, und Walter Kempowski geht reichlich geknickt am Bühnenrand ab. Erich Loest indes bekommt über Dutzende von Seiten, im Gespräch mit zwei linientreuen Frohburger Funktionären anlässlich seines Debüts "Die Westmark fällt weiter", einen grandiosen Auftritt. Während dem sinnlichen, prallen Erzählen gehuldigt wird und ein deftiger Realismus feinziselierten Gedankenmustern die Waage hält, ist der Hauptdarsteller in diesem Roman unverkennbar die Literatur selbst. "Frohburg" ist die ganz große Form, und die gesamte Skala der Gefühls- und Sprachwelten wird vielfach durchmessen. Oder, wie die vermeintlich unscheinbare Nebenfigur Frau König einmal bekennt:
    "Wer will es mir verdenken, wenn ich mir die ganze Geschichte nach meinem Gusto zurechtbiege, die wird nicht weniger wahr als jede andere, ganz wahr ist keine."
    Guntram Vesper: "Frohburg"
    Roman
    Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2016.
    1002 Seiten, 34,00 Euro