Samstag, 20. April 2024

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Glosse
Jürgen Habermas und der mediale Meinungskampf

Habermas hat gesprochen - das heißt, er hat geschrieben. In einem Gastbeitrag der "Süddeutschen" verteidigt der Philosoph Bundeskanzler Olaf Scholz, verunglimpft dabei "Pressestimmen" - und bekommt nun mediale Hiebe. Also alles noch komplizierter als ohnehin, meint Arno Orzessek.

Arno Orzessek | 04.05.2022
Der Philosoph Jürgen Habermas am 12.12.2012 bei einer Pressekonferenz im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen).
92 Jahre alt: Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas (picture alliance / dpa - Martin Gerten)
Vorab eine Warnung an alle, die mit ihrer Lebenszeit gern sorgsam haushalten!  Der Artikel "Krieg und Empörung" von Jürgen Habermas lässt sich laut Süddeutsche Zeitung in komfortablen 18 Minuten weglesen.
Um jedoch alle biestigen Reaktionen darauf zu studieren, bräuchte es eher Tage als Stunden. Falls Sie trotzdem keinen Urlaub nehmen wollen, liefert Ihnen der Artikel "Gepard, Marder, Leopard und Co" in der Taz eine pfiffige Begründung. Andreas Fanizadah, und nicht nur ihm, ist nämlich etwas aufgefallen.
An demselben Tag – dem vergangenen Freitag –, an dem Habermas in der SZ die Skrupel des Kanzlers in puncto Lieferung schwerer Waffen verteidigt hat, hat der Bundestag... peng!... die Lieferung schwerer Waffen beschlossen.

Heiße Luft im Habermas-Bashing

Okay, Olaf Scholz war da gerade in Japan. Er konnte seine Skrupel, die er dem Spiegel erläutert hatte – und die Habermas so toll fand – im Bundestag weder erneuern noch widerrufen. Aber angesichts der neuen Sachlage... zeitnahe Lieferung schwerer Waffen... steckt im Habermas-Bashing ein Quantum heiße Luft; er hat in der Sache ja verloren.
Andererseits war Habermas in der SZ wirklich ganz schön aggro drauf... Wie man vielleicht sagen würde, wäre er 70 Jahre jünger.
Man höre und staune: Der Autor, der den öffentlich-diskursiven Schlagabtausch immerzu als essentiell für die demokratische Willensbildung besungen hatte, motzte plötzlich, hierzulande sei ein "schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf" im Gange.

"Pressestimmen" gefoppt

Das hat die "Pressestimmen" natürlich gewaltig gefoppt. "Der Chefkritiker der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit sieht seine Felle davonschwimmen", lästerte Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
"Jugendbeschimpfung", "fahrlässige Denunziation der ukrainischen Regierung", Wutausbruch eines "Altlinken" – Strauss warf Habermas eine Menge an den Kopf... Und das härteste Wurfgeschoss zum Schluss: Er entdeckte "Parallelen" in der Argumentation von Habermas und Alexander Gauland, dem alten Mann der AfD, nach dessen Meinung die tückische Atommacht Russland den Krieg besser nicht verlieren sollte.
"Das hat Gauland nicht verdient", juxte 'Kartoffelpuffer' unter #habermas bei Twitter. Thomas Schmid bemängelte im Welt-Blog, Habermas würde in "mitunter auch boshafter Weise" sein Lebenswerk verteidigen, das bekanntlich dem Palavern viel, Panzern und Projektilen dagegen wenig Raum einräumt.
"Geradezu unverschämt" fand Schmid, dass Habermas die Befürworter tatkräftigen Widerstands gegen Putin zu "rechten Interpreten der Zeitenwende" erklärt.
Die ultimative Frage stellte indessen Bernd Stegemann im Cicero: "Churchill oder Habermas?"... Womit er dem Philosophen aus dem lieblichen Starnberg sehr gezielt Blut, Schweiß und Tränen ukrainischer Herkunft unter die Nase rieb.
Doch steht Habermas allein, wenn er die Fraktion der Waffen-Affinen anpfeift? Leute wie Sascha Lobo, der im Spiegel Ostermarschierer als "Lumpen-Pazifisten" denunziert hat? Nein, keineswegs. Der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici etwa meinte im Magazin Profil: "Mich stößt [...] der Ton ab, in dem mancher mit fremdem Hintern durch das Feuer reitet". Sollte heißen: "…. im Sessel zum Kampf aufruft".
Damit war das Wichtigste gesagt. Aber derart würzige Worte... mit fremdem Hintern durchs Feuer reiten... sind ja leider so gar nicht Habermas' Ding.
Und das macht alles noch komplizierter als ohnehin.