Mittwoch, 24. April 2024

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Haiti ohne Klischees
"Die schöne Menschenliebe"

Eine junge Frau aus Europa möchte auf Haiti ein altes Familiengeheimnis lüften. Dort trifft sie auf den geschwätzigen Taxifahrer Thomas, der sie und den Leser mitnimmt auf eine Reise über die karibische Insel. Statt Klischees gibt es in Lyonel Trouillots moderner Fabel eine ganze Menge Glück.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 23.03.2015
    "Menschen suchen stets nach Gründen, um Schranken und Grenzen zu errichten, Unglück
    und Ungerechtigkeit zu schaffen. Ich habe mich daher gefragt, was wäre, wenn wir Verantwortung übernähmen und alles zerstörten, was Unglück hervorruft und nur das bewahrten, was uns alle glücklich macht. Und dann war da die Vorstellung von einem gastfreundlichen Territorium, das allen offen steht. Man teilt miteinander und versucht nicht, unnötiges Leid zu verursachen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang gern an den Dichter Paul Eluard und einen seiner Vers, der mir so gut gefällt: "Wenn wir wollten, gäbe es nur Wunder."
    Von diesen Überlegungen ausgehend hat Lyonel Trouillot eine moderne Fabel über das
    Glück geschaffen, wobei sich die Welt in dem armen Fischerdorf Anse- à- Foleur neu konfiguriert, weil dort das Glück imaginiert und erträumt wird. Einer der Dorfbewohner, der junge Justin, arbeitet sogar unermüdlich an einem "Kodex neuer Gesetze im Dienst des Glücks."
    Auf den Spuren eines Familiengeheimnisses
    Anaise, eine junge Frau aus einer europäischen Metropole, ist nach Haiti gereist, um mehr über ihren Vater herauszufinden, den sie kaum kannte. Auf der langen Fahrt von Port - au - Prince nach Anse- à- Foleur erzählt ihr Thomas, der geschwätzige Taxifahrer, viel über Haiti und sein Heimatdorf. In allen Einzelheiten geht er auf die eigenartige Geschichte jener beiden Herren aus der Hauptstadt ein, die ihren Lebensabend in dem Fischerdorf verbrachten, wie in einer Enklave, fernab der Dorfbevölkerung.
    Die beiden Herren, der Geschäftsmann Robert Montès, der sich als der Großvater von Anaise entpuppt und der schwarze Oberst Pierre André Pierre gehörten zum inneren Machtzirkel der Duvalier Diktatur und hatten sich unter Ausschöpfung aller nur erdenklichen Privilegien in dem Fischerdorf zwei Ferienhäuser errichten lassen.
    "In Haiti und nicht nur dort nehmen viele Reiche und Mächtige den Raum nur wahr als etwas, was sie gern besitzen würden. Ich sehe das Grundstück und möchte das Grundstück haben. Ich sehe den Strand und möchte den Strand haben. Ich habe mich darüber ein bisschen mokiert und gefragt: Und wenn die Leute Nein sagten? Die Reichen wollen die Welt konsumieren. Sie sehen in den Anderen keine Gleichberechtigten, sondern Accessoires, Untergebene. Das Buch handelt von der Revolte der Untergebenen, der Forderung nach Respekt. Und wenn der nicht gegeben ist, fangen die Menschen zu handeln an."
    Gegebenenfalls auch die Naturgewalten. Eines nachts gehen die zwei Ferienhäuser in Flammen auf. Ob die beiden Herren dabei den Tod fanden, konnte die aus Port-au-Prince herbeigeeilte Untersuchungskommission nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls hat der Taxifahrer die beiden Herren als besonders skrupellos, geldgierig und machtversessen in Erinnerung. Sie sind die Prototypen der Kavalier Diktatur.
    "Die Romanfiguren sind die Symbole jener Macht, die die haitianische Gesellschaft
    in diese missliche Lage brachte, die für einen Teil der Gesellschaft charakteristisch ist.
    Die Figur des Oberst verkörpert die Macht, die politische und die militärische Autorität.
    Der Geschäftsmann repräsentiert die Wirtschaftsoligarchie. Außerdem sind da die Schwarzen, die in einem Land von Schwarzen an der Macht waren, ohne dem ganzen Volk zu dienen. Darüber hinaus gibt es noch die Oligarchie der Mulatten, die die großen Vermögen besitzen."
    Mit feiner Ironie und manchmal auch mit bitterem Sarkasmus erzählt Thomas von den Touristen, die aus den Metropolen der Welt nach Haiti strömen und die er in seinem klapprigen Taxi befördert. Er hat aufmerksam beobachtet, wie sie Haiti zur Kulisse familiärer Urlaubsdramen machen, wie sie nach Exotik und Erotik gieren, Gefangene ihrer Arroganz und Vorurteile werden. Mit ihnen verglichen ist Anaise aus einem völlig anderen Holz geschnitzt. Sie ist aufgeschlossen und wissbegierig und versucht, das Land ihres Vaters zu verstehen und die Familiengeschichte zu erhellen. In Anse- à - Foleur wird die junge Europäerin mit offenen Armen empfangen.
    Die drei großen "A"
    "Es sind arme Leute mit einer Kultur der Fülle. Sie nehmen den Fremden auf, ohne zu
    verlangen, dass er sich unterwirft. Ich habe einmal einen nordamerikanischen Anthropologen geneckt. Der hatte zwar einen Doktortitel, verstand jedoch nicht, dass man in Haiti im Haus von Nichtrauchern rauchen durfte. Es gab dort eine bestimmte Art, den Anderen zu empfangen. Du bist hier zuhause, wenn Du als Mensch ankommst. Du bist hier zuhause, und wir passen uns ein bisschen an dich an, trotz des Unmutes, der nachvollziehbaren Wut. Es gibt diese Weisheit, diese Menschlichkeit, dem Anderen zu sagen, dass er ein bisschen so sein kann, wie er ist und akzeptiert wird, wie er ist, was in den Gesellschaften, die demokratisch sein wollen, nicht immer der Fall ist."
    In dem Fischdorf lernt Anaise die Festkultur der Karibik kennen, die Gemeinschaft stiftenden Tänze, Lieder und Erzählungen. Hier hat man sich die drei großen As zu Herzen genommen: Austausch; Anteilnahme und die Achtung des Anderen. Der uralte Traum von mehr Mitmenschlichkeit. "Die schöne Menschenliebe" scheint hier in Erfüllung zu gehen.
    Lyonel Trouillot verweist nicht nur im Titel auf den Neujahrswunsch des haitianischen Schriftstellers Jacques Stephen Alexis, der 1957 in der Literaturzeitschrift Les Lettres Francaises erschien, sondern weiß sich dem Erbe seiner großen literarischen Vorbilder Jacques Stephen Alexis, George Castera und René Philoctète verpflichtet, die in ihren Romanen und Gedichten politisches Engagement und ästhetische Suche miteinander verbanden.
    "Ich weiß nicht, warum die Leute mit Blindheit geschlagen sind. Sie wollen nichts sehen. Sie haben nicht gelernt, das Offensichtliche zu sehen. Ich hege die Illusion, das Sichtbare sichtbarer zu machen für die, denen es entgangen sein könnte. Damit man überhaupt mit dem Sichtbaren arbeiten kann, muss man hinschauen können. Mein Freund Earl Lovelace, ein Schriftsteller aus Trinidad sagte heute Morgen auf Englisch zu mir: "I am a good listener!" Als Romancier sollte man zuhören,
    hinschauen können, denn genau da fängt unser Handwerk an!"
    Die in dem heiteren und lebensklugen Roman immer wieder aufgeworfene Frage "Habe ich mein Dasein gut auf dieser Welt genutzt?" muss sich der Leser selbst beantworten. Lyonel Trouillot jedenfalls lässt Menschen und Dinge für sich sprechen, vorzugsweise im monologartigen Wortschwall wie den Oberst und den Geschäftsmann oder den Taxifahrer.
    Anaise kommt erst gegen Ende des Romans zu Wort, als ihr bewusst wird, dass sie zwar ihr Familiengeheimnis nicht erhellte, jedoch fernab westlicher Metropolen und Machtzentren eine ursprüngliche Lebensfreude und Zufriedenheit verspürte, die sie mit der Dorfbevölkerung teilte.
    Lyonel Trouillot: Die schöne Menschenliebe, aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz, Liebeskind München 2014, 192 Seiten, 16, 90 Euro.