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Hans Joachim Schädlich: "Die Villa"
Banalität des Monströsen

Eine durchschnittliche bürgerliche Familie passt sich an, schweigt und überlebt. Hans Joachim Schädlichs neuer Roman "Die Villa" spielt in einer kleinen Stadt in Thüringen. In einem dokumentarisch anmutenden Stil zeigt er exemplarisch, wie einfach es war, die Verbrechen der NS-Zeit zu ignorieren.

Von Paul Stoop | 16.03.2020
Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich.
Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich. (dpa / picture alliance / Carmen Jaspersen)
Ort der Handlung und stumme Zeugin eines deutschen Familienlebens – diese beiden Rollen spielt die Titel gebende Villa in Hans Joachim Schädlichs neuem Roman. Akribisch stellt der Autor auf den ersten Seiten die Gründerzeitvilla in seinem Geburtsort Reichenbach im thüringischen Vogtland vor. Kein Detail fehlt in dieser Beschreibung im Stil eines Makler-Exposés:
"Die Tür in die Treppenhalle. Ein erster großer Raum. Der Platz der Garderobe. Ein Bleiglasfenster. Die raumbreite dreistufige Treppe in die Haupthalle, Hochparterre."
Der Roman kommt auf diesen ersten Seiten ohne Verb und Nebensatz aus. Auch die weiteren, kurz gehaltenen Kapitel, alle höchstens fünf Seiten lang, sind in einem radikal reduzierten Stil verfasst. Die Kapitel geben protokollhaft einzelne Familien- und Nachbarschaftsszenen wieder.
Eine normale deutsche Familie
Schädlich erzählt in Episoden von der Familie Kramer zwischen Anfang der 1930er Jahre und 1950. Elisabeth und Hans die Eltern, Kurt, Georg, Paul und Thea die Kinder. Im Wollhandel ist der Vater einigermaßen erfolgreich und kann sich 1940 den Kauf der Villa leisten.
Politik spielt keine große Rolle, aber aktives Mitglied der NSDAP ist der Vater schon früh. Sein Sohn Kurt geht ohne Begeisterung in eine nationalsozialistische Napola-Kaderschmiede. Weltgeschichte, wie sie von Berlin aus gestaltet wird, nehmen die Kramers fast teilnahmslos zur Kenntnis:
"Am 10. Mai 1940, abends bei einem Glas Wein, sagte Hans Kramer zu seiner Frau: ,Die Wehrmacht ist in Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich einmarschiert.’
Elisabeth Kramer:
,Vor einem Monat Dänemark und Norwegen. Jetzt Holland, Belgien, Frankreich. Müssen wir da nicht Angst haben?’ (...)
Hans Kramer:
,Ich glaube nicht, dass wir Angst haben müssen.’"
Auch als die Nazi-Politik den kleinen Ort unmittelbar erreicht, ist niemand erschüttert. Da verschwindet im Herbst 1938 der Lehrer Roth. Und aus Parteikreisen hört Walter Kramer, dass zwei jüdische Reichenbacher nach dem Verkauf ihrer Unternehmen Suizid begangen haben. Das aber verschweigt er seiner Frau Elisabeth, die nach dem Novemberpogrom einmal eine kritische Frage stellt. Elisabeths eigener Bruder Fritz, der an Schizophrenie leidet, wird Opfer der Nazi-Morde an Behinderten. Nur Fritz’ Mutter weint; Elisabeth bleibt stumm.
Eine Welt des Schweigens und der Gefühlsarmut
Trotz des distanzierten Tons und des Episodencharakters mit den dazugehörenden Lücken in der Chronologie gelingt es Schädlich auf beklemmende Weise die Atmosphäre in der Villa darzustellen, das Beschweigen, das Wegsehen und die Gefühlsarmut.
Im Sommer 1943 stirbt Hans Kramer. Schon schwer von Krankheit gezeichnet, verliert er für einen Moment seine Sprachlosigkeit und gesteht seiner Frau:
",Ich fürchte mich. Der Krieg überall in Europa. Die Behandlung der Juden. Die KZs. Stalingrad. Die vielen Toten. Das sind Verbrechen! Ich habe meine besten Jahre Verbrechern geopfert.’
,Das sagst Du jetzt!’
,Ich habe Angst um dich und die Kinder. Die Schuld kommt über uns alle. Die Bombenangriffe sind erst der Anfang. ’
Elisabeth Kramer sagte:
,Du darfst Dich nicht aufregen. Es ist zu spät.’"
Das ist das höchste Maß an erkennbarer Realitäts- und Rechtswahrnehmung: Es muss eine Rechnung für die Menschheitsverbrechen geben. Aber die Rechnung fällt dann glimpflich aus. Noch im Krieg muss die Villa verkauft werden, und im Nachkriegswinter wird gehungert. Die Familie fügt sich geschmeidig ein in die Besatzungssituation, erst unter den Amerikanern, nach der neuen Zonen-Einteilung unter der Sowjetverwaltung. Elisabeth findet einen neuen Mann. Als alte Frau kann sie sich nach der deutschen Wiedervereinigung die Villa noch einmal ansehen.
Alltagsleben unter einem monströsen Regime
Schädlichs konsequent durchgehaltener dokumentarisch-knapper Stil mag zunächst irritieren, erweist sich aber als kunstvolle Art, einen wesentlichen Aspekt Deutschlands in der NS-Zeit eindringlich zu beschreiben: das Banale eines Alltags unter einem monströsen Regime. Es ist ein Roman des 21. Jahrhunderts, der vom Leser erwarten kann, die detaillierten Darstellungen der Nazi-Zeit aus dem 20. Jahrhundert zu kennen, von den historischen Analysen über die Biographien bis zu Walter Kempowskis Groß-Collage "Echolot", die man mit ihrem Totalitätsanspruch als Antipoden zu dieser skizzenartig knappen Geschichte sehen kann.
Einen einzigen ironischen Moment bietet im Epilog die jüngste Geschichte: Die Villa wird 2007 abgerissen, um Platz zu machen für eine neue Fabrikhalle. Spezialisiert ist die expandierende Firma auf die Herstellung von Geräten zur Aktenvernichtung.
Hans Joachim Schädlich: "Die Villa"
Rowohlt Verlag, Hamburg. 192 Seiten, 20 Euro.