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Harmlose Femme Fatale

Sie ist ein Archetyp der ungehemmten Natur, die Lulu des Dramatikers Franz Wedekind. Das Stück "Lulu" schildert den Aufstieg und den Niedergang dieses "weiblichen Triebwesens", derzeit zu sehen in der Inszenierung des Chef des Nationaltheaters La Colline.

Von Eberhard Spreng |
    Ganz zum Schluss, nachdem Jack the Ripper die verarmte Lulu in einer miesen Londoner Absteige ermordet hat, wird ein Gemälde der Titelheldin per Video aufs Bühnenbild projiziert: Die junge Frau im Pierrot-Kostüm in einem Zeitraffer der Übermalungen und Metamorphosen: Immer mehr blutrot mischt sich in die Farben, schließlich ahnt man einen schwarzgrauen Totenkopf, bevor sich alles im Nichts auflöst.

    Lulu ist ein verführerischer Todesvogel und was man in ihm sieht, ist jedem einzelnen überlassen: Eine Projektionsfläche für die geheimen Wünsche der Männerwelt. Ein Bild also nur, eine Einbildung, wie sie der Kunstmaler Schwarz auf Leinwand bannt, in einer Pose, die auch gut für ein Porzellanfigürchen im Jugendstil taugen würde, so ist sie zu Beginn der Aufführung zu sehen: niedlich und ziemlich ungefährlich. So ist sie allerdings auch in dem burschikosen Spiel der Cloé Réjon angelegt, die in einem aus simplen Kulissenwänden zusammengesetzten Atelier dem Künstler den Kopf verdreht.

    Vieles in dem ersten Teil, im "Erdgeist" des Wedekindschen Diptychons ist in Braunschweigs fröhlich-boulevardesker Inszenierung geradezu auffällig harmlos. Anders als Zadeks maßgebliche Arbeit mit Susanne Lothar aus den 80er-Jahren ist hier nicht mehr im Ansatz das Skandalon erkennbar, das Wedekinds triebhafte Figurenbeziehungen prägte. Welche Verletzung Lulu durch die Zurückweisung des Chefredakteurs Dr. Schön erleidet und warum sie ihn schließlich am Ende des ersten Teils umbringt, bleibt im Dunkel. Philippe Girard spielt hier den reichen Verleger, der Lulu einst aus der Gosse holte, eher wie ein nüchterner Verwalter im Gestrüpp ihrer Affären als einen selbst emotional fatal involvierten.

    Die auf einer Drehbühne installierten Räume begrenzen zwei im rechten Winkel zueinander installierte große Spiegel, die die Figuren und allen voran Lulu zu einer Choreographie vervierfachen, ihre psychologischen Verstrickungen aber in einer formalistischen Theaterhaftigkeit unkenntlich machen. Das Theater entlässt seine Zuschauer also völlig ratlos in die Pause.

    Mit dem zweiten Teil und der Büchse der Pandora kommt die Aufführung in einer zeitgenössischen Partywirklichkeit an. In einem Luxusleben, das sich die Beteiligten mit dem Aktienboom leisten können, den ihnen der Erfolg der Jungfrau-Berg-Seilbahn beschert. Nach Eros und Trieb rückt jetzt eine Macht ins Blickfeld, die wirklich die Welt regiert. Mit dem plötzlichen Einbruch des Aktienpreises ist auch Lulus steile gesellschaftliche Karriere beendet.

    Auch im zweiten Teil verpasst die Inszenierung ein tragisches Kraftzentrum: Die in Lulu unrettbar verliebte Gräfin von Geschwitz wird hier mit großem dramaturgischen Verlust von einem männlichen Schauspieler verkörpert. In diesem ansonsten deutlich realistischeren Umfeld spielt Claude Duparfait das Leiden an der Unerfülltheit des Lebens und der Liebe also nicht innerhalb einer lesbischen Beziehung sondern als abstrakte quasi geschlechtslose Chiffre. Vielleicht hätte Braunschweig solche Abstraktionen weiter treiben und auf andere Figuren ausweiten sollen, um Wedekinds einstiges Skandalstück für heutige Verhältnisse wieder beredt zu machen.

    Entstanden in einer verklemmten Epoche voller Triebunterdrückung kann das Stück in einer hedonistischen und in Vielem geradezu pornografischen Gegenwart nicht unbedingt von selbst Wirkung entfalten. Erst im letzten Akt, wenn Lulu sich an irgendwelche Männer prostituiert und kein Geld mehr verlangt, weil sie etwas anderes erhofft, etwas das sie nie in Worte fassen könnte, entdeckt die Aufführung in Lulu und in der eifersüchtigen Martha von Geschwitz Leidensgestalten, Passionsfiguren im Geschlechterkrieg.