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Haßelmann zur Reform des Wahlrechts
Übergangslösung ist "ein Armutszeugnis"

Die Koalition hat sich auf eine Reform des Wahlrechts verständigt. Es sei ein Armutszeugnis, dass man für diese Übergangslösung sieben Jahre gebraucht habe, sagte die Grünen-Politikerin Britta Haßelmann. Die Entscheidung zeige, wie kraftlos die Koalition in Sachen Wahlrecht agierte.

Britta Haßelmann im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
Britta Haßelmann, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
"Jetzt tut man so, als hätte man mit dieser sogenannten Dämpfungsmaßnahme ein Anwachsen des Bundestages verhindert. Das ist aber nicht der Fall", sagte Britta Haßelmann (dpa/ Christoph Soeder)
In der Nacht hat sich die Koalition auf eine Reform des Wahlrechts geeinigt. Damit soll einem weiteren Anwachsen des Bundestages auf 800 oder mehr Abgeordnete entgegengesteuert werden. Britta Haßelmann, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sagte im Deutschlandfunk, das löse das seit Jahren bestehende Problem im Wahlrecht überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Es unterstreicht nach Meinung der Grünen-Politikerin die Handlungsunfähigkeit von Union und SPD in Sachen Wahlrecht.
Problem schon seit 2013 bekannt
"Da nutzen auch die Statements und blumigen Worte von gestern Nacht nichts", sagte Haßelmann. Der Bundestag wachse und wachse - dieses Problem sei schon seit 2013 berkannt. "Für dieses völlig kraftlose und unambitionierte Ergebnis des Koalitionsausschusses hat die Koaliton jetzt sieben Jahre gebraucht", sagte Haßelmann. Das sei ein Armutszeugnis. Man greife ins Wahlrecht ein, ohne substanziell etwas zu erreichen. Britta Haßelmann ist sich sicher, dass die Reform am Ende wirkungslos sein wird. "Jetzt tut man so, als hätte man mit dieser sogenannten Dämpfungsmaßnahme ein Anwachsen des Bundestages verhindert. Das ist aber nicht der Fall", so Haßelmann. Sie verwies auf einen eigenen Gesetzentwurf der Opposition.
09.01.2020, Berlin: Ein einzelner Stuhl liegt im Plenum im Bundestag vor den Fraktionsreihen der Union.
Wahlrechtsreform: Einigung in zwei Schritten
Nach langem Ringen hat sich die Große Koalition auf eine Übergangslösung bei der Wahlrechtsreform verständigt. Überhang- und Listenmandate sollen bei der kommenden Bundestagswahl teilweise verrechnet werden. Die große Reform mit einer Verringerung der Wahlkreise soll bei der Bundestagswahl 2025 erfolgen.

Das Interview zum Nachlesen:
Ann-Kathrin Büüsker: Die Spitzen der Großen Koalition haben sich am späten Abend auch auf eine Wahlrechtsreform verständigt. Das jahrelange Streitthema soll jetzt in zwei Schritten gelöst werden. Für die anstehende Bundestagswahl im nächsten Jahr sollen im Rahmen einer kleinen Lösung Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet werden. Bis zu drei Überhangmandate sollen nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Es bleibt außerdem vorerst bei der Zahl der Wahlkreise. Für 2025 soll dann eine große Lösung her, die auch eine Verringerung der Wahlkreise beinhaltet. Die genauen Koordinaten soll eine Kommission festlegen, in die auch die Opposition sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingebunden werden sollen.
Was sagt die Opposition dazu? Fragen wir nach bei Britta Haßelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, die gemeinsam mit FDP und Linken einen eigenen Vorschlag für eine Wahlrechtsreform vorgelegt hatten. Frau Haßelmann, wie froh sind Sie, dass die Große Koalition sich jetzt geeinigt hat?
Britta Haßelmann: Ich bin überhaupt nicht froh, denn das löst unser Problem, was wir im Wahlrecht seit Jahren haben, überhaupt nicht. Es unterstreicht aus meiner Sicht die Handlungsunfähigkeit von Union und SPD in Sachen Wahlrecht, und da nutzen auch die Statements und blumigen Worte von gestern Nacht nicht.
"Man greift ins Wahlrecht ein, ohne substanziell was zu erreichen"
Büüsker: Aber war nicht das eigentliche Problem, dass der Bundestag zu groß wird? Das sieht die Große Koalition jetzt ja als gelöst.
Haßelmann: Der Bundestag wächst und wächst und das ist ein Problem. Das wissen wir seit 2013. Für dieses völlig kraftlose und unambitionierte Ergebnis des Koalitionsausschusses gestern Abend hat die Koalition jetzt sieben Jahre gebraucht. Das ist aus meiner Sicht wirklich ein Armutszeugnis. Denn man greift ins Wahlrecht ein, ohne substanziell was zu erreichen. Das Sitzkontingent-Verfahren soll modifiziert werden. Kein Mensch weiß, wie. Es ist ein sehr kompliziertes Berechnungsverfahren. Wir hatten zum Beispiel 2017, wenn wir das Ergebnis der Bundestagswahl ansehen und wir dort eine Komplettabschaffung dieses sogenannten Sitzkontingent-Verfahrens gemacht hätten, dann hätte das gerade mal neun Sitze eingespart. Wir hätten nicht 709 Abgeordnete im Deutschen Bundestag, sondern 700 bei einer Komplettabschaffung dieses Sitzkontingent-Verfahrens. Jetzt soll dieses Sitzkontingent-Verfahren leicht modifiziert werden. Wie gesagt, ich glaube nicht, dass da heute Nacht irgendwer was berechnet hat. Kein Mensch weiß, wie. Und es zeigt aus meiner Sicht, wie kraftlos die Koalition in Sachen Wahlrecht agiert, denn wenn das das Ergebnis ist nach sieben Jahren, dass wir weder zu einer Reduzierung der Wahlkreise kommen, noch zu einer Kappung von Direktmandaten, dann ist das wirklich sehr, sehr kraftlos und letztlich ein Armutszeugnis.
"Union und SPD sitzen ja seit sieben Jahren die Frage einer notwendigen Wahlrechtsreform aus"
Büüsker: Beweist das dann wieder einmal, dass es Politikerinnen und Politikern nur um die eigene Macht geht?
Haßelmann: Ja! Ich meine, Union und SPD sitzen ja seit sieben Jahren die Frage einer notwendigen Wahlrechtsreform aus. Alle Versuche, hier auf der Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechts zu Veränderungen zu kommen, sind bisher gescheitert. Und jetzt tut man so, als habe man mit dieser sogenannten Dämpfungsmaßnahme ein Anwachsen des Deutschen Bundestages verhindert. Das ist nicht der Fall. Aber diesen Schuh lasse ich mir als Grüne nicht anziehen. Wir haben gemeinsam als Grüne mit der FDP und den Linken einen Gesetzentwurf vorgelegt. Der liegt dem Bundestag vor. Den verhindert im Moment die Koalition, abstimmen zu lassen. Deshalb ist es nicht die Politik insgesamt, sondern die Verantwortung für diese Verschleppung tragen an dieser Stelle Union und SPD. Das muss man einfach ganz deutlich sagen. Und ich verstehe nicht, warum man nach so vielen Jahren dann nicht wirklich die Kraft findet, auch was zu tun, was ein Anwachsen des Bundestages wirklich verhindert hätte.
"Letztlich wird es am Ende wirkungslos sein"
Büüsker: Frau Haßelmann, aber die Union und auch die SPD haben ja konkrete Kritik an Ihrem Vorschlag, der vorsieht, die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren. Da sagt insbesondere die Union, das können wir nicht machen, weil der Kontakt der direkt gewählten Abgeordneten zu den Bürgerinnen und Bürgern in den Wahlkreisen ist wichtig, und wenn die Wahlkreise reduziert werden, dann wird dieser Kontakt schwieriger.
Haßelmann: Wir Grüne halten den Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkreis auch für sehr wichtig und deshalb haben wir gesagt, wenn wir ein Anwachsen des Deutschen Bundestages verhindern wollen, gleichzeitig das personalisierte Verhältniswahlrecht behalten wollen – das ist hoch akzeptiert in der Bevölkerung, das hat eine hohe Akzeptanz, das ist immer wieder bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht -, dann bleibt keine andere Möglichkeit als zu sagen, wir knüpfen bei der Reduzierung der Wahlkreise an, oder wir kappen Direktmandate. Auf beides wollte sich die Union am Anfang nicht einlassen. Inzwischen ist sie auch bereit, Wahlkreise zu reduzieren, aber gestern Abend hat man wahrscheinlich nach der Methode verfahren, die Union will das eine, die SPD will das andere. Das ist unvereinbar. Wir können nicht ohne Ergebnis auseinandergehen, also tun wir mal so, als hätten wir mit dieser sogenannten Dämpfungsmaßnahme was erreicht. Letztlich, glaube ich, wird es am Ende wirkungslos sein.
Büüsker: Aber ist das nicht dennoch ein wichtiges Signal auch an die Bürgerinnen und Bürger, dass die Bundesregierung nach wie vor kompromissfähig ist, dass die Politik kompromissfähig ist?
Haßelmann: Ja! Aber was soll diese Kompromissfähigkeit, wenn am Ende das Ziel, ein Anwachsen des Bundestages zu erreichen, nicht erzielt wird? Dann kann das Ganze auch ganz schnell nach hinten losgehen, dass man nämlich sagt, was hat man uns hier eigentlich mit dieser sogenannten Dämpfungsmaßnahme versprochen, da kommt doch nichts bei herum, das ist doch völlig unambitioniert und kraftlos, da hat man uns was vorgegaukelt. Also es kann auch wieder zu Vertrauensverlust führen.
Ich verstehe auch nicht, warum man beim Wahlalter 16 sagt, da müssen wir dann für 2025 eine Kommission einsetzen. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Dem Deutschen Bundestag liegt auch ein Gesetzentwurf auf dem Tisch. Seit dem 24. 9. 2019 gibt es einen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Absenkung des Wahlalters auf 16 auch für die Bundestagswahl. Hier braucht es eine Entscheidung und keine Kommission.
Auch beim Thema Frauen im Deutschen Bundestag gibt es seit Januar diesen Jahres eine gemeinsame Initiative von Grünen und Linken zu sagen, lasst uns überlegen, wie kriegen wir das hin, die Repräsentanz von Frauen im Bundestag, in der Politik zu stärken. Hier brauchen wir eigentlich keine langen Beratungsverfahren, sondern brauchen Entscheidungen.
"Beim Thema Wahlalter 16 liegen die Fakten auf dem Tisch"
Büüsker: Nur weil die Opposition Vorschläge einreicht, heißt das aber ja nicht, dass diese gleich Gesetz werden müssen, sondern die Politik sucht Kompromisse, und das ist jetzt ja, wenn ich das richtig verstanden habe, auch die Idee der Großen Koalition, in dieser Kommission alle an einen Tisch zu setzen, die Regierungsparteien, die Oppositionsparteien und dazu auch noch externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Nun haben Sie eben beklagt, dass die Regierungsparteien die bisherigen Kompromisse verhindern. Wäre dann so eine Kommission, wo ja auch Leute außerhalb des Bundestages reingeholt werden, nicht eine gute Regelung?
Haßelmann: Für die Frage der Repräsentanz von Frauen im Deutschen Bundestag, mit der wir uns im Moment wirklich nicht abfinden dürfen – die ist viel zu gering -, da haben wir selbst eine Kommission vorgeschlagen mit externen Experten und Expertinnen. Das ist natürlich wichtig und notwendig, denn hier gibt es sehr unterschiedliche und kontroverse Auffassungen, was die Frage von Parität im Gesetz angeht.
Beim Thema Wahlalter 16, glaube ich, liegen die Fakten auf dem Tisch. Da muss man entscheiden, ob wir das so machen wie bei manchen Landtagswahlen schon längst möglich, wie bei vielen Kommunalwahlen. Da brauchen wir aus meiner Sicht nur eine Entscheidung und keine Kommission.
Ansonsten geht es doch im Kern jetzt darum, die Erwartungen waren groß. Gibt es eine Reduzierung, gibt es einen Vorschlag, der ein Anwachsen des Bundestages verhindert. Und ich bin der Überzeugung, nach der ersten Prüfung, dass mit diesem Vorschlag viel weiße Salbe, wenig Wirkung und dass er kraftlos ist und das Ziel nicht erreichen wird, was er nach außen versucht zu versprechen.
Büüsker: Das heißt, die Grünen können sich diesem Vorschlag nicht anschließen und damit eine breite Mehrheit im Parlament herstellen?
Haßelmann: Gestern wurde überhaupt kein Signal in Richtung der demokratischen Oppositionsfraktion gegeben, dass man mit uns über irgendwelche weiteren Vorschläge in dieser Sache jetzt diskutieren will. Das scheint eine Maßnahme zu sein, auf die sich die Koalitionsfraktionen verständigt haben, die man schnell umsetzen will. Ich finde nach wie vor unseren Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken gut, denn er würde wirksam ein Anwachsen des Bundestages verhindern. Dazu scheint den Koalitionsfraktionen die Kraft zu fehlen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.