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Heimat
Von Flüchtlingen und der Suche nach einem neuen Zuhause

Immer mehr Menschen suchen in Deutschland eine neue Heimat. Wie schwer es für viele Flüchtlinge ist, hier Fuß zu fassen, schildert die freiwillige Helferin Maria Naprushkina anhand persönlicher Erlebnisse in einem Berliner Flüchtlingsheim. Über die Chance eines neuen Zuhauses schreibt auch die Journalistin Renate Zöller.

Von Gemma Pörzgen | 05.10.2015
    Demonstranten in Wien halten ein Transparent
    Im Umgang mit Flüchtlingen hat sich in Deutschland eine neue Willkommenskultur entwickelt. Jetzt kommt es darauf an, Heimat nicht nur aktiv und menschlich zu gestalten, sondern sie zu teilen und für Neues zu öffnen. (HERBERT PFARRHOFER dpa-picture-alliance)
    Im Umgang mit Flüchtlingen hat sich in Deutschland eine neue Willkommenskultur entwickelt. Das ist vor allem dem ehrenamtlichen Engagement tausender freiwilliger Helfer zu verdanken. Sie unterstützen die Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan oder Irak tatkräftig dabei, in der Bundesrepublik nicht nur anzukommen, sondern hier ein neues Leben aufzubauen.
    Welche bürokratische Hürden und Erschwernisse den deutschen Alltag vieler Flüchtlinge bestimmen, macht das Buch "Neue Heimat" auf erschreckende Weise deutlich. Dabei steht vor allem das Schicksal von Frauen und Kindern im Vordergrund. Die Autorin Maria Naprushkina ist Künstlerin und selbst aus Weißrussland eingewandert.
    Seit einigen Jahren engagiert sie sich in einer Berliner Flüchtlingsinitiative. Jeden Nachmittag malen und basteln die Freiwilligen mit den Kindern, organisieren Ausflüge, helfen beim Arztbesuch oder bei Ämtergängen. Naprushkinas Buch lebt von zahlreichen Episoden, die sie selbst miterlebt hat und anschaulich wiedergibt:
    "Malika und ich sind mit ihren Töchtern, zwei und fünf Jahre alt, in einem Kindergarten in Moabit. Für Malika mit ihren vielen Kindern ist es kaum möglich, das Heim zu verlassen. Erst vor Kurzem hat sie einen Kinderwagen gespendet bekommen und kann sich jetzt im Viertel bewegen. Die Heimleitung kümmert sich nicht um Kindergartenplätze. Eine Kinderbetreuung wird für die über hundert Kinder im Heim ebenfalls nicht angeboten. Frauen mit mehreren Kindern sind buchstäblich an ihre Zimmer im Heim gefesselt. Oft haben die Mütter keinen Kinderwagen, um rauszugehen. Im Hof des Heimes dürfen die Kinder nicht spielen – die Nachbarn beschweren sich über den Lärm. Wir stehen im Büro von einem der größten Kindergärten in Moabit, fast zweihundertfünfzig Kinder haben sie hier. Wir möchten die beiden Mädchen im Kindergarten anmelden. 'Nein, zur Zeit gibt es keine freien Plätze', sagt uns die Leiterin gleich."
    Skandalöse Missstände in Flüchtlingsheimen
    Die Kinder kommen auf eine Warteliste, aber melden wird sich die Kindergärtnerin bei der Flüchtlingsfamilie nie. Wie wenig Freiraum den Frauen dadurch bleibt, auch nur auf die Straße zu gehen, geschweige denn Sprachkurse zu besuchen, macht Naprushkina eindringlich deutlich. Als ehrenamtliche Helferin, die selbst Familie hat, ist sie ständige Ansprechpartnerin für Nöte und Sorgen der Flüchtlingsfamilien. Selbst nachts klingelt das Telefon, weil eine Abschiebung droht oder ein Kind erkrankt ist. Aber die Helfer decken auch skandalöse Missstände bei der Heimleitung auf, die später zu Strafanzeigen führen:
    "Wir müssen mit der Heimleitung sprechen. Die Stimmung ist schlecht, wir werden gegängelt. Das, was wir sehen und was wir von den Flüchtlingen hören, ist mit unserem Bild einer menschenwürdigen Unterbringung nicht vereinbar. Es kann nicht sein, dass die Leute nach Traumatisierung und Flucht hier so behandelt werden. Nicht bei uns und nicht vor unseren Augen. Jeden Tag stehen die Mütter vor mir und berichten von neuen Problemen. Warum gibt es nur fünf funktionierende Waschmaschinen für fast dreihundert Bewohner, nur lauwarmes Wasser in der Dusche, warum sind die Toiletten immer ungereinigt und kaputt, keine Seife da, kein Toilettenpapier, warum gibt es keinen Aufenthaltsraum, kein Internet, Essen, bei dem ich kotzen muss, wenn ich es nur sehe? Und das Ganze für fast dreißig Euro am Tag pro Kopf, die der Senat an den Betreiber bezahlt?"
    Kriminelle Machenschaften im Flüchtlingsgeschäft
    Der private Heimbetreiber hatte sich nach Schilderung der Autorin eine regelrechte Gelddruckmaschine gesichert, weil es in Berlin offenbar an Kontrollmechanismen fehlte. Naprushkina schildert eindrucksvoll, wie sich so ein Fehlmanagement zu kriminellen Machenschaften im Flüchtlingsgeschäft weiterentwickeln kann.
    Die Journalistin Renate Zöller nähert sich dem Thema von einer ganz anderen Seite und lädt mit ihrem Buch "Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl" dazu ein, sich über Flucht und Vertreibung ein paar grundsätzliche Gedanken zu machen. Dabei stellt die Autorin gleich zu Beginn fest, dass sich der in Deutschland lange verrufene Terminus "Heimat" inzwischen längst zum neuen Trendwort gemausert habe. Die Geborgenheit und Verlässlichkeit der kleinen, überschaubaren Heimat erfahre angesichts einer Ohnmacht gegenüber den Katastrophen in einer unüberschaubar großen Welt eine neue Bewertung. Auch die Schicksale von Einwanderern erzählten von Heimat, schreibt Zöller. Heimat und Fremde gehörten zusammen:
    "Das Phänomen ist nicht ohne den Verlust zu betrachten. Die meisten Menschen denken wenig über ihre Heimat nach, solange sie nicht bedroht oder verloren ist. Erst dann beginnen sie, sie zu vermissen – und verstehen oft gar nicht genau, was sie eigentlich vermissen. Manche Menschen träumen ihr Leben lang davon, wieder nach Hause zurückzukehren. Und wenn sie es schließlich tun, finden sie dort keine Heimat mehr. Diese Ambivalenz der Sehnsucht bewegte Philosophen, Historiker und Philosophen seit jeher. Schon der römische Philosoph Seneca kam zu dem Schluss, der Mensch brauche eine Heimat und implizierte gleichzeitig, dass er sich auf der Wanderschaft danach sehnt."
    Denkanstöße zum Thema Heimat
    Neben solchen philosophischen Perspektiven, einem historischen Abriss und psychologischen Deutungen lebt das Buch vor allem von den bewegenden Interviews mit Gesprächspartnern, die von ihren Lebenswegen und ihrem Verhältnis zur Heimat erzählen. Dabei geht es um Einzelschicksale von Vertriebenen, Wirtschaftsflüchtlingen, Sinti oder Russlanddeutschen, aber auch um vergessene Begebenheiten, wie die Umsiedlung des Dorfes Wollseifen in der Eifel.
    Weil die britische Besatzungsmacht den ganzen Ort zum militärischen Übungsgelände erklärte, mussten alle Bewohner 1946 innerhalb von drei Wochen ihre einstige Heimat aufgeben. Wollseifen wurde von der Artillerie zerschossen, wie sich eine frühere Bewohnerin schmerzlich erinnert. Das Buch will ein buntes Kaleidoskop voller Denkanstöße zum Thema Heimat sein und löst diesen Anspruch auf anregende Weise ein. Nicht nur das nachdenkliche Schlusswort der Autorin besticht durch seine Aktualität. Zöller schreibt:
    "Entscheidend ist daher nicht nur, dass Flüchtlinge in Deutschland entsprechend untergebracht und notversorgt werden, sondern auch, dass sie eine Chance haben, sich neu zu beheimaten. Das erfordert mehr, als nur eine spontane, vorübergehende Empathie. Das bedeutet, Heimat nicht nur aktiv und menschlich zu gestalten, sondern sie zu teilen, für Neues zu öffnen und auch den Hinzukommenden die Chance zu geben, ihr neues Zuhause mitzugestalten. Angesichts der großen Veränderungen, die gerade weltweit stattfinden, angesichts der Konflikte aber auch der zunehmenden Mobilität und Vernetzung muss auch der Heimatbegriff angepasst werden. Die Heimat abzugrenzen gegen andere, bedeutet, sie schwach und angreifbar zu machen. Stärker wird die Heimat durch Menschen, die sie lieben. Je mehr, desto besser."
    Marina Naprushkina: "Neue Heimat. Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen"
    Europa Verlag Berlin, 240 Seiten, 16,99 Euro, ISBN: 978-3-95890-007-3
    Renate Zöller: "Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl"
    Ch. Links Verlag, 232 Seiten, 18 Euro,ISBN: 978-3-86153-843-1